Tomasz Konicz 2008/09
Kurze Geschichte der Weltwirtschaftskrise
Das Ende des “Goldenen Zeitalters” des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus
Die seit über einem Jahr am Abgrund taumelnde, globale Finanzbranche hat einen Schritt nach vorne getan und befindet sich nun im freien Fall. Lehman Brothers, AIG, Northern Rock wer kann noch all die einstmals mächtigen Finanzkonzerne, Versicherer oder Hypothekenbanken aufzählen, die in immer kürzeren Abständen der Finanzkrise zum Opfer fallen? Angesichts der im atemlosen Tempo voranschreitenden Implosion des in den letzten drei Dekaden errichteten, internationalen Finanzsystems scheint es geboten, die Genese und Entwicklung eben dieser einem Kartenhaus gleich zusammenbrechenden, globalen Architektur der Weltfinanzmärkte nachzuzeichnen. Neben einem erheblichen historischen Erkenntnisgewinn, den ein solches Unterfangen mit sich bringt, dürften hierbei auch die Ursachen der derzeitigen Weltfinanzkrise erhellt werden. Ist es nur nackte, unkontrollierte „Gier“ einiger Spekulanten, die für die gegenwärtigen ökonomischen Verwerfungen verantwortlich ist? Ist die mit neoliberaler Deregulierung und Liberalisierung einhergehende Expansion der Finanzmärkte schuld an der Misere? Oder liegen die Ursachen dieser spätkapitalistischen Malaise tiefer - womöglich in der innersten Struktur der kapitalistischen Produktionsweise verborgen?
Der Aufstieg des neoliberalen, durch die Dominanz der Finanzmärkte geprägten Weltwirtschaftssystems - dessen Finanzüberbau gerade über uns zusammenbricht - resultierte aus der tiefgreifenden, ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfasste. Diese Krise beendete eine seit den frühen 50ern anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität in Westeuropa und den USA, für die der Historiker Eric Hobsbawm den Begriff des „Goldenen Zeitalters des Kapitalismus“ prägte (Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 285 ff.). Die führenden westlichen Wirtschaftsnationen verbuchten zwischen 1950 und 1970 im schnitt ein Wirtschaftswachstum von 4%, das wesentlich zur Vollbeschäftigung, ja zum Arbeitskräftemangel in etlichen Industrienationen beitrug. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf dieses „Goldene Zeitalter“ zu werfen, das angesichts der nun heraufziehenden Weltwirtschaftskrise wieder als Modell einer alternativen kapitalistischen Entwicklung in der öffentlichen Diskussion steht.
Wirtschaftswunderland
Es war nicht nur der Wiederaufbau des durch den Weltkrieg verwüsteten (West-) Europa und Japan, der zu dieser einmaligen Konjunktur beitrug. In dieser Periode fand auch eine „innere Expansion“ innerhalb der avancierten marktwirtschaftlichen Gesellschaften statt, innerhalb derer weitere, zuvor ausgeklammerte, Gesellschafts- und Lebensbereiche marktwirtschaftlich erschlossen wurden. Zudem trug der immer enger mit der Wirtschaft verflochtene, wissenschaftlich-technische Fortschritt zur Herausbildung neuer Märkte bei. Dank dieser Entwicklungen wurde beispielsweise zwischen 1950 und 1970 die Hausarbeit durch die Haushaltsgeräteindustrie revolutioniert. Die Nahrungsmittelbranche, die Unterhaltungselektronik, der zivile Flugzeugbau, die ersten Einzelhandelskonzerne oder der Massentourismus erlebten ihren wirtschaftlichen Durchbruch. Neue Werkstoffe, wie Kunstfasern oder Plastik, führten zu einer weiteren Umwälzung bereits etablierter Industriezweige.
Im Zentrum dieses lang anhaltenden, stürmischen Wachstums, das auf der Erschließung neuer Märkte innerhalb der Industrieländer beruhte (innere Expansion), stand die Massenmotorisierung. Von diesem Industriezweig, von der Autobranche, ging der größte Impuls für die Massenbeschäftigung bis in die 70er aus. Das vorherrschende Produktionsprinzip bei den Fahrzeugherstellern wie auch in vielen anderen Gewerbezweigen war der Fordismus: Mittels Fließbandproduktion und unter massenhaftem Einsatz von Arbeitskraft wie Maschinen wurden Massengüter hergestellt, die dank relativ hoher Löhne in ihren Produzenten zugleich ihre Konsumenten fanden. Dieses Produktionsprinzip ist nach dem US-Industriellen Henry Ford benannt, der als erster das Fließband bei der Fahrzeugherstellung einsetzte. Selbstverständlich machten auch zwischen 1950 und 1970 Rationalisierung und technische Innovationen vor den Fabriktoren nicht halt, doch wurden die hierdurch wegfallenden Arbeitsplätze durch die Nachfrage nach Arbeitskräften in anderen, neu entstandenen Wirtschaftszweigen bei weitem übertroffen.
Neben den Millionen Arbeitern, die bspw. an den Fließbändern in Rüsselsheim oder Detroit massenweise Autos montierten, muss auch noch der beschäftigungspolitische Effekt des staatlich finanzierten Aufbaus der gesamten Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Brücken, Tunnel, Tankstellennetz, Raffinerien ...) berücksichtigt werden, der zum Großteil in dieser Zeitspanne geleistet wurde. Die massenhafte, „fordistische“ Herstellung von Fahrzeugen kann somit getrost als die Schlüsselindustrie dieses „Goldenen Zeitalters des Kapitalismus“ bezeichnet werden. Bis in die heutige Zeit hinein bildete der Fahrzeugbau, trotz der ab den 80ern rasant zunehmenden Automatisierung und Rationalisierung, das „Rückgrat“ der Industrie vor allem in Deutschland und Japan.
Dem Fordismus in der Produktion entsprach eine Wirtschaftspolitik, die in Anlehnung an deren Schöpfer, den Ökonomen John Maynard Keynes, als Keynesianismus bezeichnet wurde. Dieser ökonomische Kurs galt als die wirtschaftspolitische Antwort auf die Verheerungen der Weltwirtschaftskrise von 1929, an deren Bewältigung die klassische, liberale Wirtschaftspolitik scheiterte. Im Kern handelte es sich hierbei um einen nachfrageorientierten Politikansatz, der dafür Sorge zu tragen hatte, dass die massenhaft hergestellten Güter auch auf eine massenhafte, kaufkräftige Nachfrage trafen.
Zum einen investierte der Staat selber im großen Umfang (bspw. in die Verkehrsinfrastruktur), um so vermittels staatlicher Nachfrage die Wirtschaft zu stimulieren. Der Staat sollte im Rahmen einer kontrazyklischen Finanzpolitik in Zeiten einer drohenden Rezession mit massiven Konjunkturprogrammen kreditfinanzierte Nachfrage generieren (deficit spending), und während eines Wirtschaftsaufschwungs die so entstandenen Schulden dank höherer Steuereinnahmen abbauen.
Andererseits wurden die Aktivitäten von Gewerkschaften, der Aufbau korporatistischer Strukturen in den Betrieben, politisch gefördert. Arbeitnehmervertreter und Unternehmer sahen sich nicht mehr als „Klassengegner“, wie in den Jahrhunderten zuvor, sondern als ein Team, dass an „einem Strang ziehend“ und „in einem Boot sitzend“ gemeinsam für das Wohl des Unternehmens verantwortlich sein sollte.
Dieser so genannte Korporatismus (in Deutschland „Sozialpartnerschaft“ tituliert) hatte eine materielle Grundlage, da die Gewerkschaften tatsächlich bis in die 70er hinein ansehnliche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen für die Arbeiterschaft durchsetzen konnten. Somit ging ein erheblicher Teil der durch die enormen Produktivitätsfortschritte gestiegenen Gewinne in Form von Lohnerhöhungen an die Arbeiterschaft, wodurch wiederum die private Nachfrage stimuliert wurde. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt führte also nicht zu Massenentlassungen aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen und Automatisierung, sondern vorerst zu einer Ausweitung der Massennachfrage.
Der streng reglementierte - Finanzsektor fungierte damals als eine Quelle von Krediten, die in die industrielle Produktion und gesellschaftliche Infrastruktur flossen. Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth fasste die keynesianistische Geld- und Fiskalpolitik folgendermaßen zusammen:
„Unternehmen und Staat nehmen Kredite auf, investierten diese und erzeugen damit eine Nachfrage, die mit ihren Angeboten gedeckt wurde. Vollbeschäftigung und hohe Profite sollten dann anschließend für Zins, Tilgung und sogar für die Expansion der Staatsaufgaben ausreichen.“1
Zudem fand in dieser Periode der staatlich forcierte Ausbau des Bildungswesens und Gesundheitssektors, wie auch die Ausformung des Sozialsystems in den meisten Industrieländern statt. Hier wurde wiederum Beschäftigung generiert. Steigende Löhne, ein umfangreiches Sozialsystem, Vollbeschäftigung und sattes Wirtschaftswachstum es sind vor allen die sozialdemokratischen Kritiker des Neoliberalismus, die in diesem untergegangenen keynesianistischen „Goldenen Zeitalter“ ein Modell für die Zukunft erblicken und beispielsweise hartnäckig Konjunkturprogramme fordern.
Fordismus und Keynesianismus in der Krise
Was führte nun zu der Anfang der 70er ausbrechenden Krise dieses scheinbar perfekten, marktwirtschaftlichen Wirtschaftswunderlandes? Für die nahezu alle westlichen Industrieländer spätestens seit 1973 erfassenden wirtschaftlichen Verwerfungen etablierte sich der Begriff der Stagflation einer überhand nehmenden Inflation, die mit einer stagnierenden, wenn nicht gar rückläufigen Konjunktur verbunden war. Beide Phänomene standen in einer engen Wechselwirkung.
Die inflationäre Dynamik ist ursächlich auf die fallende Profitrate der Unternehmen zurückzuführen. Seit der zweiten Hälfte der 60er fielen insbesondere in den USA die Gewinne in Relation zu dem von den Unternehmen eingesetzten Kapital sozusagen die „Verzinsung“ des Industriekapitals immer weiter ab.
An dieser Stelle scheinen ein paar grundsätzliche Erläuterungen angebracht. Der Gewinn ist das entscheidende Prinzip, der innerste Antrieb einer Marktwirtschaft - wenden Unternehmen doch ihr Kapital in der Produktion von Waren ausschließlich zu dessen Vermehrung durch deren Verkauf auf dem Markt auf. Die Produktion von Waren ist somit nur Mittel zum Zweck: zur Vermehrung von Kapital. Dies ist ein ökonomischer Kreislauf, der seit Beginn der kapitalistischen Produktionsweise besteht: Kapital, eingesetzt zur Produktion von Waren, muss nach deren Veräußerung einen Gewinn abwerfen. Der nun um den Gewinn vergrößerte Kapitalbestand wird wiederum in die Produktion von noch mehr Gütern eingesetzt. Die Auswirkungen des Re-inves-tierens von Gewinnen zwecks Erhöhung der Produktivität (und der Konkurrenzfähig-keit) eines Unternehmens erläuterten die Theo-retiker Gerry Gold und Paul Feldman in ihrem Buch A House of Cards2:
„Durch Kapitalinvestitionen erhöhte Produktivität lässt die Profitrate fallen, da weniger Arbeiter als Quelle des Werts verfügbar sind, in Relation zum totalen Ausmaß der Investitionen. Zur selben Zeit bringt ein erhöhter Ausstoß der Produktion eine Reduktion der Kosten, und folglich auch des Werts, den jede Ware verkörpert, mit sich. Wenn die Preise fallen, müssen immer mehr Waren abgesetzt werden, um die Einkommen aufrecht zu erhalten. Wachstum ist deswegen absolut essentiell, um die Profite aufrecht zu erhalten oder gar zu erhöhen. Das ist der Kernpunkt der Probleme des Kapitalismus.“
Entgegen all dem, was unsere Banker und Finanzberater uns in den letzten Dekaden einzureden versuchten, basiert der reelle Wert von Waren und Dienstleistungen immer noch auf der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Wichtig ist hierbei auch die gesamtgesellschaftliche Perspektive. Mit der erhöhten Produktivität geht auch die Beschäftigung in den etablierten Industriezweigen zurück. Neue, wiederum durch technischen Fortschritt erschlossene Industriezweige müssen diesen Arbeitskräfteüberschuss aufnehmen können, um die Stabilität des kapitalistischen Systems aufrecht erhalten zu können. Dem Kapitalismus wohnt also gleich in mehrfacher Hinsicht ein Zwang zur permanenten Expansion inne, der sich im öffentlich fetischisierten „Wirtschaftswachstum“ äußert, und dessen Kern die gewinnbringende Investition von Kapital, die Kapitalverwertung, bildet.
Wie aus der Grafik ersichtlich wird, ging seit Ende der 60er bis in die 80er der kapitalistische Super-GAU vor sich, die Profitrate fiel in den USA beständig. Hier wirkte tatsächlich der von Gerry Gold und Paul Feldman im obigen Zitat dargelegte, durch konkurrenzvermittelte Produktivitätssteigerungen ausgelöste, tendenzielle „Fall der Profitrate“. Die in Relation zum eingesetzten Gesamtkapital - sinkenden Gewinne resultieren andrerseits aber auch aus der Erschöpfung der „Inneren Expansion“ des Kapitalismus, von der oben die Rede war. Die marktwirtschaftlich neu erschlossenen Lebensbereiche (Haushalt, Unterhaltungsindustrie, Tourismus) und Industriezweige (PKWs, Zivile Luftfahrt, Kunststoffe) erlebten nach einer Phase stürmischer Eroberung eine gewisse Marktsättigung, in der solch hohes Wirtschaftswachstum wie in den 50ern oder 60ern nicht mehr möglich war. Hieraus resultiert gerade die der Inflation beiwohnende, ökonomische Stagnation, die die frühen Siebziger charakterisierte. Die neuen Märkte waren erschlossen, die Infrastruktur aufgebaut und die Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs längst repariert. Es fehlten schlicht weitere Expansionsmöglichkeiten für das anlagefreudige Kapital.
