Info-Verteiler und FreundInnen, zusammengestellt aus: Lateinamerika anders, Lateinamerika Nachrichten etc.
Aufstand in Bolivien
Wir schließen mit diesem Artikel an unseren Beitrag zu Bolivien im Verteiler Nr. 50 (1996) an. Nachdem es in den letzten Wochen in mehreren Städten Boliviens zu zahlreichen Protesten gekommen ist, die letztlich zum Sturz des Präsidenten Sanchez de Lozada führten, aber auch zu einem entsetzlichen Blutvergießen, wollen wir an dieser Stelle die Entwicklung Boliviens in den letzten Jahren nachvollziehen, um die aktuelle Lage besser verstehen zu können. Im Wesentlichen handelt es sich um mehrere Entwicklungsstränge, die dabei von tragender Bedeutung sind: zum einen die Situation der Cocaleros (Koka-Bauern), deren Anbaugebiete aufgrund der Regierungspolitik des letzten Jahrzehntes nahezu vernichtet wurden; zum anderen die weitere Verarmung der Gesamtbevölkerung durch IWF- und Weltbankprogramme; und schließlich der Ausverkauf des staatlichen Sektors, nicht zuletzt die Abschöpfung der Gasvorkommen durch multinationale Konzerne.
Neoliberale Politik
Alle bolivianischen Regierungen seit 1985 haben sich als Musterschüler von IWF und Weltbank geriert. Die Auswirkungen dieser neoliberalen Politik auf eines der ärmsten Länder Lateinamerikas sind: hohe Arbeitslosigkeit und dadurch bedingt ein Bedeutungsverlust der Gewerkschaften; massiver Sozialabbau durch Entlassungen im staatlichen Sektor; und Abbau des Budgetdefizites sowie pünktliche Zahlung der ausländischen Kreditzinsen, was zu einer massiven Armutssteigerung führte.
Bereits 1985 wurde ein Strukturanpassungsgesetz (21060) erlassen, welches den Raub der Bodenschätze durch multinationale Konzerne (Verkauf der staatlichen Minengesellschaft) ermöglichte und die Privatisierung der Staatsbetriebe vorantrieb. Die Annullierung dieses Gesetzes wurde in den letzten Jahren immer wieder gefordert. Paradoxerweise wurde dieses Gesetz unter Präsident Paz Estenssoro verabschiedet, der während der Revolution 1952 mit seiner Partei, der MNR (Movimiento Na­ci­o­nalista Revolucionario), die Verstaatlichung der Minen umgesetzt hatte, die vormals den Groß­grundbesitzern gehört hatten. Er war in den 80er Jahren zum vierten Mal Präsident geworden. Das war übrigens die erste Wahl in Bolivien, an der auch die Indigenas (Aymara, Quechua etc.) als bolivianische Staatsbürger wählen durften. Unter dem Motto „das Land gehört denen, die es bearbeiten“ wurde den Indigenas nach 400 Jahren Kolonialbesitz das Recht auf Landbesitz zurückerteilt. Landverteilung und gleichzeitig Raub der Bodenschätze: die Doppelzüngigkeit einer bürgerlichen Politik kann deutlicher nicht sein.
Seit Beginn der 90er Jahre wurden in Bolivien nach und nach verstaatlichte Unternehmen an transnationale Konzerne zu Dumping-Preisen verkauft. 1994 wurden mit dem „Ka­pi­­talisierungsgesetz“ sechs Staatsunternehmen aus den Bereichen Kommunikation, Transport und Energie privatisiert. So verscherbelte de Lozada als Präsident, der von 1993-1996 erstmalig (für die MNR) amtierte, u.a. die bolivianische Fluglinie Llyod Aereo an Brasilien und die staatliche Eisenbahngesellschaft (ENFE) an die chilenische Finanzgesellschaft „Cruz Blanca“. Mittlerweile sind zahlreiche Bahn­linien stillgelegt, weil Cruz Blanca als Spe­kulant mehr an dem Verkauf der Bahngrundstücke interessiert war als an einer geregelten Beförderung von Personen oder dem Gütertransport. Des weiteren wurde die nationale Gesellschaft für Stromerzeugung (ENDE) ebenfalls an chilenisches Kapital und die staatliche Telefongesellschaft an ein italienisches Konsortium verkauft.
Die Versprechungen der Regierung, in Zusammenhang mit diesen deals Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu schaffen, wurden niemals eingelöst.
