Info-Verteiler
Piraten vor Somalia
Ein fragmentiertes Land
Im Jänner 1991 stürzte die Diktatur von Siad Barre in Somalia. Seither gab es eine Abfolge von Bürgerkrieg und ausländischen Interventionen.1Somaliland im Norden, das 1960 die Unabhängigkeit von der vormaligen Kolonialmacht Großbritannien errungen und sich danach mit der früheren italienischen Kolonie Süd-Somaliland zu Somalia vereinigt hatte, erklärte sich bereits 1991 für unabhängig, wird aber bis heute international nicht anerkannt.
Puntland
Im Nordosten hatte die Somali Salvation Democratic Front (SSDF)seit 1982 gegen das autoritäre Barre-Regime gekämpft und 1988 die Kontrolle über die Provinz errungen. Im Jahr 1998 einigte sich eine Versammlung von Clan-Vertretern auf die Schaffung einer autonomen Regionalverwaltung nach dem Vorbild von Somaliland, allerdings war keine Unabhängigkeit, sondern Versöhnung und Wiederaufbau eines föderal strukturierten Somalia die Perspektive.
Es folgte ein Machtkampf zwischen Präsident Yusuf und dem Parlament, in den zeitweise auch Somaliland und Äthiopien eingriffen, und der auf einer gesamtsomalischen Friedenskonferenz 2004 beigelegt wurde. 2006 wurde Puntland von der Union islamischer Gerichte angegriffen, und mehrere Hafenstädte (Hoboy, Harardhere, Eldhere) wurden vorübergehend von der Union besetzt. Bei den Präsidentschaftswahlen Anfang 2009 wählte das Parlament zuletzt den Oppositionsführer Abdirahman Mohamed Farole zum neuen Präsidenten.
Al-Shabaab
Während des Bürgerkriegs gründeten islamisch orientierte Geschäftsleute, Milizchefs, islamische Geistliche, lokale Bürgermeister und islamische Rechtsgelehrte die Union islamischer Gerichte, um Gewalt und Clan-Fehden zurückzudrängen. Die Union war eine politische und militärische Dachorganisation unabhängiger somalischer Gerichte. Mitte 2006 konnte sie die Kontrolle über Mogadischu und große Teile Süd- und Zentralsomalias erringen. Nach der Kriegserklärung Äthiopiens Ende 2006 wurde sie von der somalischen Übergangsregierung mit Unterstützung äthiopischer Truppen entmachtet.
Aus der Union islamischer Gerichte ging die radikale Jugendbewegung al-Shabaab hervor. Sie kämpfte erst gegen die bis Anfang 2009 im Land stationierten äthiopischen Truppen und bekämpft weiterhin die Übergangsregierung Somalias. Inzwischen beherrscht sie den größten Teil des Landes. Von der Bevölkerung wird sie zum einen akzeptiert, weil sie nach jahrelangem Bürgerkrieg für relative Sicherheit sorgt. Andererseits führte al-Shabaab ein rigoros islamisches Regime mit erheblichen Eingriffen in das Alltagsleben der Menschen ein. In Zentralsomalia formierte sich dagegen die gemäßigt islamische, sufistische Gruppierung Ahlu Sunnah Wal Jama, die Dhuusamarreeb erobert hat.
Al-Shabaab verfügt angeblich über ca. 7.000, meist junge Kämpfer, die in Zellen organisiert sind und rund 150 Dollar Monatslohn beziehen. Sie führen Attentate im Land (z.B. gegen Regierungsmitglieder von Puntland und Somaliland), aber auch anderswo (z.B. in Dänemark gegen den Verfasser der Mohammed-Karikaturen) aus. Die Bewaffnung wird über das mit Äthiopien verfeindete Eritrea organisiert.