Konfrontiert mit weiterhin erhobenen Gewerkschaftsforderungen nach substanziellen Lohnerhöhungen, gingen die Unternehmen dazu über, die Mehrausgaben für die Gehälter auf die Preise ihrer Waren draufzuschlagen. Eine Art lohnpolitisches, die Inflation antreibendes „Wettrüsten“ setzte ein, in dem Gewerkschaften ihre Lohnforderungen an die immer schneller galoppierende Inflation anzupassen trachteten. Hinzu kam 1973 die „Ölkrise“, als die OPEC den Preis für Erdöl massiv zu erhöhen versuchte und somit der Teuerung in den Industriestaaten weiteren Auftrieb verschaffte.
Zudem und diese Entwicklung war und ist bis zum heutigen Tage entscheidend erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte, zu höherer Produktivität und somit zu kurzfristigen Wettbewerbsvorteilen führende, wissenschaftlich-technische Fortschritt als ein zweischneidiges Schwert. Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippt diese Entwicklung ab 1973. Ab diesen Zeitpunkt dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung innerhalb der OECD kehrt die seit Dekaden nicht mehr in den Industrieländern gekannte Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten.
Neue Industriezweige, wie die Mikroelektronik und die IT-Branche, beschleunigten diese Tendenz noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurde. Diese eigentlich positive Entwicklung es können mehr Produkte in kürzerer Zeit von weniger Menschen hergestellt werden trug somit zur Krise der kapitalistischen Volkswirtschaften in den 70ern bei. Mit der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit, mit der abnehmenden Menge an Arbeitskraft, die in der Warenproduktion aufgewendet werden muss, untergräbt unsere kapitalistische „Arbeitsgesellschaft“ ihr eigenes Fundament. Der Kapitalismus könne sich „an alles anpassen, nur nicht an sich selbst“, konstatierte der Krisentheoretiker Robert Kurz.
Das durch keynesianistische Wirtschaftspolitik und fordistische Produktionsmethoden gekennzeichnete, kapitalistische Weltsystem befand sich also in den 70ern in einer fundamentalen Krise, die aus der Erschöpfung der „inneren Expansion“ und einer fallenden Profitrate resultierte und in unübersehbare Stagnationstendenzen und die aufkommende Massenarbeitslosigkeit mündete. In Kern waren es die selben Kräfte, die zuvor das stürmische Wachstum des Kapitalismus in seinem „Goldenen Zeitalter“ befeuerten, die nun auch dessen Krise einleiteten: Die durch die Konkurrenz angetriebene, produktivitätssteigernde Rationalisierung und Automatisierung der Produktion sollte wie wir noch später genauer sehen werden ab den späten 80er einen immer größeren Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung marginalisieren.
Neoliberale Offensive
Als eine zentrale Voraussetzung des Übergangs vom keynesianischen zum neoliberalen Kapitalismusmodell gilt die Aufhebung der Goldbindung des US-Dollar in 1971. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Greenback in seiner Funktion als Weltleitwährung fest an die Goldreserven der USA gekoppelt, während alle anderen Währungen der OECD wiederum in festen Wechselkursen zum Dollar standen. Die US-Regierung garantierte, 35 US-Dollar im zwischenstaatlichen Handel jederzeit in eine Feinunze Gold umzutauschen. Man könnte auch sagen, das bis 1971 das Geld in den westlichen Industrienationen nur ein Symbol für Gold also für eine Ware - war, mit dem man als Konsument beispielsweise beim Einkauf in „Warentausch“ trat. Die Ware Gold spielte, vermittels des US-Dollars und fester Wechselkurse, die Rolle eines allgemeinen Äquivalents, in dem alle anderen Waren ihren Wert ausdrückten.
Doch seit den 60ern ging die US-Regierung dazu über, die ausufernden Kosten des Vietnamkrieges und parallel initiierter Sozialreformen durch eine Inflationierung des Dollars zu decken. Durch die angeworfenen Notenpressen in den USA überstieg schon in den 60ern der Nennwert der US-Dollar im europäischen und japanischen Besitz die US-Goldreserven. Am 17. August 1971 sah sich die Nixon-Administration folglich genötigt, die Goldbindung des US-Dollar aufzuheben. Am 11. März 1973 lösten die führenden Industrienationen wiederum ihre festen Wechselkurse an den US-Dollar und gingen zum freien „Floaten“ der Währungen auf den schnell sich etablierenden Devisenmärkten über. Seit diesem schicksalhaften Jahren sind Währungen - diese bunt bedruckten Papierzettel, denen nachzujagen wir genötigt werden durch nichts substanzielles gedeckt. Geld ist somit eine reine Vertrauenssache.
Die Aufhebung der Goldbindung des US-Dollar führte einerseits zum Wegfall der regulierenden, stabilisierenden Funktion des globalen Systems fester Wechselkurse, und sie beschleunigte andererseits die rasche Ausbreitung und Etablierung der Finanzmärkte, da Währungen nun sehr schnell zu einer Spekulationsware wurden. Zudem war nun die Steuerung der Geldmenge keinen substanziellen Beschränkungen aufgeworfen, sie konnte aus rein wirtschaftspolitischen Erwägungen vermittels Zinspolitik potentiell unbegrenzt erhöht werden. Es ist gerade diese Geldpolitische Narrenfreiheit, die Jahrzehnte später wesentlich zu den enormen Dimensionen der gegenwärtigen Finanzkrise beitragen sollte.
Die Gegenbewegung, die den ökonomischen „Gordischen Knoten“ der Stagnation der 70er duchzuschneiden trachtete und später unter dem Namen „Neoliberalismus“ bekannt werden sollte, konnte ihre ersten, praktischen Schritte ebenfalls 1973 wagen. Nachdem am 11.09.1973 der sozialistische Präsident Chiles Salvador Allende gestürzt und eine bis 1990 andauernde faschistische Diktatur unter General Augusto Pinochet errichtet wurde, fungierte das südamerikanische Land als ein Experimentierfeld neoliberaler Politik. In Pinochets Chile wurden Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkungen, Monetarismus und Sozialkahlschlag ausgiebig von den Chicago Boys erprobt, bevor dieser Politikmix unter US-Präsident Ronald Reagan und der britischen „eisernen Lady“ Margaret Thatcher in den ersten Industrieländern zur Anwendung gelangte.
Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die Herausbildung des von den Finanzmärkten dominierten, Globalen Wirtschaftssystems, soll hier die Politik der 1980 ins Amt gewählten Reagan-Administration kurz skizziert werden. Die „Neoliberalen“ sahen den Ausweg aus der Stagnation der 70er gewissermaßen in einem Zurück in die Vergangenheit:3in Steuerentlastungen für die Vermögenden und die Unternehmen, in einer Deregulierung der Finanzmärkte, in Kürzungen im Sozialbereich und ersten Privatisierungen. In ihrer Essenz zielten die meisten Maßnahmen der „Reaganomics“ auf die Erholung der Profitrate ab, und wie wir aus der obigen Graphik ablesen können, zeitigte diese Politik einen gewissen Erfolg. Ab den 80ern erholen sich die Gewinne der US-Unternehmen, auch wenn die hohen Profitraten der 50er und 60er nicht mehr erreicht werden konnten. Der linke Theoretiker Chris Harman4bemerkte hierzu:
„Wieso erholten sich die Profitraten? Ein wichtiger Faktor war die Erhöhung der Ausbeutungsrate innerhalb der Ökonomie, wie durch den steigenden Anteil des Kapitals und dem fallenden der Arbeit - am Bruttosozialprodukt ersichtlich wird.“
Ein immer größerer Teil des „volkswirtschaftlichen Kuchens“, des erwirtschafteten BSP, ging also an die Unternehmen, der Anteil der Lohnabhängigen am gesellschaftlichen Reichtum nahm ab. So stagnieren seit der Reagan-Ära die realen, inflationsbereinigten Löhne der amerikanischen Bevölkerung. Heute verdienen die Lohnabhängigen der USA de facto weniger als 1973. Ermöglicht wurde dies durch eine gewerkschaftsfeindliche Politik der Reagan-Administration, in deren Gefolge der gewerkschaftliche Organisationsgrad der US-Arbeiterschaft immer weiter sank. Zudem leiteten die Reaganomics die berüchtigte „Deregulierung“ des Arbeitsmarktes ein, die die lebenslangen, geregelten Arbeitsverhältnisse des keynesianistischen „Goldenen Zeitalters“ massiv zurückdrängte und prekäre Beschäftigung in ganzen Gewerbezweigen etablierte.
Die massiven Steuergeschenke für Spitzenverdiener (Spitzensteuersatz sinkt von 70% auf 28%) wurden im Rahmen der Trickle-Down-Theorie (abgeleitet vom englischen absickern) legitimiert. Demnach würde der massiv zunehmende Reichtum der Obersten Zehntausend durch die Ökonomie hindurch bis zu den Ärmsten „hindurchsickern“. Die massive Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA findet in den Reaganomics ihren Ursprung.
Daneben bildete sich auch erstmals eine enorme Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten innerhalb der Reagan-Ära aus, da die massiven Steuersenkungen, die innerhalb der 80er umgesetzt wurden, mit einer enormen Rüstungsanstrengung Washingtons einher gingen, mit der die Sowjetunion „zu Tode gerüstet“ werden sollte. Somit behielten die Neoliberalen ein wichtiges Element keynesianistischer Politik bei: die kreditfinanzierten Konjunkturprogramme, von denen aber diesmal nur der Militärisch-Industrielle-Komplex der USA profitierte.
Die von den US-Neoliberalen postulierte Reduzierung der Ausgaben der Öffentlichen Hand galt somit nicht für den Militärischen Sektor, sondern vor allem für den Sozialstaat. Generell kann bereits der Periode der Reaganomics eine starke Krisenanfälligkeit attestiert werden. Bereits 1981 brach eine schwere Rezession aus, die Arbeitslosenraten von bis zu 10% in 1982 zur Folge hatte. Eine erneute Rezession, die auf spekulative Exzesse der Reaganomic zurückgeführt werden kann, brach Anfang der 90er Jahre aus und vereitelte die Wiederwahl von Präsident Bush Senior.
Die Finanzmärkte heben ab
Die milliardenschweren Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne flossen nicht als Investitionen in die unter geringen Profitraten und gesättigten Märkten leidende Industrie, wie in neoliberaler Ideologie postuliert, sondern auf die deregulierten Finanzmärkte, auf denen weitaus größere Profite winkten.
Seit den 80ern nimmt der Umfang der Aktienmärkte dramatisch zu, etablieren sich Spekulationen auf den Devisen- und Warenterminmärkten (bei Schweinebäuchen und gefrorenen Orangensaft beispielsweise). 1987 erfolgt mit dem „Schwarzen Montag“ der erste Warnschuss, die erste spekulative Überhitzung auf dem US-Aktienmarkt seit den 30er Jahren. Nach jahrelangem, stürmischem Wachstum, während dessen der Dow Jones sich zwischen 1985 und 1987 verdoppelte, fiel der US-Leitindex innerhalb eines Tages um 22,6%. Dies war der größte prozentuale Einbruch des Dow innerhalb eines Tages in dessen Geschichte. Doch schon binnen 15 Monaten waren diese Verluste egalisiert und ernsthafte Rückwirkungen auf die Ökonomie blieben erstmal aus.
Ganz anders verhielt es sich mit der Sparkassenkrise, die Ende der 80er die USA erschütterte und zur besagten Rezession von 1990 bis 1991 beitrug. Die unter der hohen Inflation des ausgehenden Keynesianismus in den 70ern leidenden 3.800 kommunalen US-Sparkassen waren mit erheblichen Einlagenabflüssen an die höhere Verzinsung versprechenden Geldmarktfonds konfrontiert. Die Reagan-Administration reagierte klassisch „neoliberal“, indem sie die strikte Regulierung der kommunalen Geldinstitute größtenteils aufhob, die als eine Lehre aus der Depression von 1929 erlassen wurde. Die Sparkassen stürzten sich folglich ins Getümmel der boomenden Finanzmärkte und expandierten in hohem Tempo. Die Anzahl der an angehende Häuslebauer vergebenen Hypotheken nahm rasant zu, da gleichzeitig die Immobilienpreise in den frühen 80ern im Steigen begriffen waren. Zudem gingen die kommunalen Finanzinstitute dazu über, mit risikoreichen Junk Bonds, also mit hochriskanten Unternehmensanleihen, zu spekulieren.
Fallende Immobilienpreise ab 1985 ließen schließlich diese spekulative Blase platzen und die Sparkassen massenweise in die Insolvenz schlittern. 2.412 kommunale Geldhäuser gingen pleite, die Kosten für den US-Steuerzahler sollten sich auf bis zu 326 Milliarden US-Dollar summieren. Mit den Sparkassen brach auch die Konjunktur in den USA ein. Dieser Vorläufer der gegenwärtigen Krise aus den 80ern hatte natürlich weitaus geringere Ausmaße. Die gegenwärtigen „Bailouts“ für das US-Finanzkapital bewegen sich bereits im Rahmen mehrerer Billionen US-Dollar.
Aufmerksame Beobachter konnten schon damals die fundamentale Veränderung innerhalb der marktwirtschaftlichen Ökonomie ausmachen, die die „Finanzielle Explosion“ der 80er Jahre mit sich brachte. Bereits 1985 beschrieb insbesondere Paul Sweezy die Ursachen der aufkommenden Dominanz der Finanzindustrie, sowie deren Wechselwirkung mir der realen Wirtschaft. Der US-amerikanische Ökonom und Herausgeber des renommierten Theoriezeitschrift Monthly Review (in der u.a. Albert Einstein publizierte), konnte in einem im Dezember 1985 erschienenen und „The Financial Explosion“ betitelten Artikel den Zusammenhang zwischen der Stagnation der 70er Jahre und den nun massiv expandierenden Finanzmärkten der 80er herstellen.