Ex-Präsident de Lozada („Goni“) ist gleichzeitig Millionär und Minenbesitzer sowie ein Günstling der USA. In den letzten Amtstagen seiner ersten Legislaturperiode segnete er im April 1996 den Verkauf der Erdöl- und Erdgasgesellschaft (YPFB) per Gesetz ab. Gerade die Auswirkungen dieses Geschäftes sollen weiter unten näher beschrieben werden, weil es schon damals massive Proteste, Streiks und Demonstrationen der Bevölkerung und der COB (Gewerkschaftsdachverband, Central Obrera Boliviana) hervorrief.
Landwirtschaft
Die bäuerlichen Lebensbedingungen und die Wirtschaft im Andenhochland und einem großen Teil der Täler sind katastrophal. Der freie Import ausländischer Erzeugnisse, der Kleinst­grund­besitz und Landmangel erzeugen eine bäuerliche Wirtschaft, in der niedrigste Produktivität vorherrscht. Die Armut regiert und die Unzufriedenheit wächst.
Die Probleme sind enorm und haben sich durch den Neoliberalismus auf das Äußerste zugespitzt. Unabhängige Studien stellen fest, daß das Durchschnittseinkommen der Bauernfamilien während der letzten fünfzehn Jahre um 50% gesunken ist. Heute muss in der bolivianischen Landwirtschaft das Doppelte produziert werden, um überhaupt überlebensfähig zu sein, was sehr schwierig ist: Die Erde gibt nicht mehr so viel her wie früher, weil aufgrund des Bevölkerungswachstums mehr Münder ernährt werden müssen und es geringere Absatzmärkte für einheimische bäuerliche Produkte gibt.
Hochland
Im Durchschnitt entstehen jedes Jahr im Hochland und in den Tälern mehr als 16.000 neue Kleinst-Landwirtschaften (Minifundios), in einem derart beschleunigten Prozess der Landfragmentierung, der die Produktionsprozesse erschwert und sie binnen kürzester Zeit unrentabel macht. Vom Minifundio ist man inzwischen bereits zum Surcofundio (Besitz einer Furche) übergegangen. In dieser Lage befinden sich eine Million Kleinst­land­wirte (agricultores minifundiarios), die tagtäglich ärmer werden, sowie weitere 250.000, die nicht einmal mehr über eine eigene Furche verfügen. Es ist deshalb kein Zufall, dass nach den offiziellen Zahlen fünf von zehn Bauern Hunger leiden und vier kaum genug haben, um sich ein bescheidenes Essen zu leisten.
Auf dem Land verschärft sich die Situation wegen der gänzlich fehlenden Unterstützung durch die Regierung: es gibt keine Kredite, es gibt keine technische Unterstützung, die Investition in die Produktionsinfrastruktur ist dürftig und sinkt weiter. Parallel dazu werden die Einfuhrzölle gesenkt, und der Import billiger, subventionierter Erzeugnisse aus den Metropolen ruiniert die inländischen Produzenten.
Bei der WTO-Tagung in Cancún beispielsweise schlug die bolivianische Regierung vor, die Einfuhrzölle ganz zu streichen und forderte, die Subventionen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu untersagen. Für Bolivien würde dies bedeuten, einen maximalen Anreiz für die Einfuhr ausländischer landwirtschaftlicher Produkte zu schaffen und den inländischen Bauern null Unterstützung zu gewähren.
Diese Politik setzt die bolivianischen Bauern der Konkurrenz der transnationalen Nah­rungs­mittelkonzerne aus. Deren Produktivität ist laut Experten 500 mal höher als die der betroffenen Bauern (vor einem Jahrhundert lag das Verhältnis noch bei 20:1).
Aber diese Anti-Bauernpolitik der Regierung wird von der Agrarbevölkerung des Andenhochlands und der Täler mit Widerstand und Kampf beantwortet. Die Menschen fordern nicht nur eine neue Agrarreform, die die La­tifundien im Osten des Landes beseitigt und so den Bauern Zugang zu mehr Land ermöglicht. 87% des Landes befinden sich in den Händen der Großgrundbesitzer und unproduktiver Neo-Latifundisten, während die Kleinbauern kaum 13% des Bodens besitzen. Die Landbevölkerung fordert darüber hinaus auch den Besitz an den Bodenschätzen ihres Landes ein.
Zwei Bauernorganisationen haben in den letzten Jahren an Stärke gewonnen. Bauern in Bolivien sind vor allem Indigenas (Aymara, Quechua, etc.).