Regierung
Aus einer 2000 in Dschibuti abgehaltenen Friedenskonferenz, die von der UNO, GB und den USA unterstützt wurde, ging die somalische Föderale Übergangsregierunghervor. Von den 245 für diese Versammlung ausgewählten Personen sollen allerdings gut 60% ehemalige Mitglieder des Scheinparlaments unter Siad Barre gewesen sein. Die Sitze wurden nach Clans verteilt, 20 Sitze waren für Frauen reserviert, und schließlich wurde Abdikassim Salat Hassan zum Präsident gewählt. Diese Regierung wurde aber von den in Mogadischu kämpfenden warlords abgelehnt und konnte sich daher nicht in Somalia niederlassen. Nach zwei Jahren brach sie zusammen und verschiedene Kriegsparteien bastelten zusammen mit Äthiopien an einer Gegenregierung mit Sitz in Baidoa. Nach weiteren Verhandlungen, die von Stimmenkauf und Betrug gekennzeichnet waren, entstand 2005 eine neue, die Föderale Übergangsregierung, die wegen ihrer Abhängigkeit von Äthiopien von kaum einer/einem SomalierIn anerkannt wird. Unter dem Schutz äthiopischer Truppen schaffte es diese Regierung 2007, in Mogadischu einzuziehen. Wegen der dadurch ausgelösten Kämpfe floh die Hälfte der Bevölkerung aus der Hauptstadt. Interne Machtkämpfe schwächten die Regierung noch weiter, zudem zogen 2009 die äthiopischen Truppen wieder ab. Heute „kontrolliert“ die „Regierung“ gerade ein paar Bezirke von Mogadischu.
Nach wie vor gibt es also keine faktische zentrale Autorität in Somalia. Ca. 1/3 der Bevölkerung ist auf Nahrungsmittellieferungen aus dem Ausland angewiesen, und gerade jetzt häufen sich wieder Berichte über eine katastrophale Hungersnot am Horn von Afrika.
Sondermüll
Der somalisch-kanadische Schriftsteller, Rapper und Musiker K’naan beschreibt die Dynamik, die zur Piraterie durch somalische Fischer, Milizionäre und Jugendliche führte:2
Nach der Entmachtung von Siad Barre, unserem charmlosen Diktator für mehr als zwei Jahrzehnte, kamen zwei der wichtigsten Kräfte des Hawiye-Clans an die Macht. Damals wurden Ali Mahdi und General Mohammed Farah Aidid, die beiden Führer der Hawiye-Rebellen, allgemein als Befreier betrachtet.
Aber die Einigkeit der beiden Männer und ihrer Unter-Clans dauerte nur kurz. Es scheint, als wären sie mit Blindheit geschlagen gewesen in dem Moment, da der Diktator gestürzt war, oder sie haben einfach vergessen darüber zu sprechen, wer der Führer des Landes sein würde, wenn sie ihren gemeinsamen Feind besiegt haben. Sogleich brach ein Zwist darüber aus, wer vom Milizchef zum Präsidenten aufsteigen sollte. Deswegen haben wir die zerstörerischsten Kriege in der Geschichte Somalias erlebt, die zu Millionen Vertriebenen und hunderttausenden Toten führten.
Aber Krieg ist teuer und Milizen brauchen Lebensmittel für ihre Familien, und Jaad (eine Droge auf Amphetamin-Basis), um für den Kampf wach zu bleiben. Deshalb muss ein guter Kriegsherr, der sich auf seinen Clan stützt, sich um seine Kämpfer kümmern. Aidids Männer wandten sich dem Raub von LKWs mit Hilfsgütern zu, die Lebensmittel für die hungernden Massen transportierten, und verkauften diese, um ihren Krieg fortführen zu können. Aber Ali Mahdi hatte sein Auge auf eine größere und weniger ausgebeutete Ressource geworfen: den Indischen Ozean.
Korrupte und unmoralische
Praktiken europäischer Geschäftsleute
Zu dieser Zeit beschwerten sich lokale Fischer an der somalischen Küste über illegale Schiffe, die in somalische Gewässer kamen und den ganzen Fisch stahlen. Und da es keine Regierung gab, bei der mensch sich beschweren konnte, und da die allgegenwärtige Gewalt jedes andere Problem überschattete, fanden die Fischer kein Gehör.