Die ab 1970 stagnierende Ökonomie wirkte laut Sweezy als eine „Brutstätte“ der finanziellen Explosion während der Reagan-Ära, für die sich schnell im angelsächsischen Raum der Begriff der „Financialisation of Capitalism“, der Finanzialisierung des Kapitalismus etablierte. Das Finanzkapital unterliegt demselben Wachstumszwang - der oben beschriebenen Notwendigkeit zur Expansion - wie die verarbeitende Industrie. Die Ware der Banken ist das Geld, und der wichtigste Hebel zu einem weiteren Wachstum der Gewinne liegt schlicht in der Ausweitung der Kredite, also in der erfolgreichen Vermarktung weiterer Schulden. Da aber im Zeitalter des Keynesianismus hauptsächlich Kredite an Unternehmen und Staaten vergeben wurden, gerieten die Banken ebenfalls in die Stagnation, sobald die Investitionstätigkeit von Konzernen und Regierungen nachließ
Der Finanzsektor, aufgebläht durch die raschen Kapitalzuflüsse, die der erwähnten Fiskalpolitik der Reagan-Administration geschuldet waren, zeigte sich bei der Erweiterung seiner Märkte, bei der Jagd nach neuen Kreditnehmern, sehr innovativ. Zum einen setzte das Finanzkapital - nach erschöpfter „innerer Expansion“ - auf eine „äußere Expansion“, indem die größtenteils korrupten, prowestlichen Regimes in der Dritten Welt mit Krediten überschüttet wurden, die die Grundlage für die Schuldenfalle und den Staatsbankrott vieler Entwicklungsländer in den folgenden Jahrzehnten legten.
Die finanzielle Explosion
Auf dem Binnenmarkt wurden die teilweise bereits erwähnten, neuartigen Betätigungsfelder geschaffen, wie die Spekulation auf den Warenterminbörsen und Devisenmärkten, die Zockerei mit Optionen oder auch die durch Banken finanzierten Unternehmensübernahmen - die Geburtsstunde des berüchtigten Investmentbanking. All diese neuen „Märkte“ und deren entsprechende Waren und Dienstleistungen gingen mit exzessivem Einsatz von Kredit und daraus resultierender Verschuldung einher, die heute in der Branche als Leverage (Hebelung) verniedlicht wird. Mehr noch, Sweezy erkannte zudem, dass es sich bei dieser finanziellen Explosion, bei der damit einhergehenden Verschuldung, um einen selbstverstärkenden Prozess handelt, der ein enormes Wachstumspotential beinhaltet:
„Der Kernpunkt ist, ... dass die Finanzsphäre das Potential hat, sich zu einem autonomen Subsystem der ganzen Ökonomie zu entwickeln, mit einer enormen Kapazität zur Selbstexpansion. Ist der Prozess der Expansion erstmal voll in Gang gesetzt, wie es zwangsläufig im Kontext des Wiederauftretens der Stagnation in der 1970ern passieren musste, tendiert er dazu, aus sich selbst heraus zu wachsen: Wie Krebs, besitzt es keine internen Kontrollmechanismen. Es kann nur durch externe Interventionen unter Kontrolle gebracht werden.“5
Wieso erfolgte kein externer Eingriff? Wieso griffen alle US-Regierungen nicht ein und wieso gingen sie sogar im Folgenden dazu über, immer weitere Beschränkungen des Finanzsektors aus der Ära des New Deal zu beseitigen? Bei der Beantwortung dieser Fragen benannte Sweezy den wichtigsten Effekt der Finanzialisierung des Kapitalismus auf die reale Ökonomie, der den nun einstürzenden Finanzüberbau über solch eine lange Zeit hat wuchern lassen: Der wild und unkontrolliert expandierende Finanzsektor wirkt stimulierend auf die Konjunktur, er hilft indirekt, zumindest mittelfristig die Effekte der wirtschaftlichen Stagnation zu mildern. Zum einen sind es die in der Finanzbranche entstehenden Arbeitsplätze, sowie der Bedarf an Büros, Ausstattung, Transport oder Kommunikation, die der Konjunktur auf die Beine halfen. Zusätzlich nennt Sweezy noch den enormen Anstieg von Reichtum, der zumindest kurzfristig innerhalb des Finanzsektors generiert wird, und der den Konsum beflügelt. In den folgenden Kapiteln werden diese Mechanismen genauer untersucht werden.
Die „finanzielle Explosion“ sei in der Tat eine der „Stagnation entgegentretende Kraft“, konstatierte der Harvard-Absolvent und Schumpeter-Schüler. In den kommenden Jahrzehnten werden sich diese Rückwirkungen der spekulativen Blasenbildung auf die reale Ökonomie zusehends verstärkten mit Hilfe der Wirtschafts- und Geldpolitik. Hier nochmals Sweezys nahezu prophetischen Worte, die den Krisenverlauf der kommenden Dekaden - die Reaktionen der Politik bei jeder künftig platzenden Spekulationsblase - erstaunlich genau vorhersagen:
„Wir sehen nun genau wieso, obwohl jeder die zunehmend abscheulicheren Exzesse der finanziellen Explosion bedauert, nichts passiert oder gar ernsthaft vorgeschlagen wird um sie unter Kontrolle zu bringen. Das Gegenteil ist der Fall: Jedes mal, wenn eine Katastrophe droht, springen die Autoritäten bei, um das Feuer zu löschen und verschütten während dessen noch mehr Benzin für das nächste auflodern der Flammen. Der Grund hierfür ist einfach der, dass, wenn die Explosion unter Kontrolle gebracht würde... die gesamte Ökonomie ins Chaos stürzte. Die Metapher von dem Mann, der einen Tiger reitet, trifft diesen Prozess haargenau.“
Explosionsartige Ausweitung der Finanzmärkte in der Clinton-Ära
Neoliberale Widersprüche und die Stagnation
Die von den Neoliberalen eingeleiteten Reformen brachten bald die ihnen immanenten, unüberwindlichen Widersprüche zum Vorschein. Die stagnierenden Löhne, die Steuergeschenke und der Sozialabbau ließen tatsächlich bald die Profite und Vermögen kräftig wachsen, doch zugleich sank die Massennachfrage. Hier kommt ein grundlegender Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zum Tragen, den man als Unvereinbarkeit der betriebs- und volkswirtschaftlichen Logik bezeichnen könnte. Jeder kapitalistische Betrieb ist selbstverständlich bemüht, seine Kosten möglichst niedrig zu halten, und die gewerkschaftsfeindliche Politik von Reagan und Thatcher erleichterte es den Unternehmen, die Lohnkosten zu drücken oder wenigstens in Relation zur wachsenden Produktivität zu begrenzen. Doch sobald die Mehrzahl der Betriebe zu dieser Taktik der Kostensenkung greift, brechen dem produzierenden Gewerbe die eigenen Märkte weg, da das keynesianische Prinzip, wonach die Arbeiter die Konsumenten ihrer eigenen Produkte sein sollen, nicht mehr greifen kann.
Walden Bello6, renommierter Globalisierungskritiker und Soziologieprofessor an der Universität Manila, brachte kürzlich die Funktionsweise dieser seit Jahrzehnten schwelenden, klassisch kapitalistischen Überproduktionskrise auf den Punkt:
„Es ist die Tendenz des Kapitalismus, gewaltige produktive Kapazitäten aufzubauen, die die Konsummöglichkeiten der Bevölkerung übersteigen, gerade aufgrund der sozialen Ungleichheit, die die allgemeine Kaufkraft begrenzt.“
Zu den Warenbergen, die keine Käufer finden können, gesellen sich die Berge an Kapital, das nur schwer in der weiteren Warenproduktion eine profitable Investitionsmöglichkeit findet. Hinzu kommt seit den 70ern der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. Diese Krise der Überproduktion führt somit auch zur Überakkumulation des Kapitals wie wir bereits gesehen haben, floss dieses „überzählige“ Kapital hauptsächlich in die Finanzmärkte und befeuerte deren stürmisches Wachstum. Für den Ökonomen Paul Sweezy, der bereits in den 80ern die Ursachen des Finanzkapitalismus treffend analysierte (Die Finanzmärkte heben ab), war es gerade diese Abnahme der Investitionstätigkeit, die ursächlich zur fortgesetzten Stagnation der realen Wirtschaft, der industriellen Basis der USA, beitrug.
Es ist offensichtlich, dass die Investitionstätigkeit in den Vereinigten Staaten seit den frühen 80ern einen radikalen Einbruch erlebt, der bis zur Mitte der der 90er andauert. Hiernach folgt ein kurzes, stürmisches Wachstum, das nach dem Jahr 2000 ebenso schnell wieder zusammenbricht (Diese kurze Investitionsbonanza ist ein Widerschein der Hightech-Blase, auf die wir noch später zu sprechen kommen werden). Dieser Indikator müsste also auf eine Volkswirtschaft in einer Krise hindeuten, deren industrielle Basis sich immer langsamer entwickelt, also stagniert.
Die bereits diskutierte wirtschaftliche Stagnation der 70er (Fordismus und Keynesianismus in der Krise) wurde durch die Maßnahmen der neoliberalen Regierungen in den 80ern somit eher noch befördert. Zudem wird nun klar, wieso das überschüssige, in der Warenproduktion erwirtschaftete Kapital, nicht in die Industrie reinvestiert wird, sondern in die Finanzmärkte fließt (Überakkumulation): Es bestanden schlicht keine profitablen Investitionsmöglichkeiten, da die Märkte aufgrund fallender Nachfrage tendenziell schrumpften. Tatsächlich bildeten diese Kapitalzuflüsse in den 80ern und zu Anfang der 90er den wichtigsten „Brennstoff“ für die wuchernden Finanzmärkte.
In der von Sweezy oder Bello gemeinten Lesart bedeutet Stagnation selbstverständlich nicht, dass es einen totalen Stillstand der Konjunktur gibt, sondern dass eine langfristige Tendenz eines permanent fallenden Wirtschaftswachstums in den Industrieländern vorherrscht, die sich allen Konjunkturzyklen zum Trotz manifestiert. Wunderbar lässt sich dieser Trend an der deutschen Volkswirtschaft illustrieren, da diese über lange Zeit nicht direkt den Auswirkungen des Finanzkapitalismus ausgesetzt war. So fiel das durchschnittliche Wachstum je Dekade in der BRD beständig. In den 50ern erreichte Deutschland ein jährliches Wirtschaftswachstum von 8,2%, in den 60ern waren es 4,4%, in den 70ern 2,8% und im folgenden Jahrzehnt durchschnittlich 2,6%. Zwischen 1991 und 2003 wuchs die deutsche Wirtschaft sogar nur noch um magere 1,2% jährlich.
Es scheint, als ob der Dynamik kapitalistischer Entwicklung mit fortschreitender Entwicklung der Technik, mit fortgesetzter Revolutionierung der Produktivkräfte, die Luft ausgehen würde. Noch krasser ist diese Tendenz zur Stagnation in Japan ausgeprägt, das nach seiner eigenen Aktien- und Immobilienspekulation und Aktienhausse in den 90ern zusammenbrach und mit deflationären Tendenzen und einer kaum wachsenden Volkswirtschaft zu kämpfen hatte.
Die Hightech-Bonanza und Explosion der Finanzmärkte
Dennoch scheint die wirtschaftliche Entwicklung in den USA seit 1993 den Neoliberalen Recht zu geben und diese Theorie einer langfristigen, schleichenden Stagnation der avancierten Volkswirtschaften zu widerlegen. In einem außerordentlich lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung, der bis Anfang 2000 fortdauerte, wurde in den Vereinigten Staaten ein offizielles Wirtschaftswachstum von 4% bis 5% erzielt und die Arbeitslosigkeit scheinbar von 7% aus 4% gedrückt.
Als Antrieb dieses stürmischen Wachstums schien der wissenschaftlich-technische Fortschritt zu fungieren, dessen neuste Errungenschaften auf dem Gebeit der Mikroelektronik und Informationstechnik die Hoffnungen auf einen neuen Markt, auf eine Weitere Expansionsmöglichkeit der Kapitalistischen Volkswirtschaften weckten. Hier hat die kurzfristig rasant zunehmende Investitionstätigkeit in den USA ihre Ursache. Die Verbreitung des Internets ging mit der Errichtung einer entsprechenden Infrastruktur einher, mit den Spekulationen auf neue Märkte, Waren und Dienstleistungen, die im Gefolge des Hightech-Booms entstehen und massenhaft neue Beschäftigungsmöglichkeiten generieren würden. Es war die Zeit, in der nahezu jede noch so abartige Idee auf willige Investoren stieß, solange sie mit den Wörtchen „Internet“ oder „E-Commerce“ garniert wurde.
Doch bereits seit Mitte der 90er Jahre überstrahlt der schwindelerregende Boom der Aktienmärkte die Konjunktur belebenden Effekte der aufstrebenden IT-Branche. Der amerikanische Hightech-Aktienindex Nasdaq klettert von knapp 800 Zählern in 1995 auf knappe 5000 Punkte auf dem Höhepunkt der Spekulationshausse im Jahr 2000. Dieses Spekulationsfieber mit den Aktien von Unternehmen aus der Hightech- und IT-Brache bildete eigentlich nur den Startschuss für eine nun tatsächlich explosionsartige Ausweitung der Finanzmärkte, die in ihrer Dimension und Dauer absolut einzigartig in der Jahrhunderte alten Geschichte des Kapitalistischen Weltsystems ist. Die Ausmaße dieser wahnsinnigen Aufblähung des Finanzmärkte werden eigentlich schon am Dow Jones sichtbar, sofern man die richtige Distanz zu dem hektischen Treiben auf dem Parkett wählt:
Zu Erinnerung: Paul Sweezy beschrieb die „Finanzielle Explosion“ innerhalb der Volkswirtschaft der USA bereits 1985, also zu einem Zeitpunkt, als rückblickend dieser monströse Prozess der stürmischen Expansion der Finanzmärkte noch nicht richtig in Schwung gekommen ist. Während des gesamten Zeitalters des kapitalistischen „Goldenen Zeitalters“, also von 1950 bis 1973, steigt der Dow nur sehr langsam an, da Investitionen in die reale Wirtschaft höhere Renditen versprachen als die Börsenspekulation. Im Jahr 1985 befand sich der Dow Jones bei 1.400 Punkten, 2007 erreichte er seinen historischen Höchststand von etwas mehr 14.000 Punkten. Dies ist eine Verzehnfachung binnen 22 Jahren, die in keinem Zusammenhang mit der Entwicklung der realen Ökonomie steht.
Deutlich wahrnehmbar ist das „Platzen“ der ersten Spekulationsblase im Hightech-Sektor um 2000, deren Effekte erst ab 2003 überwunden werden und der Dow Jones in den letzten Höhenrausch verfällt. Nur sehr schwer ist hingegen die Spekulation auszumachen, die 1929 der bislang verheerendsten Weltwirtschaftskrise vorausging, dem Faschismus Auftrieb verschaffte und mittelbar in das Gemetzel des Zweiten Weltkrieges führte. Damals stiegen die Aktienkurse zwischen 1921 und 1929 um fast 500% an.
