Material zur Veranstaltung der subversiven Kantine zu Frankreich, Quellen: telepolis: Frankreich und der Ausnahmezustand; www.labournet.de/internationales/fr/junge.html; www.labournet.de/internationales/fr/niputes-anh.html; liberation.fr/page.php?Article=337828; paris.indymedia.org/article.php3?id_article=46169
Der Ausnahmezustand
Während sich die französischen Trabantenstädte allmählichen beruhigten, wiederholte der französische Innenminister Sarkozy am 11.11.2005 noch einmal seine Äußerungen: „Ce sont des voyous, des racailles, je persiste et je signe.“ („Das sind Gauner, Gesocks, das bestätige und unterschreibe ich.“) Die Zahl angezündeter Autos war in den Nächten davor erheblich zurückgegangen.
Der Polizeipräfekt von Paris hat für das Wochenende von Samstag 10 Uhr bis Sonntag Morgen 8 Uhr ein Versammlungsverbot verhängt. Im Internet und über SMS seien seit mehreren Tagen Aufrufe zirkuliert, sich am 12. November „in Paris und zu ‚gewalttätigen Aktionen‘ zu versammeln“. Das Versammlungsverbot werde gemäß den seit Mittwoch in Kraft getretenen Ausnahmegesetzen verhängt, um Störungen der öffentlichen Ordnung und Gefahren für die Bürger abzuwehren.
Wer das Verbot verletzte, mußte mit einer Gefängnisstrafe zwischen acht Wochen und zwei Monaten und/oder einer Geldstrafe von 3.750 Euro rechnen. Verboten waren alle Versammlungen, die eine „Störung der Ordnung auf den Straßen oder an öffentlichen Plätzen provozieren oder unterstützen“. In Paris hatte in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag die Zahl der Brandanschläge im Gegensatz zum übrigen Land wieder leicht zugenommen. Um das Versammlungsverbot durchzusetzen, wurden am Wochenende 3.000 Polizisten zusätzlich eingesetzt. Die öffentlichen Verkehrsmittel, die in die Innenstadt führen, wurden überwacht. Seit Donnerstag waren der Verkauf und die Mitnahme von Benzin in Kanistern verboten und alle Drogerien, Supermärkte und Handwerkergeschäfte waren aufgefordert, alle „verdächtigen“ Verkäufe von Spiritus oder anderen brennbaren Flüssigkeiten der Polizei zu melden.
Für das Stade de France, in dem am Samstagabend das Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Deutschland stattfand, wurde eine verstärkte Überwachung angeordnet. Das Stadion befindet sich beim Département Seine-Saint-Denis. Hier hatten die Unruhen begonnen.
Betrachtet man die Situation näher, so fällt auf, dass die örtliche Ausgangssperre nur in Bereichen galt, wo sich die Unruhen ohnehin kaum oder nur schwach bemerkbar gemacht hatten, mit Ausnahme von Evreux in der Normandie und von Rouen, wo die Ausgangssperre in den Vorstädten ebenfalls gilt. Im Großraum Paris gab es bisher überhaupt keine Ausgangssperre, auch nicht im Bezirk Seine-Saint Denis, von wo die Unruhen ursprünglich ausgegangen waren.
Die Präfekten, die dem Innenminister unterstehen, aber einen Ermessensspielraum besitzen, hatten in 5 französischen Départements örtliche Ausgangssperren verhängt, jeweils für bestimmte No-Go-Areas. 5 Départements gegenüber 26, in denen Ereignisse im Zusammenhang mit den Unruhen stattgefunden hatten. Das erste betroffene Département war jenes rund um das nordfranzösische Amiens. Dort war es weitgehend ruhig geblieben. Es kam auch nicht zu Straßenkämpfen. Der dortige Präfekt gilt jedoch als übereifriger Sarkozy-Anhänger, und der Bürgermeister der Bezirkshauptstadt Amiens ist der Christdemokrat Gilles de Robien, der gleichzeitig als Bildungsminister in der Regierung von Dominique de Villepin sitzt und also wohl eine Vorzugsbehandlung für „seine“ Stadt geltend machen konnte.