Aber ungefähr um diese Zeit kam eine noch unheimlichere Praxis in Gang. Ein Schweizer Unternehmen, Achair Parterns, und eine italienische Müllbeseitigungsfirma namens Progresso machten mit Ali Mahdi einen deal, dass sie nämlich containerweise Müll in somalischen Gewässern versenken durften. Diese europäischen Firmen zahlten an warlords angeblich rund 3 Dollar pro Tonne, während die ordnungsgemäße Entsorgung von Müll in Europa rund 1000 Dollar pro Tonne kostet.
2004 schwemmte der Tsunami mehrere lecke Container an Land, tausende BewohnerInnen in der Region Puntland begannen, sich über ernsthafte und zuvor nicht gekannte Leiden wie Unterleibsblutungen, zerschmelzende Gesichter und eine Menge plötzlicher, krebsähnlicher Symptome zu beschweren. Nick Nuttall, ein Sprecher des UN-Umweltprogramms, sagte, dass die Container viele verschiedene Formen von Müll, darunter „Uranium, radioaktiven Abfall, Blei, Cadmium, Quecksilber und chemische Abfälle“ enthielten.
Aber es handelte sich nicht um ein einzelnes Verbrechen, bei dem eine oder zwei Gruppen ihren Vorteil aus unseren ungeschützten Gewässern zogen, der UN-Beauftragte für Somalia, Ahmedou Ould-Abdallah, sagt, dass diese Praxis bis heute anhält.
Bei den rauen Jungs
Monate nach diesen ersten Berichten mobilisierten sich die Fischer selbst, gemeinsam mit Straßenmilizen, um auf See zu fahren und die Leute aus dem Westen davon abzuhalten, einfach das Unterwasserleben vor Somalia völlig zu zerstören. Jetzt, Jahre später, ist diese Abschreckung nicht mehr so nobel, und die ehemaligen Fischer mit ihren Milizen haben Geschmack an der Arbeit auf See gefunden. Diese Form der Piraterie trägt nun maßgeblich zur somalischen Ökonomie bei, vor allem in der Region, in der private Müllentsorgungsunternehmen damit begonnen haben, die tödliche Falle für unsere Nation zu errichten.
Jetzt hat Somalia die weltweiten Piratenangriffe innerhalb eines Jahres um 21% in die Höhe schnellen lassen, und während die UNO und die EU Truppen an die somalische Küste schicken und versuchen, die Angriffe einzudämmen, warten Blackwater und alle Arten privater Sicherheitsunternehmen darauf, abzukassieren. Aber während die Europäer zu Recht ihre Handelsinteressen in der Region schützen, sind unsere Piraten das einzige, das wir hatten von einer von außen aufgezwungenen Umweltkatastrophe. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass nicht einige der Schiffe, die sie jetzt für Lösegeld festhalten, nicht in die illegalen Aktivitäten in unseren Gewässern involviert waren. Die Wahrheit ist: Wenn mensch mit irgendjemand in Somalia spricht, so glauben alle, dass die Beseitigung der Piraten nur die weitere Vergewaltigung unserer Küste durch unbeobachtete westliche Schiffe bedeutet, und eine weitere von Krebs geplagte Generation bringt, und deshalb würden wir alle die Piratenflagge hissen.
Fischraub
Das Machtvakuum in Somalia, das unter anderem dazu führte, dass es faktisch keine Küstenwache mehr gab, die die 200 Meilen-Zone entlang der über 3.000 km langen Küste überwachen konnte, nutzten internationale Piraten rasch aus. Der Streifen, dessen Nutzung nach internationalem Seerecht ausschließlich Somalia zusteht, wurde zum Tummelplatz von Räubern3, die in großem Maßstab den Fischreichtum des Gewässers plünderten, sowie zur Sondermülldeponie für Europa und Kanada.
Jahrelang beschwerten sich somalische KüstenbewohnerInnen, NGOs und die Regierung von Puntland über diese eklatanten Verletzungen internationalen Rechts, jahrelang forderten sie die UNO, die Afrikanische Union und die Arabische Liga auf, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Jahrelang geschah nichts Dementsprechendes, im Gegenteil: Die Fischräuber wurden immer dreister und griffen somalische Fischerboote an, die sie aus deren einheimischen Fanggründen vertreiben wollten, und die Giftmüllablagerungen wurden schlichtweg bestritten.