Walden Bello beschrieb die Konjunktur belebenden Effekte und die problematischen Auswirkungen solch spekulativer Blasenbildung in dem bereits erwähnten Artikel:
„The problem with investing in financial sector operations is that it is tantamount to squeezing value out of already created value. It may create profit, yes, but it does not create new value -- only industry, agriculture, trade, and services create new value.
Because profit is not based on value that is created, investment operations become very volatile and prices of stocks, bonds, and other forms of investment can depart very radically from their real value -- for instance, the stock of Internet startups that keep on rising, driven mainly by upwardly spiraling financial valuations, and that then crash.
Profits then depend on taking advantage of upward price departures from the value of commodities, and then selling before reality enforces a „correction,“ that is, a crash back to real values. The radical rise of prices of an asset far beyond real values is what is called the formation of a bubble.“
Solange die Spekulationsblase wächst, können durchaus reelle Gewinne erwirtschaftet werden. Die irrationalen Wertsteigerungen können somit in reale Profite umgemünzt werden. Das Ganze gleicht einem Schneeballsystem, dem immer mehr frisches Kapital zuströmt und aus dem diejenige durchaus mit satten Gewinnen aussteigen kann, der früh genug einsteigt und wieder aussteigt. Die Internet-Blase war überdies die erste Spekulation, an der sich große Teile der US-Mittelklasse beteiligten in Deutschland wiederum lockte etwa Manfred Krug hunderttausende Kleinanleger im Zuge der Privatisierung der Telekom auf das glatte Börsenparkett. Es entstand eine „Dienstmädchenhausse“, in der kurz vor Zusammenbruch der Spekulation selbst Geringverdiener an die Börsen strebten.
Mit formell immer weiter steigenden Aktien, waren diese frischgebackenen (Klein-) Aktionäre durchaus versucht, ihren sicher geglaubten, zukünftigen Reichtum schon im Voraus zu genießen. Die Ökonomie spricht in diesem Zusammenhang von dem „Wealth Effect“ (Reichtums-Effekt), von einer Tendenz innerhalb der Mittelschichten, einen Teil ihrer (scheinbaren) Einkommenszuwächse für Konsum auszugeben. Insbesondere in den USA nahm folglich auch die private Verschuldung zu, gingen die Kleinanleger aus der Mittelklasse dazu über, die noch realisierten Gewinne in Konsum umzuwandeln. Die Dimensionen des scheinbar explodierenden, „virtuellen“ - im Zuge der Internet-Blase generierten - Reichtums der amerikanischen Bevölkerung, wird an der Wertsteigerung der Kapitalbeteiligungen im Besitz der privaten US-Haushalte deutlich. Betrug der Wert dieser Kapitalbeteiligungen in 1990 ca. 40% des amerikanischen BSP, so stieg er auf 140% des BSP in 2000, auf den Höhepunkt der Hightech-Spekulation, nur um dann auf 60% zu verpuffen.
Zwischen den frühen 90ern und dem Jahr 2000 konnten viele US-Bürger also der Auffassung sein, sie würden vermittels ihrer steigenden Aktien immer wohlhabender und sie konsumierten auch entsprechend. Die private Verschuldung wird wie wir noch sehen werden - eine immer größere Rolle in diesem von den Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus spielen. Alan Greenspan7hat dieses Phänomen, das eine stimulierende Wirkung auf den Konsum hat, auf dem Höhenpunkt der Hightech-Blase folgendermaßen umrissen:
„Historische Belege lassen den Schluss zu, dass drei bis vier Cent von jedem Dollar, der an zusätzlichem Reichtum auf den Aktienmärkten entsteht, in zusätzlichen Konsumausgaben münden.“
Aus den obigen Ausführungen müsste eigentlich ersichtlich werden, dass die derzeitige Diskussion über die Finanzkreise die kausalen Zusammenhänge zwischen Finanz- und Industriesektor falsch darstellt. Es sind gerade die im spekulativen Feuer verfangenen, boomenden Finanzmärkte, die der schwindsüchtigen, realen Wirtschaft vermittels Nachfrage auf die Sprünge helfen. Dies ist auch das „Geheimnis“ der anscheinend so stürmisch wachsenden US-Konjunktur in den 90ern. Die anhaltende Hightech-Spekulation ermöglichte den langen Aufschwung während der Cinton-Ära. Das Bild eines raffenden, zersetzenden Finanzkapitals, das das kerngesunde produzierende Gewerbe mit in den Abgrund der Rezession reißt, stellt somit die Realität geradezu auf den Kopf. Wir werden noch anhand der Immobilienspekulation sehen, wie dieser Effekt einer von den spekulativen Finanzmärkten befeuerten, realen Wirtschaft noch weiter zunimmt und globale Dimension erreicht.
Kondratjwes lange Konjunkturwellen
Wieso konnte der Internet-Boom nicht zu einem dauerhaften Wirtschaftsaufschwung führen, ähnlich des „Goldenen Zeitalters“ der Massenmotorisierung in den 50er und 60er Jahren. Wie aus der ersten Grafik über die Investitionen in den USA ersichtlich wird, brechen die im Zuge der Hightech-Hausse geradezu explodierenden Investitionen ebenso schnell wieder zusammen und die gesamte Investitionstätigkeit geht sogar noch weiter zurück.
Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein näherer Blick auf die vom sowjetischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew begründete Theorie der „langen Konjunkturwellen“, für die der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1938 - ein Jahr nach Kondratjews Ermordung im Zug stalinistischer Säuberungen - den Begriff der „Kondratjew-Zyklen“ formte. Hierbei handelt es sich um einen dekadenlangen konjunkturellen Meta-Zyklus, der von neu entstandenen Schlüsselindustrien getragen wird, die neue Massenbeschäftigung kreieren.
Einer Periode des Aufschwungs (Phase-A), folgt eine Zeit des Abschwungs (Phase-B), in der Produktivitätssteigerungen die Massenbeschäftigung in diesen Schlüsselindustrien wieder sinken lassen. Seit Anbeginn der Industrialisierung hätten wir es also mit Meta-Zyklen zu tun, die jeweils auf dem Ausbau Textilindustrie und später der Schwerindustrie, der Elektro- oder Chemieindustrie fußen - oder eben mit Massenmotorisierung verbunden sind, wie bis in die 70er hinein im „Goldenen Zeitalter“ des Kapitalismus. Sobald durch fortschreitende technische Entwicklung die Massenbeschäftigung in einem älteren Sektor nachließ, entstanden durch denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt neue Industriezweige, die die „überschüssige“ Arbeitskraft aufnahmen.
Der renommierte US-amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallersteinbeschrieb kürzlich das Dilemma, in dem sich die Weltwirtschaft seit 30 Jahren befindet anhand dieser Kondratjew-Zyklen:
„Die Welt kam aus der letzten Kondratjew B-Phase [also einen Abschwung, T.K.] in 1945, um dann in die stärkste A-Phase [Aufschwung, T.K.] in der Geschichte des Weltsystems einzutreten. Diese erreichte ihren Höhepunkt 1967-73, und dann begann der erneute Abschwung. Diese B-Phase dauert viel länger als alle früheren B-Phasen und wir befinden uns immer noch in ihr.“
Krisen treten dann ein, wenn die von einem bestimmten Industriezweig generierte Massenbeschäftigung aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen abflaut, während sich noch keine neuen Beschäftigungsfelder in neuartigen Industrien aufgetan haben und hier kommt unsere Hightech-Hausse ins Spiel. Spätestens ab Mitte der 80er setzt ein weiterer Innovationsschub innerhalb der kapitalistischen Ökonomie ein. Diese Mikroelektronische Revolution steigert die Produktivität ganzer Industriezweige in vorher ungeahnten Dimensionen; durch Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen werden große Teile der klassischen Industriearbeiterschaft „überflüssig“.
Doch diesmal geht die Rechnung nicht auf. In den neuen Hightech-Branchen entstehen weit weniger Arbeitsplätze, als in den „alten“ Industrien obsolet werden. Dem Massenheer der Industriearbeiterschaft folgt keines aus Programmierern, Informatikern oder Web-Designern. Der kurze, stürmische Konjunkturfrühling der IT-Branche untergrub also im Endeffekt weiter die Fundamente unser „Arbeitsgesellschaft“.
Krise der Arbeitsgesellschaft
Von einem „unüberbrückbaren Konflikt im Herzen der Marktwirtschaft“ spricht beispielsweise Jeremy Rifkin in einem Bericht, in dem er die globale Zunahme der Arbeitslosigkeit beschreibt. Zwischen 1998 und 2004 haben beispielsweise Großbritannien 14 und die USA 12% aller Arbeitsplätze in der Industrie verloren, so der Chef der Washingtoner Foundation on Economic Trends. Global sei die Arbeitslosenzahl von 800 Millionen in 1995 auf über eine Milliarde in 2004 gestiegen. Laut Rifkin gingen zwischen 1995 und 2002 über 31 Millionen Industriearbeitsplätze in den 20 größten Volkswirtschaften verloren, wobei jede Region der Welt einen Rückgang der Beschäftigtenzahl in der Industrie verbuchte und das in einem Zeitraum, in dem die globale Industrieproduktion um 30% anstieg.
Eine ähnliche Entwicklung prognostiziert Rifkin für den Dienstleistungssektor, wo „intelligente Technologien“ Arbeitskraft zusehends überflüssig werden lassen. „Selbst wenn die Produktion ihren Anteil am BSP halten sollte, werden wir aufgrund der Produktivitätssteigerung weiter Jobs verlieren“, erläuterte Donald Grimes, Ökonom der University of Michigan. „Es ist, als ob man gegen einen großen Gegenwind ankämpft.“ Die amerikanische Stahlindustrie hat beispielsweise in den vergangenen 20 Jahren ihre Produktion von 75 Millionen Tonnen auf 102 Millionen Tonnen steigern können, während die Anzahl der US-Stahlarbeiter von 289.000 auf 74.000 gefallen ist.
Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete über die Auswirkungen erhöhter Produktivität auf die deutsche Autowirtschaft:
„Die Krux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sein in Wolfsburg um mehr als 10% und in Zwickau sogar um mehr als 15% gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15% weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20% erzielt.“
Das bedeutet somit, dass VW, Mercedes oder Opel auch ihren Absatz entsprechend der Produktivitätsfortschritte steigern müssen der bereits erläuterte Zwang zur kapitalistischen Expansion , wollen sie keine Mitarbeiter entlassen und dieselben Gewinne generieren.
Das seit Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten beim BSP im Dauerboom befindliche China, die neue „Werkstatt der Welt“, bildet hier keine Ausnahme. Zwischen 1995 und 2002 verlor das Reich der Mitte 15 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion, das waren 15% der gesamten Industriearbeiterschaft. Das Wirtschaftsfakultät der University of Michigan bemühte sich 2004 in Kooperation mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften, die wahre Arbeitslosenquote im Reich der Mitte zu ermitteln (die offiziellen Zahlen Chinas haben in etwa den selben Wahrheitsgehalt, wie die deutschen oder amerikanischen Statistiken). In den Jahren des stürmischen chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, zwischen 1996 und 2002, stieg laut der Studie die Arbeitslosenquote in ganz China von 6,1% auf 11,1% bei den angemeldeten Stadtbewohnern, und von 4,0% auf 7,3% bei den Arbeitsmigranten.
Diese schleichende Erosion der Arbeitsgesellschaft wirkt sich verstärkend auf die Überproduktionskrise aus, die ohnehin aufgrund der oben dargelegten Widersprüche der neoliberalen Reformen bereits seit den 80ern virulent ist.
Die (vorläufige) Lösung der Arbeitslosenfrage
Dennoch scheinen die Vereinigten Staaten oberflächlich betrachtet - ihre Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen zu haben. In den USA sank während der Regentschaft der Clinton-Administration die offizielle Arbeitslosenquote auf ca. 4%. Auch in Großbritannien konnte die Regierung Blair ein ähnliches „Jobwunder“ vollbringen, wie es jetzt, kurz vor Kriseneinbruch, angeblich auch in Deutschland ausbrach, wo laut Regierungsangaben:: nur noch drei Millionen Menschen arbeitslos ein sollen. Es sei hier nur en passant bemerkt, dass solche Jubelmeldungen in Zusammenhang mit der rapide voranschreitenden Verelendung in Deutschland gebracht werden müssen.
Wie in den USA die Clinton-Administration die Arbeitslosigkeit mittels Verelendung bekämpfte und die nun auch in Deutschland sattsam bekannte Schicht der „Working Poor“ weiter etablierte, das beschrieb der renommierte US-Journalist Chris Hedges9in einer wütenden, äußerst lesenswerten Abrechnung mit den vergangenen Dekaden neoliberaler Politik in den Vereinigten Staaten.
„Clintons Sozialreform, die am 22.08.1996 ins Leben trat, vernichtete das soziale Netz der Nation. Sie warf binnen drei Jahren sechs Millionen Menschen, viele von ihnen waren alleinerziehende Mütter, aus der Unterstützung. Sie warf diese Menschen auf die Straße ohne Kinderpflege, Mietbeihilfen, und Krankenversicherung. Ganze Familien wurde fanden sich in der Krise, sie kämpften ums Überleben in Jobs, die mit sechs oder sieben Dollar die Stunde vergütet wurden, oder mit weniger als 15 000 Dollar im Jahr. Doch das waren die Glücklichen. In einigen Staaten konnte die Hälfte der aus der Sozialhilfe gedrängten Menschen keine Arbeit finden. ... Das boomende und überfüllte Gefängnissystem handhabte den Zustrom der Armen, wie auch die aufgegebenen, Geistig Kranken. Und heute sind wir mit der Schande konfrontiert, dass 2,3 Millionen unserer Bürger sich hinter Gittern befinden, die meisten wegen gewaltfreier Drogenverbrechen.“
Es war also ein amerikanisches Hartz IV Programm, erweitert um eine starke, repressive Komponente, das massiv zum „Verschwinden“ der Arbeitslosen aus den Statistiken beitrug. Diese „Working Poor“ (Arbeitenden Armen) konnten versuchen, sich mit zwei, drei Jobs gleichzeitig über Wasser zu halten, oder beim abdriften in die Kriminalität in dem privatisierten, äußerst einträglichen Gefängnissystem der USA zu einer einträglichen Geldquelle und billigen Arbeitskraft verkommen. Diese Methoden der Bekämpfung der Arbeitslosen bilden die Kehrseite der besagten Trickle Down Economy der Anhäufung von Reichtum auf an der Spitze der Einkommenspyramide korrespondierte der Ausbau eines breiten, deregulierten Dienstleistungssektors, in dem Kellner, Parkplatzeinweiser oder Einpacker im Supermarkt mit den mickrigen Brotkrümmeln vom herrschaftlichen Tisch der Superreichen abgespeist wurden.