Das Département mit der höchsten Anzahl von Kommunen, in denen die Ausgangssperre galt, war der Bezirk um Nizza, Cannes, Antibes. In diesen Städten an der Côte d‘Azur gibt es kaum ausgedehnte Armutsviertel, in Nizza gibt es zwei Kleine-Leute-Stadtteile, hier fanden erst recht keine Unruhen statt. Jedoch dient diese Region, insbesondere Nizza, seit einigen Jahren als „Versuchslabor“ für besonders repressive Sicherheitspolitiken.
Nizzas Bürgermeister Jacques Peyrat ist ein ehemaliger persönlicher Freund von Jean-Marie Le Pen und Kampfkumpan in den Kolonialkriegen der 50er Jahren. Er war schon kurz nach seiner Wahl Mitte der neunziger Jahre einer der Vorreiter bei den kommunalen „Anti-Bettler-Erlassen“, die vor allem in der Hochsaison Bettelnden, Obdachlosen und anderen „störenden Elementen“ den Aufenthalt in den jeweiligen Städten verboten. In Nizza beauftragte die Stadtregierung im Sommer ihre städtische Polizei damit, die unerwünschten „Vagabunden“ aufzugreifen, die dann zum Teil 15 Kilometer entfernt im Gebirge des Küstenhinterlands ausgesetzt wurden.
Solche Erlasse wurden in den neunziger Jahren noch häufig durch die Verwaltungsgerichte als rechtswidrige Akte der Kommunalverwaltung annulliert. Doch die örtlichen „Laboratorien“ schienen sich bewährt zu haben: Einige dieser Bestimmungen, die störende Elemente im Stadtbild definieren, wurden 2002 in das „Gesetz zur inneren Sicherheit“ von Innenminister Nicolas Sarkozy übernommen. Demnach kann zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung verurteilt werden, wer „aggressiv bettelt“, etwa wer dabei Hunde mitführt oder zu mehreren auftritt. Die Richter zögern allerdings noch, von solchen Bestimmungen Gebrauch zu machen. Dennoch wurde mit ihrer Einführung eine neue Schwelle polizeilicher Krisenverwaltung im Hinblick auf die sozialen Erscheinungen in dieser Gesellschaft überschritten, und der Sicherheitsapparat wird kaum bereitwillig wieder hinter diese Schwelle „zurückfallen“. Ähnliches ist wohl im Zusammenhang mit dem neuen Ausnahmezustand zu mutmaßen.
Eines der Stadtviertel, die von den neuen Bestimmungen zur Ausgangssperre praktisch betroffen sind und in denen tatsächlich Unruhen stattgefunden hatten, ist das Quartier de la Madeleine in Evreux. Dort manifestierte sich die Ausgangssperre am Mittwoch Abend um 22 Uhr in Gestalt von Absperrgittern, die an den Eingängen zu dem Stadtteil mit 20.000 Einwohnern heruntergelassen wurden: Der gesamte Wohnbezirk wurde abgeriegelt, als ginge es darum, einen verseuchten Ort oder einen Krankheitsherd unter Quarantäne zu setzen. Weder Jugendliche noch Erwachsene durften hinein oder heraus. Um die Durchsetzung des Beschlusses zu gewährleisten, wurden die Polizeikräfte entsprechend verstärkt.
Der Oberbürgermeister von Evreux ist der Parlamentspräsident in der Nationalversammlung, Jean-Louis Debré (UMP), der in der konservativen Regierung von Alain Juppé (1995 bis 97) Innenminister gewesen war.
Gesamtgesellschaftlich scheint die Maßnahme de facto noch eher populär zu sein. In Teilen der Bevölkerung der Trabantenstädte wird diese Maßnahme aber, angesichts ihres historischen Hintergrunds, als Diskriminierung in entsprechender Tradition interpretiert. So erklärt der 30jährige Djamel: „Siehst Du, worauf es hinausläuft? Im Fernsehen haben sie gesagt, dass diese Bestimmungen zum letzten Mal beim Algerienkrieg angewendet worden sind. In den Hochhaussiedlungen gibt es einen Haufen Araber. Die Algerier sind Araber. Das bedeutet, dass in diesem Land ein bougnoule (Anmerkung: rassistisches Schimpfwort für Araber) immer als solcher behandelt werden wird. Das ist ein Beweis, dass man uns noch immer nicht als richtige Franzosen betrachtet.“
Double peine – Doppelstrafe
120 der Verhafteten sollen in nächster Zeit abgeschoben werden.