Hochland: CSUTCB
„Wir wollen nicht nur das Land, sondern auch das Territorium; nicht nur den Boden, auf dem wir gehen, sondern auch den Untergrund mit seinen Bodenschätzen wie Erdgas und Öl“, fordert Felipe Quispe (Spitzname „Mallku“, d.h. Condor in Aymara), Chef der CSUTCB und einer der Anführer der Andenrebellion zur Wiedereroberung des Erdgases für die Bolivianer und indigenen Völker. Die CSUTCB (Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia) organisiert die Bauern des Hochlandes (Altiplano). Quispe war von 1992 – 1997 wegen Mitgliedschaft in der „Guerillaarmee Tupac Katari“ (EGTK) inhaftiert. Er fordert einen Aymara­staat in Bolivien, weshalb er bei anderen indigenen Völkern (vor allem den Quechua und den Völkern im Tiefland) nicht gerade beliebt ist. Inzwischen hat Quispe eine eigene Partei gegründet, den Movimiento Indigena Pachakuti , der bei der Wahl 2002 6% der Stimmen erhielt.
Tiefland: MAS
Der Koka-Anbau wird hauptsächlich von ehemaligen Bergarbeitern betrieben, die durch die Massenentlassungen arbeitslos wurden, aber nach wie vor gut organisiert sind. Die Koka-Bauern werden von der bolivianischen Armee in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency militärisch bekämpft und immer wieder in die Nähe des „Narco-Terrorismus“ gedrängt. Sie sind vor allem im Movimiento al Socialismo (MAS) organisiert, dessen Vorsitzender Evo Mo­ra­les ist. Der MAS hat 2002 bei den Wahlen über 20% der Stimmen erhalten und nur eine Koalition aus allen reaktionären Parteien konnte verhindern, daß Evo Morales zum Präsidenten gewählt wird (für diesen Fall hatten die USA bereits mit Sanktionen gegen das Land gedroht).
In der Bauern- und Indigenen-Bewegung herrscht die Gewissheit, dass mit der Wiedergewinnung des Eigentums am Erdgas in Bolivien die Elektrifizierung und Industrialisierung auf dem Land in Angriff genommen und der Landwirtschaft ökonomische und finanzielle Unterstützung gegeben werden könnte. Das wäre undenkbar, wenn das Erdgas als schadstoffarme Energiequelle in den Händen der transnationalen Firmen verbliebe, die Millionen und Abermillionen einstecken und wenig oder nichts im Lande lassen.
Neben MAS und CSUTCB entstanden in den letzten Jahren viele soziale Bewegungen, Nachbarschaftsräte, etc. Eine der wichtigsten dieser Organisationen ist die „Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens“ (ein Zusammenschluß von Gewerkschaften, Nachbarschafts- und Umweltorganisationen), die gegen die Privatisierung der Wasserressourcen kämpft.
Die Geschichte Boliviens ist eine des permanenten Widerstands der Arbeiter und Bauern gegen die herrschenden Klassen. Allein in den letzten Jahren kam es zu vielen Aufständen, von denen wir exemplarisch folgende anführen:
Wasserkrieg
„Aguas de Tunari“ ist ein Tochterunternehmen des US-Multis Bechtel. Die Firma kontrollierte die (privatisierte) Wasserversorgung der 600.000 Einwohner-Stadt Cochabamba. Als im Frühjahr 2000 die Wasserpreise enorm angehoben wurden, kam es in der Stadt zum Aufstand: viele Einwohner weigerten sich, die Rechnungen für das Wasser zu bezahlen, der Generalstreik wurde ausgerufen, eine Demonstration wurde trotz Verbot durchgeführt, und schließlich wurde die Stadt lahmgelegt, indem Straßenblockaden organisiert wurden.
Gleichzeitig kam es im Hochland zu Protestaktionen der Kleinbauern unter Führung der CSUTCB, die die wichtigen Überlandstraßen blockierten. Auch ihnen ging es um die Rücknahme des Gesetzes zur Privatisierung des Wassers.
Zu allem Überfluss trat in La Paz eine Sondereinheit der Polizei in den Streik, um Lohn­erhöhungen durchzusetzen. Daraufhin rief die Regierung des ehemaligen Putschisten und Militärdiktators Hugo Banzer den Ausnahmezustand aus.
