The Pioneer (Indien), 11.4.2004, Dr. Tatiana Shaumian (Direktorin des Zentrums für indische Studien in Moskau), Übers. Info-Verteiler
Die Amerikaner gehen den Weg Roms
Think-tanks in Washington und russische Militärexperten vermuten, dass die jahrelange US-Besetzung des Irak die globalen strategischen Realitäten gründlicher verändert haben, als die meisten Menschen sich vorstellen.
Das Problem wird in einem Essay des amerikanischen Historikers Paul Kennedy eloquent dargestellt. Kennedy hat den Kollaps der Sowjetunion vorhergesagt und den damit einhergehenden Abschwung des US-Einflusses auf der Welt.
Er meint, die amerikanische Militärmacht sei, wie das römische Reich, zu weit ausgedehnt, und die USA seien nicht fähig, die physischen Anspannungen oder die politischen Kosten lange zu tragen. Die wachsenden US-Interventionen sind tatsächlich aufrüttelnd. Die US-Armee hat 31 Kampfbrigaden. Vor dem 11.9.2001 waren davon nur vier davon in Übersee stationiert, heute sind es 22.
250.000 US-Soldaten, Seeleute, Luftwaffenangehörige und Marines dienen derzeit in Kampfsituationen, in Friedensmissionen oder in Abschreckungsoperationen außerhalb der USA. Darin sind die ständig in Westeuropa, Südkorea und Japan stationierten Soldaten nicht enthalten. Mehr als 55.000 Nationalgardisten wurden nach Übersee verschickt, und es sollen noch mehr folgen. 16 Kampfbrigaden dienen im Irak, und während einige Alliierte mit ihrem Abzug drohen, ist die US-Armee bereits überfordert. Die Frage ist: Woher soll der Nachschub kommen?
Die Bush-Regierung ist davon ausgegangen, dass sich die Situation im Irak nach der geplanten Machtübergabe im Juni beruhigen wird und damit US-Truppen abgezogen werden können. Aber was, wenn dieser Plan nicht aufgeht? Danach sieht es zur Zeit aus. Ein Anzeichen für die Personalknappheit der US-Streitkräfte ist das wachsende Vertrauen des Pentagons in militärisches Outsourcing: zu deutsch das Anheuern von Söldnern. Nach dem Tod der vier Söldner in Falludja wurde bekannt, dass selbst der US-Statthalter Paul Bremer nicht, wie üblich, von Soldaten, sondern von Söldnern beschützt wird.
Ein russischer Experte meint, dass die US-Militärdoktrin bereits in einer tiefen Krise sein dürfte. Seit dem 2. Weltkrieg hat das Pentagon alle seine militärischen Pläne auf der Fähigkeit aufgebaut, gleichzeitig mit zwei großen Kriegen konfrontiert zu sein. Aber dieser Experte meint, dass die USA nicht Nordkorea oder den Iran bekriegen und gleichzeitig den Irak im Würgegriff halten können. Und da dies bekannt wird, verändert es das Gleichgewicht der Macht und vielleicht führt es zu bedeutenden Haltungsänderungen in vielen Ländern.
Jederman auf der Welt denkt, die USA seien unbesiegbar. Was, wenn sich herausstellt, dass das nicht stimmt? Wie würde das das Verhältnis zwischen China und Taiwan, Nord- und Südkorea, Indien und Pakistan, Russland und den ehemaligen sowjetischen Republiken beeinflussen?
Den Pentagon-Strategen ist dieses Problem bewußt. Sie haben eine langfristige Reduktion ihrer Truppen in den alten Zentren des Kalten Krieges in Westeuropa begonnen und werden viele Basen nach Osten verlegen, mit kleineren, mobileren Truppenteilen; in Länder wie Bulgarien, Rumänien und ehemalige Sowjetrepubliken in Zentralasien. Gleichzeitig erteilte US-Ver­tei­di­gung­s­minister Donald Rumsfeld un­längst die Ermächtigung zur „Notaufstockung“ (der Armee) um 30.000 Kämpfer. Aber wenn man bedenkt, dass die Ausbildung eines einzigen US-Soldaten ca. 300.000 Dollar im Jahr kostet, so würde eine so große Truppenaufstockung der defizitären US-Ökonomie einen schweren Schlag versetzen.
Man fragt sich, wie sich eine Supermacht wie die USA ihre Zähne an einer so kleinen Muschel wie dem Irak ausbeissen konnte? Die Antwort könnte lauten, dass die Amerikaner weder politisch noch psychologisch darauf vorbereitet sind, die Bürde des Imperialismus zu tragen: endlose Truppenaufmärsche von Amerikanern in Kolonialkriegen, die Kosten für größere Armeen, die Zustimmung zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und das Tolerieren der brutalen, die Demokratie zerstörenden Taktik, die notwendig ist, um eine langfristige Kontrolle von Orten wie dem Irak aufrecht zu erhalten.
Kennedy streicht heraus, dass all das kommen könnte, egal ob die Völker der USA darauf vorbereitet sind oder nicht. „Washington dementiert, dass es imperialistische Ambitionen hat, und ich glaube, dass diese Dementi seriös sind“, schreibt er. „Aber wenn die USA immer mehr wie ein Imperium aussehen, wie ein Imperium marschieren und wie ein Imperium quaken, dann werden sie vielleicht eines“.