Der Berufsfischer Muhammed Hussein aus der Küstenstadt Marka, hundert Kilometer südlich von Mogadischu, fomulierte 2006 in einem Aufruf an die Vereinten Nationen: „Helft uns, das Problem zu lösen. Was hier stattfindet, ist wirtschaftlicher Terrorismus.“ Sein Kollege Jeylani Shaykh Abdi: „Sie rauben nicht nur unseren Fisch, sie rammen unsere Boote und kappen unsere Netze – mitsamt dem Fang.“ Hussein und Abdi präzisierten, dass die Piratenfischer mit verbotenen langen Schleppnetzen, teilweise auch mit Dynamit fischten, die einheimischen Fischerboote gerammt, mit kochendem Wasser übergossen und sogar mit Gewehren beschossen würden. Nicht selten schreckten die Eindringlinge auch nicht davor zurück, somalische Milizen zu finanzieren, um die lokalen Fischer zu vertreiben.
2002 wurden tausende tote Fische an die somalische Küste geschwemmt. 2008 berichtete BBC von Erkrankungen im somalischen Küstenort Harardhere, die auf Giftmüll zurückgeführt werden. Harardhere ist neben Eyl und Hobyo einer der Küstenorte, von denen aus somalische „Piraten“ operieren.
Die Fischerträge gingen mit dem Einfall der internationalen Fangflotten seit Beginn der 90er Jahre rapid zurück. Brachte ein somalisches Fischerboot im Jahr 1995 noch durchschnittlich 200 kg Fisch pro Fahrt ein, so sank dieser Fang bis zum Jahr 2005 auf weniger als die Hälfte. Die Haifischfänge gingen sogar von mehr als 600 kg auf etwa 200 kg zurück und die Hummererträge von 450 kg auf ca. 80 kg (vgl. FAO 2005).
Gegen diese Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen versuchten es die somalischen Fischer erst mit verbalem Widerstand. Doch wie bereits erwähnt, fühlte sich keine internationale Organisation bemüßigt, den Verletzungen des Seerechts durch die ausländischen Fischfangflotten Einhalt zu gebieten. Deshalb griffen die Fischer zur Selbsthilfe. Nachdem die Versuche, die Eindringlinge durch gutes Zureden von ihrem Treiben abzuhalten, scheiterten, bewaffneten sie sich und kaperten die Fischräuberschiffe. Dabei nannten und begriffen sie sich als „lokale Küstenwache“, und entsprechend beschlagnahmten sie die aufgebrachten Schiffe nicht, sondern begnügten sich damit, eine „Fischsteuer“ einzuheben.
Diese Vorgangsweise zeitigte tatsächlich Erfolge, denn seit den Angriffen auf Fischerei- und Handelsschiffe im Golf von Aden scheint der Fischbestand langsam wieder zu wachsen (Eveleens 2009).
Die Internationale des Fischraubs
Um sich eine Vorstellung von den Dimensionen des Fischraubs zu machen, hier ein paar Zahlen: Allein im Jahr 2005 sollen ca. 700 Fischereischiffe in somalischen Gewässern Thunfisch, Krebse und Garnelen im Wert von ca. 1 Milliarde Euro gefangen haben. Weltweit betragen die jährlichen Einnahmen aus illegaler Fischerei geschätzt 4 bis 9 Milliarden Dollar. Wer sind diese Fischräuber?
Die „High Sea Task Force“ nennt sie IUU-Flotten („illegal, unreported and unregulated), und es handelt sich dabei um Schiffe, die industrielle Fischerei betreiben. Während die meisten dieser Schiffe aus Europa und Asien stammen, fahren viele von ihnen unter einer sogenannten „Billigflagge“, darunter alle Schiffe der spanischen Thunfischflotte. Die internationale Fischerei verlegt sich zusehends auf die Ausbeutung der Fanggründe im Indischen Ozean, denn die Thunfischbestände in heimischen (d.h. vor allem europäischen) Gewässern sind längst erschöpft.