Die Etablierung und Expansion einer relativ breiten Schicht von Vermögenden ging einher mit dem Aufbau der entsprechenden „Dienstbotengesellschaft“. An die 24% der Lohnabhängigen in den USA fielen 2004 in die Kategorie der „Working Poor“, während Mitte 2006 nahezu 10 Millionen amerikanischer Haushalte über ein Vermögen von mehr einer Million Dollar verfügten (ohne Berücksichtigung der Immobilien). Als „Working Poor“ gelten die Lohnabhängigen in den USA, deren Einkünfte zum Lebensunterhalt nicht ausreichen.
Neben Billiglohn, Zwangsarbeit und Knast kam auch die ganze Bandbreite statistischer Phantasie beim Kampf gegen die Arbeitslosen zum Einsatz. Ähnlich der deutschen Statistik, bei der inzwischen gut 1,5 Millionen Arbeitslose nicht berücksichtigt werden, ist auch die US-Arbeitslosenquote gnadenlos frisiert. Während die offiziellen Zahlen nur eine sechsprozentige Arbeitslosigkeit melden, geht das Statistik-Portal „Shadowstats.com“ vor 15% Arbeitslosen in den USA aus.
Es ist klar, das die neoliberalen Maßnahmen nicht zu einer prinzipiellen Lösung der erwähnten Krise der Arbeitsgesellschaft beitragen, sondern die Probleme nur verdrängen. Durch diese Maßnahmen entstehen keine neuen Schlüsselindustrien, die Massenbeschäftigung mitsamt massenhafter Nachfrage generieren und so eine lange kondratjewsche Konjunkturwelle tragen würden. Mit der Welfare-Reform Clintons wie mit Schröders Hartz IV werden die aus dem Arbeitsleben bereits ausgeschlossenen Menschen schikaniert und in vorsätzlich errichtete Niedriglohnsektoren gepresst, die nur vermittels ihrer geringen Löhne noch Gewinne abwerfen können. Der wachsenden Produktivität der Ökonomie begegnet die Politik mit vorsätzlicher Verelendung, um noch die (statistische) Illusion einer heilen marktwirtschaftlichen Arbeitsgesellschaft aufrecht erhalten zu können. Spätestens in dieser Periode wird auch in nahezu der gesamten Ökonomie die Sozialpartnerschaft in den Betreiben und Konzernen, die prägend für das besagte „Goldene Zeitalter“ des Nachkriegskapitalismus war, von den Unternehmern einseitig aufgekündigt die Drohung mit Betriebsverlagerungen wird zu einer effektiven Methode des Managements, um Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerungen durchzusetzen.
Die späte Clinton-Ära war also gekennzeichnet durch eine ganze Reihe scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen, die allesamt aus der besagten Krise der Arbeitsgesellschaft resultierten. Ein spekulativ aufgeheizter Boom mit Hightech-Aktien kontrastierte mit dem forcierten, repressiven Ausbau eines Niedriglohsektors, in dem inzwischen ein gutes Viertel aller erwerbsfähigen US-Bürger sein Dasein fristet. Während der kreditfinanzierte, private Konsum in den USA eine immer wichtigere Rolle als Konjunkturmotor spielt, entlassen wichtige Industriezweige entweder aufgrund von Produktivitätsfortschritten massenhaft Arbeiter, oder die Betriebe werden gleich gänzlich in Niedriglohnländer verlegt. Im Nordosten, in dem einstigen Industriellen Kernland der USA, bildet sich der „Rust Belt“ (Rostgürtel). Hierbei handelt es sich eine postindustrielle, ökonomische Einöde, in der Industriruinen die Landschaft säumen und Ganze Regionen unter Bevölkerungsschwund, Verelendung und sozialer Desintegration leiden. Das Wirtschaftsmagazin Forbes warf jüngst einen Blick in diese Krisenregion. Das Fazit ist ernüchternd:
„Das Getümmel auf dem Hypothekenmarkt verschaffte uns eine Gnadenfrist, während der wir mit weiteren Nachrichten über die Leiden des amerikanischen Rostgürtels verschont wurden. Das bedeutet aber nicht, dass die Dinge sich gebessert haben. Trotz einer Dekade nationaler Prosperität, das ehemalige Rückgrat der US-Produktion befindet sich in einer raueren Verfassung als jemals zuvor. Es ist immer noch auf der suche nach einem Weg, die längst stillgelegten Schornsteine zu ersetzen.“
Globale Defizitkreisläufe als Konjunkturmotor
Neben dem breit angelegten Ausbau eines deregulierten Niedriglohnsektors wurden von der Clinton-Administration in den 90ern weitere Maßnahmen ergriffen, um die Profitraten der US-Industrie zu sanieren. Hierzu gehört die verstärkte Förderung einer „äußeren Expansion“ der amerikanischen und westlichen Unternehmen und Konzerne, die nun im Rahmen von Freihandelsabkommen wie NAFTA ihre arbeitsintensiven Produktionsschritte in die Peripherie des Kapitalistischen Weltsystems verlegten. So entstand unweit der amerikanischen Grenze in Nordmexiko eine ganze Zone von Fabriken und Betrieben, in der US-Konzerne massenhaft Waren zu Elendslöhnen für den amerikanischen Markt herstellen lassen. Um einiges größer sind die Dimensionen bei dem Handel zwischen den USA und China, dessen Exportüberschüsse maßgeblich zur Ausformung des riesigen Handelsdefizits der Vereinigten Staaten beigetragen haben:
Schon seit den 70ern tendenziell gegeben, explodiert das Handelsdefizit der USA geradezu während der Hochphase des Hightech-Booms auf den Aktienmärkten. Auch im Fall Chinas sind es oftmals US-Konzerne, die ihre arbeitsintensiven Produktionsschritte gen China verlagern, um von den dortigen Hungerlöhnen profitieren zu können und die Waren in die USA zu exportieren. China wird zur neuen „Werkstatt der Welt“, in der geringe Löhne eine Zeit lang besonders hohe Profite garantieren. Doch diese Strategie zur Hebung der Profitrate und Überwindung der Stagnation bringt nur kurzfristig eine Besserung mit sich und reproduziert die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nur auf einem höheren Niveau, wie Walden Bello erläutert:
„Das Problem mit diesem Fluchtweg vor der Stagnation ist, dass er die Problematik der Überproduktion verschlimmert, weil er die produktiven Kapazitäten erweitert. Eine gewaltige Anzahl an produktiver Kapazität wurde in China über die letzten 25 Jahre geschaffen, und dies hatte einen drückenden Effekt auf Preise und Profite. Nicht überraschend hörten ab ca. 1997 die Profite der US-Konzerne zu wachsen auf.“
China exportiert weitaus mehr Waren, als es importiert. Der Konsum im Reich der Mitte ist natürlich viel niedriger als dessen gesamte Produktionskapazitäten. Somit entstehen die in der Stagnation mündenden Probleme erneut: Wohin mit all den produzierten Waren? Wie das brachliegende Kapital gewinnbringend investieren?
Abhilfe schafft hier auf wundersame Weise der Finanzkapitalismus, indem sich mit der Zeit Defizitkreisläufe mit den USA als deren Mittelpunkt ausbilden, die als eine Art globaler Konjunkturmotor fungieren. Die exportorientierten Länder wie China, Japan oder Deutschland liefern ihre Waren in die USA und investieren das Geld dort sogleich wieder vornehmlich in deren Finanzsektor. Somit fließen in dem größten pazifischen Defizitkreislauf die chinesischen Waren in Richtung USA und auf dem Rückweg strömt ein geisterhafter Fluss von amerikanischen „Wertpapieren“ - oder Grün bedruckten Papierzetteln, die liebevoll „Greenback“ genannt werden - in Richtung China zurück.
Die Vereinigten Staaten dienten als ein „Schwarzes Loch der Weltkonjunktur“, in dem die Überschussproduktion der exportorientierten Volkswirtschaften verschwand. An die 20 Milliarden US-Dollar müssen monatlich in den Finanzsektor der USA fließen, um deren gigantische Defizite aufrecht erhalten zu können. Das Handelsdefizit zwischen den USA und China betrug beispielsweise in 2007 über 250 Milliarden US-Dollar. Die Chinesen leihen den USA somit das Geld, damit diese weiter ihre Produkte kaufen können. Somit ist klar, dass die gute Konjunktur der letzten Jahre einfach auf Pump realisiert wurde, insbesondere durch die Verschuldung innerhalb der USA, auf deren ganzes Ausmaß wir noch zu sprechen kommen werden.
Wie dieses konjunkturelle Perpetuum Mobile, das dem spätkapitalistischen Weltsystem zu einem letzten ökonomischen Frühling verhalf, die Ausbildung der globalen Weltwirtschaftskrise beförderte, erläuterte jüngst der inzwischen abtrünnige „Vater der Reaganomics“, Paul Craig Roberts10:
„Der Mechanismus, der die amerikanische Finanzkrise weltweit verbreitete, war das massive US-Handelsdefizit. Jedes Jahr verfügen die Länder, mit denen die USA ein Handelsdefizit aufweisen, über eine Gesamtmenge von Hundertern von Milliarden Dollar. Die Länder packen diese Dollar nicht unter die Matratze. Sie investieren sie. ... Sie kaufen auch US-Finanzprodukte. Sie finanzieren das Haushaltsdefizit der US-Regierung, indem sie amerikanische Staatsanleihen (Treasury bonds) und Forderungen aufkaufen. Sie helfen, den Hypothekenmarkt der USA zu finanzieren, indem sie die Bonds von Fannie Mae and Freddie Mac erwerben. Sie kaufen auch Finanzinstrumente wie hypothekarisch besicherte Anleihen (Mortgage Backed Securities) und andere Derivate von den US-Investmentbanken und so verbreitete sich die Krise überallhin.“
Das Finanzsystem der USA erfand schlicht die „Finanzprodukte“, die im Austausch für all die in die Vereinigten Staaten fließenden Waren in alle Welt gingen. Finanziert auf Pump, waren eigentlich alle Teilnehmer an diesen Defizitkreisläufen zufrieden: Die exportierenden Länder hatten einen Absatzmarkt, die USA ihren lang anhaltenden Konsumboom. Die aus Stagnation und der Krise der Arbeitsgesellschaft resultierenden Spannungen und Widersprüche des spätkapitalistischen Weltsystems scheinen ins Nirvana des munter wuchernden Finanzsystems zu verschwinden bis zum bösen Erwachen.
Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur
Die als Antwort auf die Stagflation) der 70er Jahre umgesetzten neoliberalen Reformen brachten fundamentale Widersprüche mit sich, die eine schwindende Massennachfrage zur Folge hatten, und folglich in Überproduktion von Waren sowie Überakkumulation von Kapital zu münden drohten. Weitere Faktoren verstärkten die systemimmanenten Widersprüche: Die mit den revolutionären, durch Mikroelektronik und Informationstechnologie ausgelösten Produktivkraftsteigerungen (Kondratjwes lange Konjunkturwellen) einhergehende, fundamentale Krise der Arbeitsgesellschaft führte zu einer neoliberalen „Flucht nach vorne“: Ausbau des deregulierten Niedriglohnsektors, Verlagerung von Produktion in Schwellenländer und verstärktes Wachstum des Finanzsektors, der sich zu einer Stütze der Konjunktur entwickelt, waren die Folgen. Es bilden sich globale, durch das Finanzsystem kreditfinanzierte Defizitkreisläufe heraus, die mit verstärkter spekulativer Blasenbildung einhergingen. Die sich immer weiter verschuldenden Vereinigten Staaten nahmen als eine Art „Konjunkturpumpe“ die weltweite Überschussproduktion der expostorientierten Volkswirtschaften auf, diese reinvestierten ihre Einnahmen vor allem im US-Finanzsektor.
Die Entstehung der Immobilienspekulation in den USA und etlichen anderen Ländern (u.a. Spanien, Großbritannien) ist untrennbar mit dem Platzen der Hightech-Blase im Jahr 2000 verbunden. Die durch irreale Erwartungen in astronomische Höhen getriebenen Aktien von Internet-Startups stürzten binnen weniger Monate ein. Billionen von Dollar wurden aus der Hightech-Börse Nasdaq oder dem deutschen „Neuen Markt“ abgezogen, während die einstmals gefeierten, scheinbar so innovativen Internetunternehmen scharenweise bankrott gingen und Milliarden Dollar an Investitionen verbrannten. Der IT-Sektor konnte die überzogenen Erwartungen in ihn nicht erfüllen, denen zufolge er zu einer neuen „Schlüsseltechnologie“ würde, die eine erneute, lang anhaltende Konjunkturwelle mit sich brächte.
Mit Benzin löschen
Dennoch schrammte die US-Konjunktur zumindest laut offizieller Statistik - knapp an einer Rezession in 2001 vorbei, so das bereits 2004 bis zu 4% Wirtschaftswachstum verzeichnet wurden. Verdankt wurde dieses Kunststück dem damaligen Fed-Chef Alan Greenspan, der haargenau so reagierte, wie es der Ökonom Paul Sweezy in dem bereits zitierten Artikel The Financial Explosion“ vorhersagte. Er löschte das ökonomische Feuer der geplatzten Spekulationsblase mit noch mehr Benzin. Dieses „Löschen mit Benzin“ ging durch eine radikale, lang anhaltende Senkung der Leitzinsen vonstatten, die in der Wirtschaftsgeschichte der USA bislang ohne Beispiel ist. Zwischen 2002 und 2005 verharrte der US-Leitzins unter der Marke von 2%, wobei Greenspan diesen nach den Terroranschlägen vom 9.11.2001 sogar für über ein Jahr auf 1% senkte.