Neben den lokalen Ausgangssperren hat Innenminister Nicolas Sarkozy neue repressive Maßnahmen angekündigt. Bei den Unruhen aufgegriffene Einwanderer, „selbst wenn sie einen legalen Aufenthaltstitel haben“, sollen unverzüglich abgeschoben werden. Das ist, außer bei „illegalen“ Einwanderern, juristisch normalerweise nicht zulässig, soll aber durch den Begriff der „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ als Ausnahmetatbestand gerechtfertigt werden.
Konkret wurden bei den Unruhen bisher insgesamt 1.830 Personen festgenommen. Oftmals wurden einfach alle Umstehenden aufgegriffen und erst hinterher, im polizeilichen Gewahrsam, nach zu belastenden und nicht konkret zu belastenden Individuen „sortiert“. Für 273 Personen, meist junge Erwachsene oder Jugendliche, darunter 56 Minderjährige, wurde der polizeiliche Gewahrsam verlängert, um sie im Eilverfahren, bei dem die Angeklagten kein Anrecht auf Prozessvorbereitung außerhalb der Haft haben, dem Richter vorzuführen. Die konkreten Umstände dieser Verfahren sind unterdessen höchst umstritten, tatsächlich beruhen viele Verurteilungen allem Anschein nach allein auf Polizeizeugen sowie auf politischen Vorgaben. Der Justizminister Pascal Clément: „Ich habe die Staatsanwaltschaften angewiesen, im Zusammenhang mit Delikten während der Unruhen systematisch Haftstrafen ohne Bewährung zu verlangen.“ Bisher fielen 205 Urteile, davon 173 mit Haftstrafen ohne Bewährung, bis zu einem Jahr.
Von den rund 1.800 Festgenommenen haben 120 nicht die französische Staatsbürgerschaft: Am 3.2. wurde der erste nach Mali abgeschoben, die 119 anderen sollen folgen, sobald sie ihre Strafe abgesessen haben.
Dabei kann es jedoch mitunter von einem Zufall abhängen, wer französischer Staatsbürger ist und wer nicht: Das französische Staatsangehörigkeitsrecht ist zwar auf dem „Boden-“ und nicht auf dem „Blutsrecht“ aufgebaut, so dass in Frankreich geborene Einwandererkinder der zweiten oder dritten Generation zu Franzosen und Französinnen werden. Seit den regressiven Gesetzesänderungen des früheren Innenministers Pasqua kann die französische Staatsangehörigkeit, auf die in Frankreich geborene Kinder ein Anrecht haben, nicht mehr im Kindesalter verliehen werden.
Nach derzeitigem Stand der Gesetze – die „Pasqua-Bestimmungen“ wurden 1998, unter einer sozialdemokratischen Regierung, ein wenig aufgelockert, aber nicht insgesamt zurückgenommen – kann die Übernahme der französischen Staatsbürgerschaft ab 13 auf Antrag (der Eltern im Namen des Jugendlichen) oder im Alter von 18 Jahren automatisch erfolgen. Daher kann es für 16- oder 17-Jährige, die in Frankreich geboren sind und ihr gesamtes Leben dort verbrachten, eine Frage des Zufalls sein, ob sie (bereits) im juristischen Sinne Franzosen sind oder nicht.
Nicolas Sarkozy hatte im Frühjahr 2003 die Abschaffung der so genannten „Doppelstrafe“ angekündigt. Sie bestand darin, dass ein in Frankreich aufgrund einer Straftat verurteilter Ausländer – ebenso wie jeder für dasselbe Delikt verurteilte Franzose – seine Haftstrafe absitzen musste, aber nach deren Verbüßung zusätzlich noch abgeschoben werden konnte. Diese „Doppelstrafe“ konnte in Frankreich lebenden Ausländer bei der Begehung von Straftaten widerfahren, die auf einer Liste standen, welche immer länger und länger wurde und am Ende über 200 Verbrechen und Vergehen umfasste.