Die „Billigflaggen“ ermöglichen es den Kapitänen, „aus dem Moment heraus mit einem bestimmten afrikanischen Land eine Vereinbarung zu treffen und in Eigenregie Fischereiverhandlungen per Fax zu führen“ (Clover 2004: 188). Dazu reicht es im Fall Somalia, mit einem beliebigen Warlord einen Vertrag abzuschließen. Das wirkliche Herkunftsland des Fischereischiffes ist damit in das schmutzige Geschäft – offiziell – nicht involviert. Tatsächlich werden die Lizenzgelder für den Fischfang von der EU, den USA oder Japan finanziert, denn sie alle subventionieren „ihre“ Fischindustrie. Die somalischen Fischer haben von den Lizenzzahlungen selbstverständlich gar nichts, denn dieses Geld kommt nie bei ihnen an. Zwischen der EU und Somalia gibt es jedenfalls kein Fischereiabkommen, das die ausländischen Fischer berechtigen würde, in somalischen Hoheitsgewässern zu fischen.
Tarnung, Täuschung und Abzocke
Die sogenannte „Ausflaggung“, d.h. die Registrierung eines Schiffes in einem anderen Land, ist eine weit verbreitete Praxis und soll hier am Beispiel Deutschlands kurz umrissen werden.
Theoretisch muss (nach deutschen Gesetzen) ein Schiff dort registriert werden, wo der Eigner sitzt. Von den mehr als 3.000 deutschen Handelsschiffen, die die Weltmeere befahren, sind letztes Jahr aber nur 421 unter deutscher Flagge gefahren. Alle anderen waren in Ländern wie Antigua und Barbuda, Liberia oder Panama registriert. Inzwischen bietet sogar der Binnenstaat Mongolei an, fremde Schiffe zu registrieren.
Panama bietet sich bereits seit den 1920er Jahren als Ausflaggungsland an und wurde ursprünglich vor allem deshalb gewählt, weil es faktisch keine Sicherheitsauflagen für hier registrierte Schiffe gibt. So fuhren die berüchtigten „Seelenverkäufer“, zu Deutsch Schrottkisten aller Länder unter panamesischer Flagge.
Das deutsche Finanzministerium übersieht großzügig diese illegale Praxis, wenn es darum geht, dass die Reeder die Vorteile der Ausflaggung genießen, nämlich praktisch Steuerfreiheit. Ganz anders verhält sich aber dasselbe Finanzministerium, wenn es sich um die kümmerliche Heuer deutscher Seeleute auf diesen Schiffen handelt – kümmerlich vor allem, weil die Reeder nun nicht an deutsche Arbeitsgesetze gebunden sind, die Arbeitsbedingungen daher so rigide sind wie die Heuer niedrig ist.
Die Seeleute aber müssen ihre Einkommen „selbstverständlich“ in Deutschland versteuern, obwohl sie tatsächlich im Ausland arbeiten. Denn ein Schiff ist immer Hoheitsgebiet des Staates, unter dessen Flagge es fährt. Deutschland interpretiert also die illegale Ausflaggung samt den damit einhergehenden Bedingungen für die Besatzungen als rechtens, die folgerichtige Steuerfreiheitfür die Seeleute aber als nicht gegeben.
Doch schon die Registrierung der Schiffe zeigt, dass es sich dabei um eine Farce handelt: Das Schifffahrtsregister von Liberia befindet sich in Reston, Virginia (USA), das von Antigua und Barbuda praktischerweise gleich in Oldenburg in Deutschland (die Mongolei lässt ihre Geschäfte in Singapur abwickeln).
Damit nicht genug der Verwirrungen: Deutsche Reeder (die laut eigenen Angaben eigentlich Reeder von Antigua und Barbuda & Co. sind) lassen sich selbstverständlich vom deutschen Staat subventionieren. Und ebenso selbstverständlich rufen sie nach Schutz durch die Bundeswehr, wenn ihre Schiffe Gefahr laufen, am Horn von Afrika gekapert und nur gegen Lösegeldzahlungen (so nennen es die feinen Herren Reeder, und mit ihnen die Presse und die PolitikerInnen) wieder weiterfahren dürfen.