Das Militär erschoss mehrere Demonstranten, 23 Demonstranten wurden von vermummten Polizisten gekidnappt, was den Aufstand aber nur noch mehr aufstachelte. In La Paz begannen Studenten, gegen den Ausnahmezustand zu demonstrieren, während in Cochabamba 50.000 Demonstranten das Stadtzentrum besetzten. Der „Wasserkrieg“ endete schließlich mit der Rücknahme des Gesetzes zur Privatisierung des Wassers, die Wasserversorgung in Cochabamba wird seitdem von der „Koordination für das Wasser und das Leben“ kontrolliert, Bechtel ist erstmal aus dem Geschäft.
Schuldneraufstand
Am 2. Juli 2001 besetzten etwa 200 Aktivisten die Hauptverwaltung der Banken in La Paz. Sie waren mit Molotow-Cocktails und Dynamit bewaffnet und drohten, das Gebäude in die Luft zu jagen. Sie waren ein Teil der tausenden Kleinbauern, die seit Monaten in La Paz für ihre Schuldenstreichung demonstrierten. Diese Aktion erreichte lediglich die Zusage, daß Einzelfälle überprüft würden.
Kokakrieg
Im Jänner 2002 versuchte die Regierung Quiroga, das – auf Druck der USA – eben beschlossene gesetzliche Verbot der Trocknung, des Transports und des Weiterverkaufs von Koka zu exekutieren: der Koka-Markt von Sacaba in der Provinz Chapare wurde geschlossen. Daraufhin besetzten aufgebrachte Bauern den Markt und es kam zu mehrtägigen schweren Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär. Dabei wurden neben Demonstranten auch zwei Polizisten bzw. Soldaten erschossen.
In der Folge wurde der MAS-Führer und Koka-Bauer Evo Morales sowie praktisch alle Koka-Gewerkschafter verhaftet und teils wegen Mordes angeklagt. Die Proteste griffen nun auf weitere Landesteile über, und schließlich mußten die Verhafteten freigelassen und Morales als Verhandlungspartner der Regierung anerkannt werden.
Steueraufstand
Der IWF forderte im Frühjahr 2003 einen ra­dikalen Abbau des Haushaltsdefizits. Im Zuge dessen hätte Bolivien 5 Mrd. Dollar an neuen Krediten erhalten sollen. Präsident Lozada verfügte daraufhin eine Sondersteuer auf alle Einkommen über 840 Bolivianos (ca. 110 Euro). Von dieser Sondersteuer waren etwa 750.000 Arbeiter, aber auch z.B. Polizisten, betroffen.
Am 11. Februar begann eine Spezialeinheit der Polizei in La Paz mit Protestaktionen, die auch gegen diese Steuer gerichtet waren. Den Polizisten schlossen sich rasch weitere Bevölkerungsteile, z.B. Arbeiter, Studenten, Arbeitslose, an. Der Regierung blieb letztlich nur noch das Militär als Schutz. Es kam zu Schießereien zwischen Polizisten und Armeeangehörigen, bei denen 33 Menschen ums Leben kamen. Am 19. Februar mußte Präsident de Lozada das Steuergesetz zurücknehmen.
Das war nur ein kleiner Auszug aus der kämpferischen Vergangenheit und Gegenwart der bolivianischen Massen, man kann festhalten, daß kaum ein Monat vergeht, an dem nicht an dem einen oder dem anderen Ort militant Widerstand praktiziert wird.
Das Erdgas als politisches Pulverfass
In Bolivien haben sich die aktuellen Auseinandersetzungen an dem Rohstoff entzündet, der dem Land den Weg aus der Misere ebnen könnte – dem Erdgas. Die protestbereite Opposition befürchtet, aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre berechtigt, dass die Einnahmen im Korruptionssumpf versickern oder lediglich in die Taschen der multinationalen Konzerne fließen, und sieht als einzige Lösung eine Verstaatlichung. Seit der Privatisierung der Gasressourcen 1996 sind dem Staat Schätzungen zufolge bereits fünf Milliarden Dollar entgangen.
Die Oppositionellen verweisen mit Recht auf die marktwirtschaftlichen Reformen und die Privatisierungen der Vergangenheit, die außer Arbeitsplatzabbau, Lohnkürzungen und höheren Preise in den privatisierten Sektoren nichts gebracht haben.