Dies schuf oft in breiten Gesellschaftskreisen als absurd betrachtete Situationen, wenn etwa Personen in angebliche „Heimatländer“ abgeschoben werden sollten, die sie seit 30 oder 40 Jahren nicht gesehen, weil sie etwa im zarten Kindesalter als Dreijährige mit ihren Eltern nach Frankreich gekommen waren. Zudem erwies die „Doppelstrafe“ sich auch aus staatlicher Sicht als ineffektiv, da sie so ausweglose Situationen schuf – ein tunesischer Staatsangehöriger, der seit 40 Jahren ausschließlich in Frankreich lebt und niemandem mehr im Herkunftsland seiner Familie kennt, wird dort entweder nicht bleiben oder notgedrungen wieder zum Straftäter werden –, dass die Betroffenen mit allen Mitteln in Frankreich zu bleiben versuchten und sich versteckten oder aber nach kurzer Zeit illegal wieder einreisten. Dies galt vor allem für ausländische Staatsbürger, die mit einem französischen Ehepartner oder einer inländischen Ehepartnerin verheiratet waren und mit ihnen gemeinsame Kinder hatte.
Sarkozy benutzte diese auch in Teilen der bürgerlichen Rechten als nicht mehr hinnehmbar betrachtete Situation, um 2003 einen politischen Überraschungscoup zu landen. Denn bis dahin hatte er vor allem als repressiv orientierter Sicherheitspolitiker von sich reden gemacht und rechts sowie teilweise rechtsaußen Applaus geerntet. Nunmehr konnte er aber die Sozialdemokraten quasi links übertrumpfen, denn während deren Regierungsperiode hatten zwar Hungerstreiks gegen die „double peine“ (1998) und Menschenrechtsorganisationen immer wieder ihre Abschaffung gefordert – aber die Regierung unter Lionel Jospin war, aus Angst vor politischem Druck von rechts, auf diese Forderungen nie eingegangen und hatte allenfalls Einzelfalllösungen bei besonders dramatischen Familiensituationen zugebilligt.
De facto wurde die „Doppelstrafe“ aber durch das im November 2003 verabschiedete neue Ausländergesetz aus dem Hause Sarkozy, das auf anderen Feldern stark repressive Züge trägt, nicht abgeschafft, aber ihr Anwendungsbereich wurde stark eingeschränkt. Wer im Alter von jünger als 13 nach Frankreich kam oder dort „intensive familiäre Bindungen“ hat, ist demnach kein Kandidat für die „Doppelstrafe“, sondern wird wie jeder andere inländische Straftäter auch behandelt: Er sitzt seine Strafe ab.
Auf die Vorwürfe des Bruchs seines 2003 abgegeben Versprechens antwortete Sarkozy, es handele sich gar nicht um eine Wiederaufnahme der „Doppelstrafe“. Denn letztere gehe mit einer strafrechtlichen Verurteilung einher. Laut Ministerium bedeutet diese Maßnahme nicht die Rückkehr der Doppelstrafe, denn die Ausländer werden auch ohne Verurteilung abgeschoben werden können. Dies bedeutet freilich eine eklatante Verschärfung, zumal eine nicht rechtskräftig verurteilte Person nach geltendem rechtsstaatlichen Prinzip als unschuldig gelten muss und offenkundig nicht allen Aufgegriffenen auch tatsächlich Straftaten vorgeworfen werden können.
Die extreme Rechte hat derzeit Mühe, im Hinblick auf konkrete Maßnahmen die Initiativen der Regierung noch zu toppen, wenngleich die rechtsextreme Rhetorik (die von „ethnischem Bürgerkrieg“ fabuliert) singulär bleibt. Auch die alte Forderung des FN, „ausländische Straftäter auszuweisen“, scheint für ein Überholen von rechts ungeeignet. Die Forderung nach Entsenden der Armee in die Trabantenstädte, die vor 10 Jahren durch Le Pen aufgebracht wurde, will die Regierung aber bisher nicht erfüllen. Die Logik einer Ausgangssperre könnte freilich grundsätzlich einen solchen Einsatz der bewaffneten Streitkräfte nach sich ziehen. Denn eine tatsächliche praktische Umsetzung dieses Beschlusses würde im Falle von zunehmenden Konfrontationen auch erfordern, dass die Staatsmacht die Einwohner der Krisenzonen tatsächlich am Verlassen ihrer Häuser hindert. Dabei dürfte die Polizei, im Falle einer anhaltenden Eskalation, schnell überfordert sein.