Praxis der Piraterie
Ich war Fischer in einer armen Familie, wir hingen völlig vom Fischfang ab. 2006 dachte ich das erste Mal daran, zu den Piraten zu gehen. Eine Gruppe von Dorfbewohnern, vor allem mir bekannte Fischer, bewaffneten sich. Einer von ihnen erzählte mir, dass sie Schiffe kidnappen wollten, denn, so sagte er, sie plünderten unsere Ressourcen im Meer. Er sagte, es handle sich um einen Dienst an der Nation, und im Endeffekt sei eine Menge Geld zu machen. Also nahm ich ein Gewehr und trat ihnen bei.
Die Piraterie ist nicht leicht verdientes Geld, sie birgt viele Risiken und Schwierigkeiten. Manchmal verbringst du Monate auf See, um Schiffe zu jagen. Manchmal, wenn wir hinter einem Schiff her sind, geraten wir in raue Winde, manche von uns erkranken, manche sterben. Manchmal gelingt es nicht, ein Schiff zu kapern, und manchmal wirst du von ausländischen Marinen bedroht, aber alles, was wir machen, ist risikoreich.
Tausende junge, verzweifelte Somalier (Migranten) riskieren weiterhin ihr Leben auf See, auf der Suche nach einem besseren Leben im Ausland. Deshalb überrascht es nicht, uns in den gleichen Gewässern anzutreffen, denn die Piraterie auf der Suche nach Geld – da gibt es keinen Unterschied. Hier werden wir unterstützt, die meisten Menschen hier sind direkt oder indirekt von der Piraterie abhängig. Denn wenn viel Geld in der Stadt ist, können sie einiges davon durch Freunde, Verwandte oder durch Geschäfte ergattern. Unsere Arbeit wird von vielen Menschen in den Küstendörfern als legal angesehen, und wir werden als Helden betrachtet.
Der einzige Weg, wie die Piraterie gestoppt werden kann, ist eine effektive Regierung für Somalia, die unsere Fische verteidigt. Und dann werden wir uns selbst entwaffnen, unsere Boote der Regierung übergeben, und wir werden an die Arbeit gehen. Ausländische Marinen können nichts tun, um die Piraterie zu beenden.5
Ein Krieg,
der keiner sein darf
Am 2.6.2008 beschloss der UN-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Mit der Resolution wurden alle Staaten, die mit der Übergangsregierung Somalias kooperieren, dazu ermächtigt, in das Hoheitsgebiet Somalias einzufahren oder einzufliegen und alle erforderlichen Maßnahmen im Rahmen des internationalen Rechts gegen Piraterie und bewaffnete Überfälle auf die Seefahrt zu ergreifen.
Die Übergangsregierung als international anerkannte Vertretung Somalias akzeptierte den Resolutionstext. Es handelte sich um das erste Mal, dass der Sicherheitsrat in einer solchen Weise unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen in die territorialen Rechte eines Mitgliedsstaates eingriff. Inzwischen operieren mehr als 40 Kriegsschiffe unterschiedlichster Nationen vor Somalia, darunter auch chinesische, um China, das in Afrika als Rivale des Westens auftritt, in eine gemeinsame Vorgangsweise einzubinden.
Seit Ende 2008 beteiligen sich europäische Marinen unter dem Namen „Atalanta“ an dieser Aktion. Doch Armeen, und zu denen gehört die Marine, dürfen nur im Kriegsfall eingesetzt werden, und Kriege können nur zwischen Staaten geführt werden. Soweit die Theorie, spätestens seit dem „Krieg gegen den Terror“ kennen wir die Praxis. Somalia hat aber weder eine Regierung noch eine Armee (sieht man von den paar Leuten ab, die der offiziellen Regierung des Landes unterstehen und mit dem Anti-Piraterie-Krieg nicht gemeint sind) und daher kann auch kein Krieg gegen Somalia geführt werden.