Die Sozialpolitik verschärft die Lebensbedingungen für Hunderttausende. Die Politik der Bekämpfung des Anbaus von Koka entzieht den Bauern und ihren Familien zunehmend die wirtschaftliche Grundlage. Viele von den heutigen Cocaleros waren vormals als Mi­nen­arbeiterInnen tätig und wurden während der Privatisierungen entlassen. Die Drogenbekämpfung wird massgeblich von den USA betrieben; nach Kolumbien ist Bolivien das Haupteinsatzgebiet der US-Amerikaner im „Kampf gegen den Drogenanbau und -handel“. Die Cocaleros stehen mit dem Rücken zur Wand: erst wurden sie aus den Minen vertrieben, nun werden sie in den Koka-Feldern gejagt. Ein Großteil ihrer Anbauflächen wurden bereits vernichtet (was unter anderem dazu führt, daß die Cocaleros ihre Anbauflächen immer weiter in den Dschungel und die Naturschutzgebiete verlagern müssen).
Laut Schätzungen lagern in Boliviens Böden die in Lateinamerika zweitgrößten Erdgasvorkommen nach jenen Venezuelas. Diese Bodenschätze könnten das Land aus der Armut führen. Nach Brasilien wird bereits exportiert, weitere Absatzmärkte sieht die Regierung in Mexiko und den USA. Arbeitsplätze und Steuereinnahmen sind verknüpft mit dem Erdgas-Geschäft der Zukunft.
Die Deals mit den Multis
Das derzeit strittige Erdgas-Projekt wird von Pacific LNG betrieben, einem 2001 aus der Taufe gehobenen Konsortium von Repsol-YPF (spanischer Ölmultikonzern, der weltweit von seiner Größe her an 8. Stelle liegt), British Gas und Panamerican Gas, einer Tochter von British Petroleum (BP). Das Projekt umfasst die Förderung des Erdgases aus einem der größten Gasfelder Boliviens, den anschließenden Transport über die Anden an die Pazifikküste, wo es in Fabriken verflüssigt und dann per Schiff nach Mexiko und weiter in die USA gebracht werden soll. Die Kosten für das Projekt werden mit 5 bis 7 Mrd. $ angegeben und um­fas­sen den Bau einer Pipeline, einer Ver­flüs­si­gungs­fabrik an der Küste, einer Tankerflotte und einer Fabrik in Mexiko, in der das flüssige Gas wieder in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückversetzt wird. Laut Angaben des Washingtoner Think Tank Council on Hemispheric Affairs erwartet das Konsortium aus dem Erdgasgeschäft einen jährlichen Umsatz von 1,3 Mrd. $; für den bolivianischen Staat würden jedoch nur etwa 40 Mio. $ jährlich an Steuern und anderen Abgaben abfallen. Zu deutsch: während die Multis 96,92% des erwarteten Profits einstreifen, bleiben dem bolivianischen Staat 3,08%, gerade genug, um einige korrupte Politiker zu bestechen.
Es war geplant, über die nächsten 20 Jahre mehr als 1 Mrd. Kubikfuss Flüssiggas pro Tag in die USA zu exportieren. Die USA konsumieren derzeit rund 62 Mrd. Kubikfuß pro Tag mit steigender Tendenz. Im Gegensatz zu anderen Ländern sind die Produktionskosten aufgrund der niedrigen Arbeitslöhne in Bolivien sehr niedrig. In Venezuela, Mexiko oder Argentinien sind sie etwa vier Mal so hoch.
Luis Salazar, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Boliviens, Marxisten-Leninisten, sagte in einem Interview am 20. Oktober 2003: „Fast die gesamten bolivianischen Reserven an Gas und Öl wurden an ausländische Firmen übertragen mit der Methode von Umwandlungsverträgen, deren einzige Auflage es ist, eine „Lizenzgebühr“ zu zahlen. Aber diese Firmen müssen ihre Gewinne nicht teilen und können sie obendrein aus dem Land schaffen, d.h. exportieren. Bolivien ist ein Land, das dem HIPCII oder ‚Aus­lands­schul­den­erlass für hochverschuldete Länder’ beitreten musste; es exportiert vermutlich (über dritte, bei denen 90% der Gewinne bleiben) Kapital, das durch seine immensen, jetzt privatisierten, unterirdischen Gasvorkommen erzeugt wurde.“
Kriegszustand bzw. Ausnahmezustand 2003
Hunderttausende Bolivianer haben am 16. Oktober 2003 in La Paz und 60.000 in Cocha­bamba für den Rücktritt von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada demonstriert und sich schließlich durchgesetzt, nachdem bei den Ausschreitungen der Vortage etwa 80 Personen von den Militärs umgebracht worden waren. Während der zweistündigen Kundgebung riefen sie Parolen gegen den Präsidenten und machten Lärm mit Knallkörpern und Stöcken. Die seit Wochen anhaltenden Proteste wurden ausgelöst durch die geplanten Gasexporte über Chile und Mexiko in die USA. Die verarmten Kokabauern und die Gewerkschaften kritisieren die inakzeptabel niedrigen Gewinnspannen für das Land. Zu den Demonstrationen mobilisierten außerdem die Nachbarschaftsräte der ärmeren Viertel in La Paz, die tausende von Straßenblockaden errichteten. Die Verkehrsgewerkschaft verhängte einen Streik. Lehrer, Händler, Studenten und Arbeiter riefen dazu auf, sich bis Mittag an den Arbeitsplätzen zu versammeln, um gemeinsam das Zentrum einzunehmen. Proteste wurden auch aus den Landesteilen Potosí, Oruro, Cochabamba und Chapare gemeldet.