Arbeits(losigkeits)-Perspektiven
Neben den repressiven Beschlüssen kündigte Dominique de Villepin am Dienstag und Mittwoch auch einige „soziale Begleitmaßnahmen“ an. So sollen die öffentlichen Finanzierungshilfen für die associations (Bürgerinitiativen, Vereine) in den sozialen Brennpunkten wiederhergestellt werden. Sie waren durch Sparmaßnahmen in diesem Jahr um fast 30 Prozent zusammengestrichen worden waren. Dadurch wurden viele kulturelle Maßnahmen, Aktivitäten im Bereich der Jugend- und der Frauenarbeit und andere Tätigkeiten, die wieder teilweise kollektive Sozialbeziehungen in der zerrütteten und anonymisierten Gesellschaft der Trabantenstädte herstellen sollen, verunmöglicht.
Außerdem soll die bis zum Alter von 16 Jahren geltende gesetzliche Schulpflicht verkürzt werden, um Jugendlichen zu erlauben, bereits ab 14 Jahren in ein Lehrverhältnis einzutreten. Die Lehrergewerkschaften äußerten sich äußerst kritisch dazu. So erklärte die mit Abstand größte Gewerkschaft im Bildungswesen, die FSU, eine solche Maßnahme drohe „die Jugendlichen noch tiefer in die Arbeitslosigkeit hinein zu drücken“, da sie so auf Dauer gering qualifiziert blieben. In Frankreich besteht kein zweigliedriges Schulsystem und höhere berufliche Qualifikationsgrade setzen ein höheres allgemeines Schulbildungsniveau voraus. Im übrigen löse die Maßnahme nicht das zentrale Problem der Diskriminierungen gegen Migrantenkinder und Banlieuebewohner auf dem Arbeitsmarkt. Die Lehrergewerkschaft UNSA-Education sprach von „einer frühen schulischen und beruflichen Segregation jetzt schon ab 14 Jahren“.
Die Regierung beruft sich hingegen darauf, ihr Beschluss erlaube es, sich um die wachsende Zahl von „Schulversagern“ und -abbrechern zu kümmern. Damit spricht sie ein reales Problem an, auf das auch viele Lehrkräfte hinweisen, die das bisherige System mit einer Schulpflicht bis 16 Jahre plus eingliedrigem Schulsystem bis zum Eintritt in die Oberstufe als auf hehren, aber sehr theoretischen Ansprüchen basierend ansehen. Die Bildungsgewerkschaften antworten darauf aber, dass endlich mehr für das marode und an gravierenden Mängeln leidende Schulsystem in den sozialen Brennpunkten getan werden müsse.
Im März 1998 hatte die Lehrerschaft von Seine-Saint Denis mehrere Wochen lang für ausreichende Mittel gestreikt. Ab Ende März 2003 war es wiederum die Lehrerschaft in jenem Département, die zur „Lokomotive“ des flächendeckenden Ausstands im Bildungswesens wurde, der sechs Wochen später auch im übrigen Frankreich begann und sich u.a. gegen die von der konservativen Regierung geplante „Dezentralisierung“ im Bildungswesen richtete. Von dieser „Dezentralisierung“, die mit der Abwälzung der Verantwortung vom Zentralstaat auf die – wirtschaftlich sehr ungleich gestellten – Départements und Regionen gleichbedeutend war, befürchteten die Beschäftigten im Bildungswesen eine weitere dramatische Verschärfung der Ungleichheiten, auf Kosten der Schulen in sozialen Brennpunkten. Da der mehrmonatige Streik im Frühsommer 2003 im Wesentlichen mit einer Niederlage endete, konnten die gefürchteten Entwicklungen nur teilweise aufgehalten werden.
Premierminister Dominique de Villepin verkündete, seine Regierung werde zusätzliche wirtschaftliche „Freizonen“ in den Banlieues einrichten. Diese „Freizonen“ eröffnen denjenigen Unternehmen, die sich dort ansiedeln und mindestens ein Drittel dort lebender Arbeitskräfte einstellen, die Option auf weitgehende Steuerbefreiung und Reduzierung von Sozialabgaben. Bisher gibt es bereits 85 solcher Sonderzonen, die Schaffung von 15 weiteren sind angekündigt.