Die sogenannten „Piraten“ aber sind Privatpersonen, und daher ist ein Militäreinsatz gegen sie illegal. Also tritt die Marine als „Polizei“ auf, womit das nächste Problem angesprochen ist: Die Trennung zwischen Polizei und Armee wird weiter aufgehoben. Auch die Prozesse gegen gefangen genommene Somalier gestalten sich – rein rechtlich, nicht aber praktisch – schwierig: Die einzigen „Beweise“ für vorgeworfene Taten liefern diejenigen, die die Leute festgenommen haben, der Prozess kann nicht im Land geführt werden, in dem das „Verbrechen“ geschehen ist (Somalia).
Daher standen vor kurzem mehrere Somalier in Deutschland vor Gericht, was sich wiederum als unliebsam herausstellte. Die Leute können nach Verbüßen allfälliger Haftstrafen Asylanträge stellen, und es steht außer Zweifel, dass sie nicht nach Somalia abgeschoben werden dürfen.
Also werden immer mehr Verfahren im Nachbarland Kenia geführt. Dazu erhält Kenia großzügige finanzielle Zuwendungen seitens der interessierten Länder, was aber weder die Haftbedingungen (oft genug Isolationshaft) noch die Gerichtsverfahren an z.B. deutsche Standards anpasst (die natürlich auch zu hinterfragen sind).
So werden alle rechtlichen Hindernisse gelöst, indem sie einfach „über Bord geworfen“, d.h. ignoriert werden. Immerhin geht es um „Piraterie“, die im 21. Jahrhundert einfach nicht sein darf.
Ökonomie der Piraterie I
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde Piraterie von den aufstrebenden europäischen Staaten gefördert, um den Gegner zu schwächen. Ein Großteil der englischen Marine bestand aus „Privaten“. Sie erhielten vom Staat „Kaperbriefe“, die sie dazu ermächtigten feindliche Schiffe aufzubringen. So wurden aus Piraten Geschäftsleute – wie aus einer sich entwickelnden Mafia ebenfalls Geschäftsleute werden.
Piraterie machte den Malteserorden reich, er handelte mit Menschen und dem Verkauf von Beute; Piraterie legte vermutlich den Grundstein für das Herrscherhaus der Grimaldis, deren Nachfahren das Steuerparadies Monaco regieren.
Erst mit der Ausweitung des maritimen Fernhandels verlor die Piraterie ihre frühere Akzeptanz. Jetzt ging es darum, die Handelsrouten zu sichern, und 1956 wurde die Piraterie schließlich durch die Pariser Seerechtsdeklaration verboten. Verschwunden ist sie deshalb natürlich nicht, und überall, wo das Gewaltmonopol umkämpft und gleichzeitig die ökonomische und politische Unsicherheit groß ist, wird auf diese Form der Mittelbeschaffung zurückgegriffen.
Wurden durch Piraterie erst größere Summen erworben, so lässt sich gut auf „normale“ Geschäfte umsteigen, und die Piraterie kann nachträglich als eine Form der ursprünglichen Akkumulation begriffen werden.
Die Somalier wurden ihrer ökonomischen Grundlagen beraubt, indem ihre Fischgründe leergefischt und ihre Gewässer verseucht wurden. Deshalb griffen sie, nachdem die „zivilisierten“ Methoden, nämlich die Aufrufe an die Staatengemeinschaft, für „Recht und Ordnung“ – nicht so sehr in somalischen Hoheitsgewässern, sondern vielmehr unter „ihren“ Staatsbürgern, d.h. hier Kapitalisten – zu sorgen, nichts brachten, zur Selbsthilfe.
So nebenbei, hielten sich diese Staaten zumindest an ihre eigenen Gesetze, dann würde sie das „Piratenproblem“ am Horn von Afrika nicht interessieren, denn dann wären Deutschland, Spanien etc. nicht betroffen, und Antigua und Barbuda oder Liberia würden wohl keinen Finger für „ihre“ Reeder krumm machen.
Der Militäreinsatz am Horn von Afrika, der mit 40 Kriegsschiffen aus verschiedensten Ländern der größte der letzten Jahre ist, eskaliert die Situation. Menschen, die eigentlich nur ihre Küstengewässer schützen wollten, sehen sich gezwungen, Unterstützung zu suchen. Sie finden sie in ehemaligen Milizionären, die für Aufrüstung sorgen.