Noch am 11. Oktober war vom Präsidenten der Kriegszustand verhängt worden. Dies hatte zur Folge, dass das Militär und die Sicherheitskräfte mit aller Härte gegen Demonstrierende, die größtenteils mit ihren Familien gekommen waren, durchgriffen. Zunächst wurde Tränengas eingesetzt, dann richteten Scharfschützen ihre Waffen auf die Menge. Es wurden auch einige Soldaten von Offizieren erschossen, die sich weigerten, auf die Demonstrierenden zu schießen. Berichtet wurde auch, dass Gruppen von Soldaten, die sich ebenfalls geweigert hatten, auf Menschen zu schießen, gefoltert wurden, indem sie gezwungen wurden, mehrere Tage lang ohne Kleidung und ohne Lebensmittel auf dem Fußboden zu schlafen. Inzwischen mehren sich Berichte über das Verschwinden-Lassen „unzuverlässiger“ Soldaten. Ganze Armeeteile werden verlegt (Soldaten aus dem Tiefland werden ins Hochland beordert, um dort die Aufstände zu bekämpfen), weil sie sich nicht mehr gegen ihre Bekannten und eigenen Familien einsetzen lassen.
Die Protestierenden verteidigten sich mit Steinen und Stöcken. Bei den Auseinandersetzungen starben nach Angaben der Agentur Bolpress mindestens zwanzig Menschen, darunter vier Kinder, mehr als 80 wurden zum Teil schwer verletzt. Den Krankenhäusern in La Paz gingen am Montag (11. Oktober) die Blutkonserven aus. Zusammen mit den Todesopfern während der Proteste gegen eine umstrittene Steuerreform im Februar dieses Jahres starben in Bolivien in diesem Jahr bereits über 100 Menschen bei sozialen Auseinandersetzungen.
Die meisten Toten gab es am 11. und 12. Oktober in El Alto. Das ist ein Vorort von La Paz auf der Hochebene Altiplano, in dem inzwischen über 600.000 Menschen, vor allem Aymara, wohnen. El Alto wurde in diesen Tagen vollständig blockiert, was den Verkehr nach und von La Paz fast völlig zum Erliegen brachte. Polizeistationen wurden angegriffen und die Polizisten verjagt, die Nachbarschaftskomitees des Ortes übernahmen faktisch die Regierungsgewalt in El Alto.
Nach nur 14 Monaten Amtszeit wurde Sanchez de Lozada durch die Kämpfe auf den Straßen zum Rücktritt gewungen. Er verkörperte die alten Herrschafts- und Un­ter­wer­fungs­verhältnisse in einem Land, in dem vier von fünf Einwohnern Indigenas sind. Nachdem seine Koalitionspartner „Neue Republikanische Kraft“ (NFR) und die MIR („Mo­vi­mi­ento Izquierda Revolucionario) wegen des blutigen Militäreinsatzes und der Verhängung des Ausnahmezustandes die Koalition mit de Lo­zada aufgekündigt hatten, verlor dieser auch seine Mehrheit im Parlament.
Der Kongress nahm Lozadas Rücktritt in einer Sondersitzung an, nachdem zuvor das Rücktrittschreiben verlesen worden war. Kurz danach befand sich Lozada mit seinen engsten Familienangehörigen und einigen weiteren Ministern in einem Flugzeug Richtung Miami (mit im Flugzeug saß u.a. Sánchez Berain, zuletzt Verteidigungsminister und verantwortlich für das Massaker vom Februar 2003).