Infolge dieser Niedrigzinspolitik nahm die Kreditaufnahme in den Vereinigten Staaten rapide zu und stieg die in den Wirtschaftskreislauf eingespeiste Geldmenge immer stärker an. Diese extrem expansive Geldpolitik der US-Notenbank ermöglichte eine Geldmengenerhöhung um rund 20% zwischen 2001 und 2003. Das den Finanzmarkt überflutende „billige“ Geld führte aber nicht zu einer klassischen Inflation, sondern zu der Immobilienblase, da viele US-Bürger billige Kredite aufnahmen, um Häuser zu bauen oder zu renovieren. Es fand somit eine „Inflation der Immobilienpreise“ statt, da viele Kleinanleger, die beim Platzen der Hightech-Blase Verluste verbuchen mussten, nun auf die scheinbar „sicheren“ und „bodenständigen“ Immobilien setzten. Nach einer kurzen Phase der Beruhigung bis 2005 nahm die Inflationierung des Dollars im Verlauf immer stärker zu, bis sich die Fed ab 2006 genötigt sah, die Zahlen über die Ausweitung der Geldmenge M3 unter Verschluss zu halten.
Wie aus dieser Grafik des alternativen Statistikportals shadowstats.com ersichtlich wird, hatte die Fed gute Gründe, die genauen Angaben zum Geldmengenwachstum unter Verschluss zu halten. Es lag im gesamten Zeitraum über dem Wachstum des amerikanischen Bruttonationaleinkommens (BNE), ab 2006 explodiert es geradezu. Mit dieser immensen Inflationierung des US-Dollar wurde die Immobilienspekulation am Leben gehalten und der Zusammenbruch der Weltkonjunktur hinausgezögert, wobei sich zugleich dessen Dimension vergrößerte.
Ermöglicht wurde dieser geldpolitische Exzess durch die Aufhebung des Goldstandards des US-Dollar. Der Dollar hat nun keinen Bezug zu realen (Waren-) Werten mehr. Er ist sozusagen „sein eigenes Gold“, und die Versuchung der US-Notenbanker, den Wunschtraum der mittelalterlichen Alchemisten wahr werden zu lassen und „Gold aus dem Nichts“ zu erschaffen, war angesichts der sich zuspitzenden Krisendynamik zu groß.
Eine weitere Methode, das Feuer der platzenden Dot-Com-Blase zu löschen, bestand in der weitestgehenden Deregulierung der Finanzmärkte, mit der die bereits ausführlich geschilderten Widersprüche der spätkapitalistischen Produktionsweise in den Finanzsektor gewissermaßen „verlagert“ wurden. Solange die Finanzmärkte fröhlich weiterwucherten, traten ökonomische Stagnation, Überproduktionskrisen, Überakkumulation des Kapitals und die Krise der Arbeitsgesellschaft nicht offen hervor. Zu den wichtigsten Meilensteinen dieses Liberalisierungsprozesses der Finanzmärkte gehörte die Aufhebung des Glass-Steagall Act in 1999, mit dessen Ende auch die Trennung zwischen Kunden- und Investmentbanken beseitigt wurde. Im Jahr 2000 konnte durchgesetzt werden, den Handel mit Derivaten und „Credit Default Swaps“ (CDS) von jeglicher Kontrolle auszuschließen. 2004 fielen schließlich die weitere Hürden für die Investmentbanken, da diese nun keine Rücklagen zu bilden verpflichtet waren, um eventuelle Verluste aus ihren Geschäften decken zu können. Hier wurde der Weg für das „Leveraging“, für eine hemmungslose Verschuldung der Finanzmarktakteure frei gemacht, die im Zuge der Dollarschwemme der Fed schnell um sich griff.
Es ist wiederum der langjährige Fed-Chef Alan Greenspan, der nun für diese Politik der Deregulierung der Finanzmärkte hart kritisiert wird. Hier scheinen ein paar grundsätzliche Bemerkungen angebracht: Wir sollten uns nochmals Sweezys Metapher von dem Mann in Erinnerung rufen, der einen Tiger zu reiten versucht. Damit wollte der Ökonom das Verhältnis zwischen kapitalistischen Eliten und kapitalistischer Krisendynamik erhellen. Wie uns beispielsweise ein Blick auf die Fortune-500 Liste offenbart, gibt es viele milliardenschwere „hohe Herrn“ im kapitalistischen Weltsystem (Damen finden sich in diesem erlauchten Kreis kaum), doch es gibt keine Herrn des Kapitalismus, es gibt niemanden der das kapitalistische Weltsystem tatsächlich „von außen“ lenkt. Selbst die einflussreichsten Milliardäre und mächtigsten Politiker sind der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und ihrem Antriebsprinzip unterworfen, das in der uferlosen Geldvermehrung, in der Investition von Kapitals zur Gewinnmaximierung, besteht.
Für dieses Manöver aus Deregulierung und expansiver Geldpolitik, mit dem die Fed die weitere Kapitalreproduktion im Finanzsektor erfolgreich aufrecht erhalten konnte, etablierte sich der Begriff des The Great Bubble Transfer. Transferiert wurde die Dot-Com-Blase in die Immobilienblase. Im Verlauf dieses Manövers wurden drei Billionen US-Dollar aus den Hightech-Aktienmärkten abgezogen, und auf dem Immobilienmarkt reinvestiert.
Nochmals zusammenfassend: Diesen „Tiger“ der blinden, kapitalistischen Krisendynamik reitend, versuchten die Verantwortlichen um Greenspan, die Möglichkeiten zur Realisierung von Profiten für die Wall Street zu verbessern, und es wurde nach Wegen gesucht, das ganze System einer defizitfinanzierten Konjunktur mitsamt der globalen „Blasenökonomie“ am Laufen zu halten. Der „Bubble Transfer“ verschaffte der Weltökonomie tatsächlich noch eine Gnadenfrist von einigen Jahren. Die handelnden Akteure waren somit selber von der Krisendynamik des Kapitalismus getrieben - und sie wählten wie immer die „Flucht nach vorn“, hin zu mehr Deregulierung und verstärkter, expansiver Geldpolitik, zum „Bubble-Transfer“ in den Immobilenmarkt.
Die Immobilienblase
Die Entwicklung und der genaue Verlauf der Spekulationshausse auf dem US-Immobilienmarkt - wie auch in etlichen anderen Ländern und Regionen - sind bereits vielfach ausführlich und kompetent dargelegt worden, weswegen im Folgenden nur die wichtigsten Phasen dieser Spekulationsblase und hier insbesondere deren Verzahnung mit den Finanzmärkten - kurz skizziert werden sollen.
Zwischen dem Beginn der Spekulation im Jahr 2000 und ihrem Höhepunkt 2006 stieg der formelle Nennwert aller US-Immobilien von 110% des BNE auf über 150%. Zwischen 2000 und 2005 wuchsen die Immobilienpreise im Landesdurchschnitt um 50%, wobei zu berücksichtigen ist, dass der US-Markt zweigeteilt war: In der Provinz steht billiges Bauland praktisch unbegrenzt zur Verfügung, die Preise wurden dort von den Baukosten diktiert. Der Boom konzentrierte sich hingegen auf die US-Metropolen und die Küstenregionen des Landes, wo die Preise in den fünf Jahren um durchschnittlich 100% stiegen.
Ermuntert durch die niedrigen Zinsen und die expansive Geldpolitik der Fed nahmen immer mehr US-Bürger Hypotheken zu variablen Zinssätzen auf, die von den Hypothekenbanken dann zu frei handelbaren Wertpapieren (Mortgage Backed Securities) „verbrieft“ wurden. Die zumeist in CDOs (Collateralized debt obligations) gebündelten Hypotheken wurden von den Banken auf den Finanzmärkten weiterverkauft, um wiederum frisches Kapital für neue Hypothekenvergaben zu erhalten. Die Hypothekenbanken interessierten sich nicht allzu sehr für die Finanzkraft des Hypothekennehmers, da mit den CDOs auch das Ausfallrisiko weiterverkauft wurde. Deswegen waren auch die Subprime-Mortgages, die Hypotheken für Kunden mit schlechter Bonität, so beliebt bei den Hypothekenbanken, da diese mit höheren Zinsen (wegen des größeren Ausfallrisikos) einhergingen und somit höhere Provisionen versprachen.
Eine regelrechte Massenproduktion von Subprime-Mortgages setzte innerhalb der Finanzindustrie ein, die durch den Einsatz - von an Betrug grenzenden - Verkaufstechniken des Predatory Lending immer mehr Hypotheken absetzen konnte. Um den Wert dieser „Wertpapiere“ zu steigern, wurden diese zudem noch gegen das Ausfallrisiko versichert; dies geschah zumeist über die Credit Default Swaps (CDS). Diese von der einstmals größten Versicherung der Welt, der AIG-Gruppe, „erfundenen“ Kreditversicherungen wurden wiederum als Wertpapiere auf den Finanzmärkten gehandelt während die Ratingagenturen von den Emittenten der Wertpapiere dafür bezahlt wurden, all diesen komplexen „Finanzinstrumenten“ die beste Bewertung („Tripple A“) zu verpassen. Es waren diese „Finanzinstrumente“, die wie von Paul Craig Roberts erläutert - in die ganze Welt „exportiert“ wurden, um die globalen Defizitkreisläufe aufrecht zu erhalten.
Auch dieses Schneeballsystem funktionierte anscheinend blendend, solange die Immobilienpreise immer weiter stiegen. Doch die „Subprime-Hypotheken“ waren mit niedrigen Einstiegsraten versehen, um die finanziell schlecht gestellten Hypothektennehmer überhaupt zur Hypothekenaufnahme ködern zu können. Nach einiger Zeit stiegen die Zinsen dramatisch an, so dass immer mehr Zwangsvollstreckungen durchgeführt werden mussten, die einen immer stärkeren Druck auf die Immobilienpreise ausübten. Die Immobilienpreise brachen dann regenrecht ein und es kam schließlich ein wahrer Tsunami an Zwangsvollstreckungen, der wohl Millionen von US-Familien ihre Eigenheime entreißen wird. Dieser Prozess dauert immer noch an. Der US-Immobiliendienstleister Housing Predictor geht davon aus, dass bis 2009 an die drei Millionen Familien aufgrund der Krise ihre eigenen vier Wände verlieren werden, weil sie die Raten für die Hypotheken nicht mehr aufbringen könnten.
Der massive Ausfall von Hypotheken ließ die einstmals umjubelten Finanzinstrumente wie die CDOs oder die CDS - binnen kürzester Zeit zu Finanzschrott wandeln, der nahezu unverkäuflich blieb, etlichen Finanzinstituten die Existenz kostete und zu dem berüchtigten Credit Crunch führte. Kein Marktteilnehmer konnte mit Sicherheit wissen, welche Mengen dieser Schrottpapiere bei den anderen Finanzinstituten schlummerten, so dass die Kreditvergabe unter den Banken zum Erliegen kam. Jedes Geldhaus hortete sein Bares, da es befürchtete, die vergebenen Kredite im Fall einer Pleite des Kreditnehmers nicht mehr zurückzubekommen. Auch die Kreditvergabe an Privatkunden und vor allem an die reale Ökonomie wurde stark beschnitten.
Dem Platzen der Immobilienblase mitsamt fortdauernder Finanzkrise folgt der Zusammenbruch der realen Ökonomie. Es ist nicht nur der „Credit Crunch“, der die reale Ökonomie in den Abgrund zieht, sondern vor allem das plötzliche Ausbleiben der stimulierenden Auswirkungen der Finanzexplosion auf die Industrie. Diese Zusammenhänge sollen im kommenden Kapitel näher beleuchtet werden.
Finanzblasen-Ökonomie
Im Verlauf der an Intensität zunehmenden Immobilienspekulation bildeten sich auch die Verflechtungen zwischen Realer- und Finanzwirtschaft in einem zuvor nicht gekannten Maß aus. Die verarbeitende Industrie hing sozusagen „am Tropf“ der Finanzmärkte, deren spekulative Bewegung die private Konsumnachfrage überhaupt entstehen ließ, die zu einem immer wichtigeren Konjunkturfaktor avancierte.
Zu den stimulierenden Effekten auf die reale Ökonomie, die vom Finanzkapitalismus ausgingen, gehörten selbstverständlich die größtenteils hoch bezahlten Arbeitsplätze im Finanzsektor. Diese Entwicklung hat Sweezy bereits in den 80ern beschrieben (Die Finanzmärkte heben ab). Die Wirtschaft der Metropolen des Finanzkapitals, wie beispielsweise New York oder London, ist im Rahmen der besagten, neobliberalen Trickle-Down-Economy auf die Konsumfreude von Zehntausenden von Investmentbankern oder Börsenmaklern angewiesen, die mit ihren Ausgaben ein Vielfaches an den mies bezahlten Jobs im Dienstleistungs- oder besser gesagt „Dienstbotensektor“ generieren.
Ein Paradebeispiel für diese auf den Finanzkapitalismus ausgerichtete Arbeitsmarktstruktur ist natürlich New York: 2007 war der Finanzsektor für ein Drittel aller in dieser Ostküstenmetropole gezahlten Löhne verantwortlich, da jeder der hochbezahlten Banker und Broker an der Wall Street mit seinen Ausgaben drei weitere Jobs generierte. Bereits jetzt hat die Finanzkrise weltweit an die 150 000 dieser oftmals mit einem sechsstelligen Jahresgehalt einhergehenden Arbeitsplätze vernichtet. Zehntausende, wenn nicht gar hunderttausende Banker werden in den kommenden Monaten und Jahren noch ihre Anstellungen verlieren und den durch Lohndumping generierten „Dienstbotensektor“ ebenfalls mit in den Abgrund ziehen.