Sie dehnen ihren Aktionsradius aus, indem Mutterschiffe gekauft werden, die die Schnellboote, mit denen die Schiffe gekapert werden, an ihren Bestimmungsort bringen können, und sorgen damit für die Forderung nach Aufrüstung bei der Gegenseite. Inzwischen operieren somalische „Piraten“ vom Golf von Aden bis Madagaskar.
Wie das eingangs erwähnte Zitat zeigt, finden somalische Jugendliche im Land keinerlei „legale“ Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Entweder sie versuchen, in die Länder zu gelangen, aus denen die Fischräuber und Handelsschiffe, die am Horn von Afrika überfallen werden, kommen. Oder sie schließen sich denjenigen an, die diese Überfälle durchführen.
Ökonomie der Piraterie II
Anfang August 2011 kaperten libysche Rebellen im Mittelmeer einen libyschen Benzintanker. Die Aufständischen hätten die „Cartagena“ vor Malta in ihre Gewalt gebracht, sagte eine mit der Situation vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters. Ein Nato-Sprecher erklärte, der Tanker sei wegen des Waffen-Embargos vorübergehend gestoppt und nach einer Überprüfung zur Weiterfahrt nach Bengasi freigegeben worden. Bei der Kaperung erhielten die Rebellen einem Bericht des Fachblatts „Petroleum Economist“ zufolge auch Hilfe von den Soldaten eines europäischen Landes. Sondereinheiten hätten das Schiff von der Luft aus gestürmt. Eine offizielle Bestätigung für die Kaperung gab es nicht. Der Nato-Sprecher erklärte lediglich, während der Durchsuchung des Tankers habe es „keine Anzeichen“ für einer Übernahme durch Rebellen gegeben. Die Rebellen hatten bereits im März einen Benzintanker der libyschen Regierung unter ihre Kontrolle gebracht.
Aufregung herrschte in den westlichen Medien deswegen nicht, und weder die UNO noch die EU forderten einen Schutz gegen die Piraterie im Mittelmeer – wer sollte ihn auch leisten angesichts der NATO-Komplizenschaft?
Während also dem Westen genehme, wenn auch illegale Machenschaften auf See nicht nur geduldet, sondern mit Waffengewalt unterstützt werden (egal ob im Mittelmeer oder am Horn von Afrika), bleibt den Somaliern nur die Migration in eben diesen Westen oder die Selbsthilfe daheim. Lebensgefährlich sind beide Alternativen.
Es ist an der Zeit, dass die Welt dem somalischen Volk die Sicherheit gibt, dass diese westlichen illegalen Aktivitäten aufhören, wenn unsere Piraten ihre Operationen einstellen. Wir möchten nicht, dass die EU und NATO diese Gangster bei ihrer Beseitigung von nuklearem Abfall auch noch schützen. Es scheint mir, dass diese neue moderne Krise eine Frage der Gerechtigkeit ist, aber auch eine Frage: Wessen Gerechtigkeit. Wie dieser Tage offensichtlich wird, ist jemand, der für den einen ein Pirat ist, für den anderen die Küstenwache.
Anmerkungen
1Siehe Info-Verteiler 34; 4/93& 38; 11/93
2http://www.africaresource.com/rasta/sesostris-the-great-the-egyptian-hercules/a-tribute-to-the-rude-boys-of-somalia-aka-somali-pirates/, der Text wurde am 14.4.2009 auf Alternet gepostet.
3Fischräuber kommen vor allem aus Europa, China und den USA. Greenpeace schätzt, dass weltweit ca. 1.200 Schiffe am illegalen Fischfang beteiligt sind.
4http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,594302,00.html
5http://www.africaresource.com/rasta/sesostris-the-great-the-egyptian-hercules/songs-of-the-somalian-pirates-news-report/, aus einem telefonisch geführten BBC-Interview mit dem 25jährigen Dahir Mohamed Hayesi, 22.4.2009
6http://www.africaresource.com/rasta/sesostris-the-great-the-egyptian-hercules/a-tribute-to-the-rude-boys-of-somalia-aka-somali-pirates/