De Lozada zögerte lange mit dem Rücktritt, weil er sich der Rückendeckung seitens der USA sicher war. Washington hatte zuvor erklärt: Die Vereinigten Staaten werden keine Störung der verfassungsgemäßen Ordnung in Bolivien dulden und kein Regime unterstützen, das mit undemokratischen Mitteln an die Macht gelangt. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) äußerte sich ähnlich. Übersetzt heißt das: Die USA und ihre Marionetten der OAS maßen sich an, Präsidenten (nicht nur) in Lateinamerika nach Gutdünken zu ernennen und im Amt zu behalten – keine Neuigkeit, zugegeben.
Carlos Mesa, der vormalige Vizepräsident, der vom Parlament schließlich zum Übergangspräsidenten ernannt worden war, kündigte in seiner Vereidigungsrede an, dass er es als seine Pflicht ansehe, auf die tausenden Menschen, die in den letzten Wochen demonstriert hatten, zu hören. Das bedeute für ihn vorgezogene Neuwahlen, nachdem an sich die nächsten regulären Wahlen erst für 2007 vorgesehen sind. Des weiteren kündigte er einen Volksentscheid zur Erdgasausfuhr an. Der 50jährige Journalist Mesa (Medieninhaber und Filmemacher) genießt in der Opposition noch einen gewissen Rückhalt. Er betonte im Hinblick auf die Zusammensetzung der neuen Regierung, in die er einige Parteilose als Minister aufgenommen hatte, dass das Volk von den Parteien enttäuscht sei. Sein politisches Überleben hängt von den sozialen Bewegungen ab. Diese werden ihn nur solange tolerieren, wie er auf deren Forderungen eingeht. Und die Anzeichen mehren sich, daß auch Mesa am Umfallen ist. Er rückt bereits langsam von seinen großspurigen Ankündigungen ab: keine Rede ist mehr von Neuwahlen, dafür umso mehr davon, „Verträge einhalten zu müssen“, sprich, das Erdgasgeschäft weiter wie gewohnt betreiben zu wollen. Für uns ist es nur eine Frage der Zeit, wie lange Mesa sich noch halten kann.
Bei der Präsidentschaftswahl Ende 2002 war der Führer der Bewegung zum Sozialismus (MAS), Evo Morales, hinter Sánchez de Lozada auf dem zweiten Platz gelandet. Die MAS unterstützt den neuen Präsidenten, will aber wegen ideologischer und kultureller Differenzen keine Regierungsbeteiligung.
Die wirtschaftlichen Ideen der parlamentarischen Oppositionsführer wie Evo Morales (MAS), der im Wahlkampf 2002 Sánchez de Lozada nur knapp unterlegen war, und Felipe Quispe beschränken sich im Wesentlichen auf die Zurückweisung der freien Marktwirtschaft. Sie befürworten eine Wiederver­staat­li­chung des Energie- und Bergbausektors und wenden sich gegen die von den USA stark unterstützte Strategie der Bekämpfung des Kokaanbaus. Bei den Kämpfen in den letzten Wochen wurde Morales von Goni medial permanent attackiert, dass er die Auseinandersetzungen zu verantworten habe und einen Staatsstreich vorbereite.
Auf Evo Morales war noch am 14.10. ein Attentatsversuch von Seiten der bolivianischen Sicherheitskräfte unternommen worden. Ein Teil der Gewerkschaftbewegung befindet sich mittlerweile im Untergrund. Morales sagte in einem Interview am 16. Oktober mit der Jungen Welt: „Es geht nicht mehr nur um die illegale Ausfuhr von Erdgas, die den Interessen der Bevölkerung zuwiderläuft. Die Bergarbeiter und die Bauern, die Quechuas und Ayma­ras bereiten sich gerade auf die Besetzung der Gold- und Silberminen vor, in deren Besitz der Ex-Präsident durch seine politischen Kontakte gekommen ist. Wir werden sie nun dem Volk zurückgeben. Genauso wie die Demokratie.“ Die Proteste gegen die Regierung waren jedoch nicht von Morales und der MAS ausgegangen, sondern von den Bauern im Andenhochland unter Führung von Quispe sowie der COB, die bereits am 16. September zum Generalstreik aufgerufen hatte. Die COB-Spitze wird aufgrund ihrer radikaleren Besetzung derzeit nicht mehr von der Regierung anerkannt.