Die Immobilienblase brachte auch einen weiteren, bei der Hightech-Blase in dem Ausmaß nicht auftretenden Effekt mit sich, der zur Konjunkturbelebung führte. Im Verlauf der auf irrealen Profiterwartungen fußenden Spekulation wurden reale Häuser gebaut, so dass die Bauwirtschaft einen starken Aufschwung erlebte und aufgrund ihres arbeitsintensiven Charakters sowie ihrer Verflechtung mit vielen Zulieferindustrien auf die gesamten Ökonomie stimulierend wirkte. Eine von solch einer spekulativ angeheizten „Baukonjunktur“ dominierte ökonomische Struktur fand sich nicht nur in den Vereinigten Staaten. Die entsprechenden Immobilienblasen bildeten sich unter anderem auch in Großbritannien, Spanien und weiten Teilen Osteuropas aus. Die enorme Auswirkung dieses Baubooms auf die Gesamtökonomie der betroffenen Volkswirtschaften beschrieb der Krisentheoretiker Robert Kurz11am Beispiel Spaniens bereits 2005:
„Wenn allein die spekulative Bautätigkeit in Spanien inzwischen 18% des Bruttosozialprodukts ausmacht, kann man die Gesamtdimension der Rückkoppelung des ‚fiktiven Kapitalsauf die Realwirtschaft ermessen.“
Schließlich kommt der während der Hightech-Blase beobachtete Wealth-Effect in leicht modifizierter Form auch im Verlauf der Immobilienspekulation massiv zum Vorschein. Die beständig steigenden Preise ihrer Immobilien verführten viele Mitglieder der amerikanischen Mittelklasse dazu, Hypotheken auf ihre Häuser aufzunehmen und das so „gewonnene“ Geld für Konsumgüter aufzuwenden. Hierbei handelte es sich um Größenordnungen von mehreren hundert Milliarden Dollar, die so dem US-amerikanischen Binnenmarkt zugeführt wurden und so die globalen Defizitkreisläufe am Laufen erhielten. Das Gegenstück zu dem Aktienzocker der Hightech-Spekulation waren während der Immobilienblase die sogenannten Flipper. Diese oftmals der US-Mittelklasse angehörenden Menschen kauften während des Booms Häuser, um diese nach einer mehr oder minder gründlichen Renovierung mit Gewinn wieder veräußern zu können. Ähnlich den Gewinnen aus Aktienerlösen ging ein Teil dieser so generierten oder oftmals nur imaginierten Einkommenszuwächse als „Wealth-Effect“ in den Konsum.
Ein weiteres Merkmal der von den Finanzmärkten angetriebenen Marktwirtschaft in den USA ist folglich die immer weiter zunehmende Bedeutung des Konsums, der vor allem in den letzten Jahren für einen Großteil der wirtschaftlichen Dynamik der Weltwirtschaft verantwortlich war. So kletterten die Konsumausgaben in den USA von 62% des BNE im Jahr 1980 auf 70% zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese permanent - allen Finanzkrisen und platzenden Blasen zum Trotz - zunehmende Bedeutung des Konsums kann nicht nur auf den „Wealth Effekt“ zurückgeführt werden, da der auf „irrealen“ Gewinnerwartungen durch Aktien- oder Immobilienspekulation fußende Konsum in Zeiten einer platzenden Spekulationsblase zusammenbrechen müsste. Der „Wealth Effekt“ ist ja nichts anderes als die Illusion zunehmenden Reichtums, die schließlich wie ein Traumbild „zerplatzt“.
Auch kann die Lohnentwicklung in den USA nicht zur Erklärung dieses Phänomens herangezogen werden, da - wie bereits erwähnt - die realen Löhne zwischen New York und Los Angeles in den vergangenen Jahrzehnten nicht gestiegen sind. Inflationsbereinigt erklommen die US-Durchschnittslöhne laut dem Journalisten David Cay 1973 mit 33 000 Dollar ihren Gipfel, während es nun unter Herausrechnung aller statistischen Verzerrungen an die 29 000 Dollar sind.
Was trieb nun die obig dargelegte „Finanzblasen-Ökonomie“ mitsamt der globalen Defizitkreisläufe über solch einen langen Zeitraum „im Innersten“ an? Ein Blick auf die Verschuldung der Vereinigten Staaten lüftet den Schleier.
Inzwischen ist die Gesamtverschuldung der USA ihn wahnwitzige Dimensionen vorgerückt, die absolut keine Parallelen in der Wirtschaftsgeschichte dieser größten Volkswirtschaft der Welt aufweisen. Wie aus der Grafik ersichtlich wird, standen die Vereinigten Staaten am 31. März mit 350% ihrer jährlichen Gesamtwirtschaftsleistung in der Kreide! Im gesamten „Goldenen Zeitalter“ des Kapitalismus, also zwischen den 50ern und 70ern, bewegte sich die US-Gesamtschuld zwischen 130% und 160% des BNE. Erst ab den 80ern, in Zusammenhang mit der neoliberalen Offensive, explodiert die Verschuldung innerhalb von knappen drei Jahrzehnten auf die genannten 350%.
Um die ungeheureren Dimensionen dieses Schuldenbergs zu erfassen, genügt ein Blick auf die explodierende Verschuldung während der 1929 ausgebrochenen, bislang schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems. Diese ging 1933 mit einem Schuldenberg von 270% des BNE einher. 1929 betrug die Verschuldung noch moderate 170% des BNE, doch aufgrund der Konjunkturprogramme des „New Deal“ und des fallenden BNE im Zuge der Depression verschlechterte sich diese Relation zusehends.
Wir haben aber unsere Rezession noch vor uns und die gesamten Ausgaben zur „Stabilisierung“ der Finanzmärkte sind in der derzeitigen Verschuldung von 350% des BNE noch nicht eingerechnet. Somit dürfte dieser Wert noch viel stärker steigen. Die Gesamtverschuldung der USA wird bald mit 44 Billionen Dollar dem Weltbruttosozialprodukt entsprechen, resümierte der Sozialwissenschaftler John Bellamy Foster bereits Mitte 2007. Angesichts dieser Dimensionen zu glauben, der Finanzkrise sei dank eines „Bailouts“ von läppischen 700 Milliarden US-Dollar beizukommen, ist schlicht illusionär.
Allein im Jahr 2005, auf dem Höhepunkt der letzten Immobilienspekulation, steigerten die privaten US-Haushalte ihre Verschuldung um 11,7% auf die schwindelerregende Summe von 11,5 Billionen Dollar. Dies war die höchste Verschuldungsrate seit 1985, als die damalige Immobilienblase kurz vor dem Zusammenbruch stand und zu der erwähnten Sparkassenkrise führte. Weder die Verschuldung der US-Unternehmen (plus 7,8% auf 8,4 Billionen) noch die Staatsschulden der Vereinigten Staaten (7% plus auf ca. neun Billionen) stiegen in solch einem hohen Tempo wie die private Kreditaufnahme. Die Lohnabhängigen der USA, die seit Jahrzehnten mit stagnierenden Löhnen zu kämpfen haben, wurden so zu einer wahren Goldgrube des gesamten kapitalistischen Weltsystems. Richard Wolff12, Ökonomieprofessor an der University of Massachusetts at Amherst, erläuterte (Video) kürzlich bei einer Vorlesung die Funktionsweise dieser globalen Schuldenmaschine:
„Da die Arbeitgeber erfolgreich Lohnsteigerungen verhindern konnten, bestand der einzig gangbare Weg, die stetig wachsende Warenproduktion auch abzusetzen, in dem Verleihen des Geldes an die Arbeiter, damit diese mehr kaufen konnten. Die Unternehmen investierten ihre Profite in den Aufkauf von Wertpapieren, in denen Hypotheken von Arbeitern, Autokredite, und Kreditkartenschulden verbrieft waren. Die Besitzer dieser Sicherheiten hatten dadurch Anrecht auf Teile der monatlichen Ratenzahlungen, die die Arbeiter zu leisten hatten. Im Endeffekt zahlten sich die Extraprofite, die von den Arbeitgebern durch die weiterhin niedrigen Löhne erzielt wurden, doppelt aus, da sie diese Profite als Kredite an die Arbeiter weitergaben und hierfür nochmals saftige Zinsen kassierten. Was für ein System!“
Wie wir sehen können, gingen Lohndumping und die „Markterweiterung“ durch die Finanzbrache vermittels Schuldenexplosion Hand in Hand. Man könnte dieses System auch als eine Art „privatisierten Keynesianismus“ bezeichnen, in dem US-Bürger mit ihrem „deficit spending“ die Konjunktur stützen. Dasselbe tat im Endeffekt der amerikanische Staat, dessen Verschuldung ebenfalls längst astronomische Höhen erreicht hat. Global war dieses System deswegen, weil dieser schuldenfinanzierte Nachfrageboom im Zentrum der globalen Defizitkreisläufe stand, die auch die Volkswirtschaften in Südostasien oder Europa über Wasser hielten. Es ist dieses auf Pump betriebene, weltwirtschaftliche Perpetuum Mobile, dass im Zentrum der „Finanzblasen-Ökonomie“ stand im Zuge der Finanzkrise zum Erliegen kam.
Der derzeit die Gemüter erhitzenden Autokrise in Deutschland und den USA werden mit Sicherheit noch weitere Verwerfungen folgen: Denn nun sind die avancierten Volkswirtschaften wieder den erwähnten, in einer massiven Überproduktionskrise sich äußernden Widersprüchen der spätkapitalistischen Produktionsweise (der Krise der Arbeitsgesellschaft) direkt ausgesetzt, die vormals mittels Schuldenbau im Finanzsektor „verschwunden“ waren. Deutschlands Industrie profitierte übrigens als Magersüchtiger Exportweltmeister, von der globalen Defizitkonjunktur im besonderen Ausmaß. Harzt IV diente ja gerade der Zurichtung der deutschen Gesellschaft an die Interessen der deutschen Industrie, deren Exportoffensive im Rahmen der globalen Defizitkreisläufe eine komplementäre Funktion zum steigenden Handelsdefizit der USA einnahm.
Es sei noch erwähnt, dass diese im Zuge des sich durchsetzenden Finanzkapitalismus entstandene Finanzblasen-Ökonomie seit der Deregulierung in den 80ern zu ca. 100 mehr oder weniger schwerwiegenden Krisen und Spekulationen rund um den Globus geführt hat. Neben den bereits erwähnten Verwerfungen zeitigten die mexikanische Finanzkrise von 1994/95, die Asienkrise 1997/98, der russische Finanzkrach von 1998 und der Zusammenbruch Argentiniens 2002 besonders verehrende Folgen für die betroffenen Volkswirtschaften. Im übrigen sind die vorläufig fallenden Rohstoff und Energiepreise auf den Zusammenbruch einer Spekulation auf dem Warenterminmärkten zurückzuführen, die unverzüglich an die platzende Immobilienblase einsetzte.
Im Land der Fantastillionen - Die Ausmaße des Finanzkapitalismus
Die globale Defizitkonjunktur lebte, wie beschrieben, als Anhängsel der explosionsartig wachsenden Finanzmärkte, sie bildete sozusagen deren Wurmfortsatz. Dieses oberflächlich betrachtet unwahrscheinliche Verhältnis zwischen der globalen, realen Wirtschaft und der Finanzsphäre war nur aufgrund der astronomischen Dimensionen möglich, in welche die permanent wuchernden und mutierenden Finanzmärkte vorstießen.
Doch bevor wir uns an eine Quantifizierung der Finanzkapitalismus machen, sollte noch die innere Struktur dieser Expansionsbewegung des Finanzkapitals geklärt werden. Wie schon erwähnt, werden reale, die Form von Waren annehmende Werte nur vermittels der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft erzeugt, so dass innerhalb der Finanzbranche eigentlich kein neues Kapital, keine neuen Werte erzeugt werden können es handelt sich um ein Nullsummenspiel, bei dem der Reichtum den Besitzer wechseln kann, aber kein neuer entsteht. Woher also die Expansion der Finanzmärkte?
Die Finanzmärkte brauchen immer neuen „Brennstoff“ an frischem Kapital, um ihr Wachstum, um die besagte „Finanzexplosion“ aufrecht erhalten zu können. Im Zuge der neolibaralen Reformen strömte seit den 1980er Jahren Kapital aus der realen Wirtschaft in den Finanzsektor, da dort höhere Gewinne realisiert werden konnten. Später, ab der Popularisierung der Börsenspekulation in den 1990ern, investierte auch die Mittelklasse ihre Ersparnisse zunehmend in Aktien und Wertpapieren. Die wachsende soziale Spaltung in nahezu allen Volkswirtschaften führte zu einer raschen Vermehrung wohlhabender „Investoren“, die sich ebenfalls auf den Finanzmärkten engagierten. Die Privatisierung der Sozialsysteme verschaffte der Finanzbranche einen weiteren Wachstumsschub, da nun beispielsweise die Rentenfonds im Finanzsektor auf Renditejagd gingen. Schließlich bildete die Verschuldung von Privathaushalten den Unternehmen und dem Staat eine weitere Einnahmequelle für das Finanzkapital.
Voraussetzung dieser massiven Verschuldung war eine Politik niedriger Zinsen, die Kreditvergaben erleichterte. Im Endeffekt war es also gerade die im vorletzten Kapitel („Löschen mit Benzin“) geschilderte expansive Geldpolitik der Fed, die als der wichtigste Brennstoff der Finanzmärkte fungierte. Durch niedrige Zinsen und der damit einhergehenden Erweiterung der Geldmenge wurde anscheinend „Reichtum per Knopfdruck“, allein durch Betätigung der Notenpressen, geschaffen, da der Dollar durch die Aufhebung der Goldbindung zu „seinem eigenen Gold“ wurde.