Die Landarbeitergewerkschaft (CSUTCB) unter der Leitung von Felipe Quispe hatte vor drei Wochen angefangen, Straßen zu sperren. Nach und nach hatten sich andere Sektoren angeschlossen. Außerdem gab es bereits am 19. September eine Demonstration mit 100.000 TeilnehmerInnen. In den letzten Wo­chen wurden immer wieder bei Straßenbloc­kaden im Altiplano Campesinos vom Militär umgebracht. Die Straßenblockaden führten schließlich zu ernsten Versorgungsproblemen in den umliegenden Städten des Hochlandes inklusive La Paz.
Aber auch die Mesa-Regierung wird von der COB abgelehnt. In der Sitzung der COB (Bolivianischer Gewerkschaftsverband) vom 19. Oktober, an der ca. 20 unterschiedliche Arbeitersektoren teilgenommen hatten, wurde entschieden, den Streik fortzusetzen. Und zwar so lange, bis die Regierung verspricht, kein Gas – weder durch Chile noch über Peru – zu exportieren und die Gas/Öl-Gesetze zu annullieren (Gesetze, welche die Privatisierung und Pachtung der Ölindustrie und Öl/Gas-Reserven von Bolivien reguliert haben). Beide Forderungen sind zentral.
Außerdem hat die COB folgende Forderungen an die Übergangsregierung gestellt:
• Revision der Verträge, durch welche die Privatisierung aller Staatsbetriebe in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Beispielsweise sollen die Privatisierung der staatlichen Öl­be­triebe und die Ausbeutung der Gas/Öl-Reserven geprüft werden. Dabei soll das Grundgesetz (Constitución Política del Estado) respektiert werden.
• Annullierung des IRA-Gesetzes (dieses Gesetz reguliert die Verteilung und Privatisierung des Landes, wodurch der ursprüngliche und traditionelle Besitz des Landes ignoriert wurde, wie z.B. der kommunale Besitz).
• Reaktivierung der staatlichen Industrie und Ablehnung des neoliberalen ALCA-Vertrages (Wiedereinführung der sozialen Rechte der Arbeiter, Annullierung des Gesetzes, das den vertraglichen Abschluss zwischen Arbeitergeber und -nehmer ohne Tarife bzw. ohne irgendeinen gewerkschaftlichen Schutz erlaubt).
• Prozess gegen die Verantwortlichen der „Massaker während des Gas-Krieges“.
Die COB sieht in der neuen Regierung keinen Unterschied zur alten: Sanchez de Lozada ist zwar weg, aber dieselben Strukturen bestehen weiter. Die heutige Regierung wird so lange nicht unterstützt, bis das wirtschaftliche Modell nicht geändert wird.
Nur wenn die beiden Hauptforderungen erfüllt werden, wird der Streik beendet. Sollte die Regierung dies in den nächsten Tagen nicht erfüllen, werden wieder „die Straßen und Wege“ blockiert.
Die COB hat einen Brief an den neuen Präsidenten geschickt, in dem sie erklärt, dass sie keine Einmischung der amerikanischen Regierung dulden werde. Am Samstagmorgen hatten die USA bekanntgegeben, dass sie Truppen für die Evakuierung der amerikanischen Bürger schicken werden.
Letztlich dient die Übergangsregierung dem Volk nur dazu, Zeit zu gewinnen, um sich über revolutionäre Ziele zu einen. Ein Grund für die Akzeptanz der Übergangsregierung liegt darin, dass derzeit keine revolutionäre Partei existiert, die stark genug im Bewusstsein der Massen verankert ist, um die Führung der Bewegung zu übernehmen.
Die neue Regierung wird sich nicht halten können, wenn sie den Ausverkauf der Erdgasressourcen nicht stoppt. Gewerkschaften und Nachbarschaftsräte schätzen, daß die Regierung Mesa und die Regierungsparteien keine Kursänderung im Ausverkauf des Landes vornehmen werden. Mesa ist genauso ein Bourgeois wie Lozada. Es wurde zwar eine Schlacht gewonnen, der Krieg um das Gas – und die Eigentumsverhältnisse in Bolivien im Allgemeinen – geht aber weiter.
Ein großer Fortschritt wurde erzielt: immer mehr Menschen verstehen, daß es sich bei diesem Konflikt um Klassenkampf handelt. Das wurde auch beim COB-Kongress von verschiedensten Gewerkschaftern betont. Damit – wie auch mit ihrer Militanz – sind uns die bolivianischen werktätigen Massen einen entscheidenden Schritt voraus. Wir sollten uns auch an ihnen ein Beispiel nehmen.