Es wurde so eine creatio ex nihilo, eine „Erschaffung aus dem Nichts“ von rein fiktiven da durch keine Wertschöpfung in realer Produktion gedeckten Kapital vollführt. Diese Voodoo-Ökonomie flankierte die galoppierende Verschuldung und führte maßgeblich ähnlich der Inflation der Immobilienpreise zu einer Inflation von Aktienpreisen und Wertpapieren aller Art. Die Ausmaße dieses aufgeblähten, finanzkapitalistischen Wasserkopfes, der auf der realen Ökonomie fußte und diese am Leben erhielt, sind in der Tat „astronomisch“, wie es der Philosoph István Mészáros13bei einer Veranstaltung jüngst ausdrückte:
„Wie können wir uns all diese Billionen vorstellen? Eine Billion Jahre, das ist schon das hundertfache des Alters unseres Universums. Das zeigt doch, worüber wir hier sprechen, wir sprechen hier nicht über die Währung einer Bananenrepublik, sondern über den allmächtigen US-Dollar, über die bevorzugte Währung aller wichtigen Transaktionen. Wie viel spekulativen Geldes bewegt sich nun um den Globus? Laut einer Analyse der Mitsubishi UFJ Asset Management Gruppe beträgt das Ausmaß der realen Ökonomie, in der Waren und Dienstleistungen gehandelt werden, 48,1 Billionen Dollar. Auf der anderen Seite, beträgt die Größe der globalen Finanzökonomie, die totale Menge an Aktien, Sicherheiten und Depositien, 151,8 Billionen US-Dollar. Die Finanzwirtschaft ist so auf mehr als die dreifache Größe der realen Ökonomie angeschwollen. ... Die Krise von 1929 ist relativ klein im Vergleich zu dem, was wir heute haben.“
Tatsächlich scheint es geboten, die eigentlich unvorstellbaren Dimensionen des Finanzkapitalismus am besten in Relation zur realen Ökonomie erfassen. Das Verhältnis zwischen dem Gesamtumsatz der US-Finanzmärkte und dem Bruttonationaleinkommen der Vereinigten Staaten ist in diesem Zusammenhang besonders erhellend für die in den letzten Dekaden voranschreitende, „finanzielle Explosion“. So entsprach das amerikanische BNE in 1960 noch 66,2% aller Umsätze der US-Finanzmärkte. In 1970 fiel dieser Anteil auf 37,8%, in 1980 15,7% und ein Jahrzehnt später waren es nur noch 2,6%. Im Jahr 2000 betrug die Summe aller in einem Jahr hergestellten Güter und Dienstleistungen der größten Volkswirtschaft der Welt gerade einmal 1,9% der Umsätze der US-Finanzmärkte! Damit wird deutlich, wie sehr auch die spekulative Bewegung im Zuge des Finanzkapitalismus zunahm. Bei diesen Relationen ist es kein Wunder, dass der „Wealth Effect“, die „paar Cent pro Dollar“ fiktiver Wertsteigerung, die in die reale Ökonomie gingen, diese auch am Laufen erhalten konnte. Die mit der Kreation und Verbreitung von Derivaten einhergehende Explosion zog sich durch alle Bereiche des Finanzsektors, wie der Soziologe John Bellamy Foster14erläuterte:
„Der durchschnittliche tägliche Umsatz bei Devisentransaktionen steig von 570 Milliarden Dollar in 1989 auf 2,7 Billionen in 2006. Seit 2001 wuchs der globale Markt für Derivate (der globale Markt für Instrumente zum Risikotransfer) um über 100% jährlich. Von relativ geringer Bedeutung zu beginn des Millennium, blähte sich der totale Nennwert der global gehandelten Kreditderivate auf 26 Billionen im ersten Halbjahr 2006 auf.“
Nicht anders sieht es bei den im Finanzsektor und in der realen Ökonomie realisierten Gewinnen . Auch hier sind die Profite des Finanzkapitals mit 3% des BNE längst höher als im produzierenden Gewerbe, dessen Gewinne bei 2% liegen. Folgende Grafik verdeutlicht den langfristigen Anstieg des Anteils der im Finanzsektor erzielten Gewinne an den Gesamtprofiten in den USA, die im Zuge des sich entfaltenden Finanzkapitalismus von ca. 17% in 1985 auf nahezu 40% ansteigen:
Ein wichtiger Hebel, mit dem solch stürmisch steigende Profite realisieren worden sind, bezeichnet man im Banker-Neusprech als „Leverage“. Damit ist der Grad an Verschuldung gemeint, mit dem ein Marktteilnehmer operiert. Diese weit verbreitete Praxis des „Leverage“ hatte ebenfalls die expansive Geldpolitik der Fed zu Voraussetzung, die nicht nur die Verschuldung der Privathaushalte beförderte, sondern auch innerhalb der Finanzbranche selber zum exzessiven Einsatz von Fremdkapital führte. Dank der Dollarflut konnten beispielsweise die Private-Equity-Firmen 2006 das 15-Fache des eigenen Kapitaleinsatzes mobilisieren.
Die Verschuldung konnte selbst bei Marktschwergewichten regelrecht absurde Dimensionen annehmen, wie István Mészáros am Beispiel der Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac illustriert. Demnach betrug das Eigenkapital beider Giganten des Immobilienmarktes 83,2 Milliarden US-Dollar gegen Ende 2007, wohingegen die Schulden, Garantien und sonstigen Verpflichtungen dieser Unternehmen sich auf 5,2 Billionen Dollar beliefen. Dies ist eine Relation zwischen Eigenkapital und Schulden von eins zu 65 bei einem der wichtigsten und größten Hypothekenfinanzierer der Welt!
Anhand dieser Relationen müsste klar werden, welche Mengen an „heißer Luft“, an von den Notenbanken vermittels Dollarflut generierten „fiktiven Kapital“ in das Finanzsystem injiziert wurden. So absurd es scheint es war diese „heiße Luft“ allseitiger ausufernder Verschuldung, die das marode, spätkapitalistische Weltsystem am Laufen erhielt.
Exkurs: Unsere Potemkinschen Dörfer
Irgendwann reichten selbst die größten Injektionen an frischgedruckten US-Dollar nicht mehr aus, um die Fassade eines dynamischen kapitalistischen Systems aufrecht zu erhalten, so dass mit fortschreitender Finanzialisierung die Versuchung zunahm, der grauen Realität statistisch auf die Sprünge zu helfen. Wir haben schon die statistischen Verzerrungen der deutschen und amerikanischen Arbeitslosenquote kennengelernt, wie auch das zu einem Staatsgeheimnis avancierte Geldmengenwachstum in den USA. Das Statistik-Portal shadowstats.com zeigt aber noch die Manipulation bei der Inflationsrate, sowie bei dem Wirtschaftswachstum auf.
Das Bild eines kerngesunden Kapitalismus verflüchtigt sich ganz schnell, sobald diese alternativen Daten in Betracht gezogen werden. Stattdessen scheint die bereits diskutierte These von der Stagnation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften an Plausibilität zu gewinnen.
In Deutschland sieht es im Übrigen nicht viel besser aus, da die „gefühlte Inflation“ - die in Verkehrung dieses orwellschen Begriffs eigentlich als reale Inflation gelten müsste immer oberhalb der „offiziellen“ Inflationsrate liegt. Die Schönfärberei stieß mit Ausbruch der Finanzkrise in absurde Dimensionen vor, wie die kürzlich beschlossenen Änderungen bei den Bilanzregeln für die Bankenbranche beweisen. Künftig dürfen Banken und Versicherungen ihre Wertpapiere zum Kaufpreis verbuchen, und nicht zum aktuellen Marktpreis. Ein Teilnehmer des Welt-Forums15kommentierte diese „Reform“ der Bilanzierungsregeln treffend:
„Was heute noch strafbar ist und zur Nichtigkeit der Bilanzen führt (§§ 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG, 331 Nr. 1 HGB), nämlich die Überbewertung von Aktivposten, soll in Zukunft das Heil bringen? Nichts anderes ist nämlich die Bewertung zu Kaufkursen, wenn die Marktpreise darunter liegen. Oder ist es sinnvoll, dass ein Aktionär die Aktie der Deutschen Bank heute mit EUR 120, wie er die Aktie gekauft hat, bewertet, anstatt mit dem heutigen Börsenkurs von 30? Diese neuen Regelungen färben lediglich in drastischer Weise schön und werden dazu führen, dass längst bankrotte Unternehmen weitermachen dürfen. Marode Unternehmen werden an ihren Bilanzen nicht mehr zu erkennen sein. Damit ist der Grundstein für die nächste Katastrophe in zehn Jahren gelegt.“
Solche desperaten „Reformen“ erinnern frappierend an die Endphase der staatssozialistischen Länder, wie etwa der DDR oder der Sowjetunion. Deren offizielle Statistiken wiesen auch selbst noch 1985 unaufhörliche Wirtschaftserfolge aus, während die Volkswirtschaften tatsächlich in Stagnation versanken.
Zusammenfassung und Ausblick
Wir sind nun in der Lage, die anfangs gestellten Fragen nach den Ursachen der kommenden Weltwirtschaftskrise zu beantworten. Die Deregulierung der Finanzmärkte beförderte tatsächlich die „finanzielle Explosion“ der letzten Jahrzehnte, doch haben gerade diese wild wuchernden Finanzmärkte die von Stagnation bedrohte reale Ökonomie am Laufen erhalten. Die „Gier“ von Spekulanten nach dem höchstmöglichen Profit anzuprangern, ist ungefähr so sinnvoll, wie sich über den Gestank eines Misthaufens zu beschweren beides liegt in der Natur der Sache. Die Jagd nach dem höchsten Profit, nach der Maximierung von Gewinnen vermittels Investitionen in Produktion oder Spekulation, bildet das innerste Wesen, den Selbstzweck des kapitalistischen Systems.
Die Eigenschaft des kapitalistischen Systems, die Kritiker wie Befürworter gleichermaßen fasziniert, ist die permanente, konkurrenzgetriebene Umwälzung der technischen Voraussetzungen der Produktion, der unaufhörliche Fortschritt der Produktionsmittel. Derjenige Unternehmer, der die neueste Technik in der Produktion anwenden kann, erwirtschaftet auch die höchsten Gewinne, indem mit weniger Menschen in kürzerer Zeit viel mehr Produkte hergestellt werden.
Diese permanent voranschreitende „Revolution der Produktivkräfte“ bringt den Abbau von Beschäftigung in einem gegebenen Industriezweig mit sich. Solange neue Industriezweige weitere Beschäftigung kreieren, bleibt das Gesamtsystem im Gleichgewicht. Doch spätestens seit den 80ern löst die technische Revolution in der Mikroelektronik und Informationstechnik einen derartigen Produktivitätsschub aus, dass die Rechnung nun nicht mehr aufgeht. Automatisierung und Rationalisierung in der gesamten Wirtschaft machen viel mehr Arbeitsplätze überflüssig, als in der IT-Branche entstehen. „Autos kaufen keine Autos.“ Dies Henry Ford zugeschriebene Zitat, das eine nachfrageorientierte, keynesianische Politik impliziert, kann auf die heutige Situation nur bedingt angewendet werden, in der die Industriearbeiterschaft rapide sinkt und das Heer der Prekären und Arbeitslosen von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus anschwillt. Technischer Fortschritt der Produktivkräfte, die potentielle Grundlage einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung aller Gesellschaftsmitglieder, wandelt sich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen zu einer Geißel der Menschheit, die Elend, Hunger, Marginalisierung bewirkt.
Somit entstehen Berge an unverkäuflichen Waren (Überproduktion), Unmengen an brachliegendem Kapital (Überakkumulation) und die ab den 70ern auftauchende Massenarbeitslosigkeit. Auf anscheinend magische Weise löst der Finanzkapitalismus mitsamt der sich etablierenden Blasenökonomie dieses spätkapitalistische Dilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen das überschüssige Kapital auf, die während der Boomphasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegen für kaufkräftige aber auch fiktive, kreditfinanzierte Nachfrage. Die globalen Defizitkreisläufe, mit den USA als einem sich immer weiter verschuldenden Zentrum, nehmen die Überschussproduktion von exportorientierten Ländern wie China, Japan oder auch Deutschland auf.
Mit dem Zusammenbruch der Immobilienblase kommen auch diese defizitgetriebenen, globalen Konjunkturkreisläufe zum Stillstand. Sie sollten angesichts der astronomischen Verschuldung, auf der sie im Endeffekt basierten, auch nicht mehr wieder in Gang gesetzt werden. Der Abbau des US-Schuldenberges scheint eigentlich nur durch eine Hyperinflation machbar. Was jetzt stattfindet, ist nichts weniger als eine fundamentale, strukturelle Krise des Zentrums des kapitalistischen Weltsystems. Die Industrie und die produzierende Wirtschaft sind auf sich selbst zurückgeworfen, da die stimulierenden Effekte des Finanzkapitalismus ausbleiben. Eine Überproduktionskrise von gigantischem Ausmaß kündigt sich an.
Ein „Zurück“ zum bereits in den 70ern in der Krise befindlichen Keynesianismus, zu massiven Konjunkturprogrammen, wird ebenso wirkungslos bleiben, wie eine erneute Regulierung der Finanzmärkte. Genauso könnte man einem Krebskranken mit Hustenbonbons zu heilen versuchen. Der immer weiter fortschreitende wissenschaftlich-technische Fortschritt macht immer mehr Menschen in der Reproduktion unserer Gesellschaft „überflüssig“, er führt zu der „Krise der Arbeitsgesellschaft“.
Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein beschrieb kürzlich diese „Ära des Übergangs“ und wagte einen Ausblick auf die künftige Entwicklung des Weltsystems:
„Die unmittelbaren Konsequenzen bestehen aus starken chaotischen Turbulenzen, die unser Weltsystem im Moment durchlebt und noch für vielleicht 20 bis 50 weitere Jahre durchleben wird. Während alle in die Richtung drücken, die sie als die derzeit vorteilhafteste ansehen, wird eine neue Ordnung aus dem Chaos auftauchen, die entlang eines oder zweier verschiedener Pfade verlaufen wird.
Wir können mit Zuversicht behaupten, dass das derzeitige System nicht überleben kann. Was wir nicht vorhersagen können, ist die Ordnung, die gewählt wird, um es zu ersetzen, weil dies ein Ergebnis von nahezu unendlichen individuellen Anstrengungen sein wird. Aber früher oder später wird ein neues System installiert werden. Es wird nicht das kapitalistische System sein, und es könnte auch viel schlimmer werden (sogar noch polarisierender und hierarchischer), oder auch viel besser (relativ demokratisch und relativ egalitär) als das derzeitige System. Die Auswahl eines neuen Systems ist der wichtigste globale politische Kampf unseres Zeitalters.“
Eine Gnadenfrist für das in Agonie liegende, kapitalistische Weltsystem könnte noch das Heraufziehen einer neuen Schlüsseltechnologie bringen, die Massenbeschäftigung generieren und eine „lange Konjunkturwelle“ im Sinne Kondratjews initiieren würde. Die klügsten US-Politiker sehen diese Möglichkeit in dem forcierten Ausbau regenerativer Energien, der mit einer umfassenden, arbeitsintensiven Transformation der gesamten energetischen Basis der Vereinigten Staaten einhergehen würde.
Anmerkungen
1Fülberth: Kleine Geschichte des Kapitalismus, S. 234, 235
2www.aworldtowin.net/about/HouseOfCards.html
3www.huffingtonpost.com
4Chris Harmann in: www.isj.org.uk
5Sweezy: siehe www.findarticles.com
6Walden Bello siehe: www.monthlyreview.org
7www.federalreserve.gov
8Wallerstein siehe: www.monthlyreview.org
9www.alternet.org
10www.counterpunch.com
11Kurz: Das Weltkapital
12video.google.com
13en.wikipedia.org
14www.monthlyreview.org
15www.welt.de