Seitens des Arbeitgeberverbands MEDEF haben Unternehmer erklärt, dieser Beschluss werde sie nicht zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in den Trabantenstädten bewegen. Dem stehe ein „Imageproblem“ für die Unternehmen, die sich dort ansiedeln, aber auch die schlechte Transportanbindung der besonders heruntergekommenen Trabantenstadtsiedlungen entgegen.
Schließlich hat Premierminister de Villepin auch noch angekündigt, dass alle jungen Nichtbeschäftigten aus den Trabantenstädten, die dies wünschen oder beantragen, in den kommenden drei Monaten zu Gesprächen bei den Arbeitsämtern (ANPE) eingeladen würden. Bisher können junge Leute, die noch nie einen Arbeitsvertrag besaßen, sich nicht bei den Arbeitsämtern einschreiben und vor dem Alter von 25 Jahren auch keine Sozialhilfe beantragen. Ihnen bleibt daher nur, in den vier Wänden der Eltern zu bleiben oder aber sich in der „Parallelökonomie“ an illegalen Aktivitäten zu versuchen. De Villepin verkündete, diesen Jugendlichen aus den „sozialen Problemvierteln“ würden nunmehr bei den Arbeitsämtern „Arbeits- oder Ausbildungsvorschläge“ zuteil werden.
Richtig wohl war der französischen Regierung wohl nicht, als sie das so genannte „Gesetz zur Chancengleichheit“ verabschieden ließ. Das Gesetzespaket war als Antwort der offiziellen Politik auf die Probleme der Jugend in den Trabantenstädten, die während der Banlieue-Riots vom November 2005 zu Tage traten, präsentiert worden. Doch einige der präsentierten „Lösungen“ sind sehr dazu angetan, die Probleme noch zu verschärfen.
Das gilt vor allem für den am heftigsten umstrittenen Artikel, der den so genannten „Ersteinstellungsvertrag“ (CPE) einführt. Es handelt sich um nichts anderes als die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes für unter 26jährige Beschäftigte, während der ersten zwei Jahre nach Antritt eines neuen Arbeitsverhältnisses.
Die Bestimmung über die Schaffung des CPE wurde um zwei Uhr nachts in erster Lesung durch die Nationalversammlung angenommen. Während der Debatte hatten die sozialdemokratische und parteikommunistische Parlaments-Linksopposition, aber auch die christdemokratische UDF zahlreiche Änderungsanträge eingebracht. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung waren die Oppositionsabgeordneten gar nicht mehr anwesend: Einen solchen „Gewaltmarsch“ hatten sie nicht erwartet. Doch die regierenden Kahlschlags-Konservativen hatten es eilig, und sie wollten das gesamte Gesetzespaket noch unbedingt vor den Parlamentsferien durch die Nationalversammlung peitschen – dafür hatten sie extra eine Sondersitzung der Abgeordneten bis einschließlich Sonntag anberaumt.
Aber angesichts der Mühen, den Artikel zur Schaffung des CPE durchzudrücken, griff der regierende Premierminister Dominique de Villepin am Nachmittag des folgenden Tages zu einem Sonderinstrument: dem Verfassungsartikel 49-3.
Dieses autoritäre Instrument verknüpft eine strittige Sachfrage mit der Vertrauensfrage des Regierungschefs – und erlaubt es, jede Sachdebatte im Parlament zu unterbinden. So brachte er am folgenden Donnerstag den gesamten Rest des Gesetzespakets, ohne nähere inhaltliche Debatte, durch die „erste Kammer“ des Parlaments. Auch die Senatsdebatte wurde unterbunden, so dass im Prinzip mit einem Inkrafttreten des Gesetzespakets schon Anfang März zu rechnen ist.
Die wichtigsten sonstigen Bestimmungen des Maßnahmenbündels sehen die Bestrafung von Familienangehörigen straffälliger Jugendlicher durch Sperrung von Sozialleistungen sowie die Absenkung des Mindestalters für den Eintritt in eine Berufslehre von bisher 16 auf 14 Jahre vor. Ab diesem Alter, 14, wird künftig auch Nachtarbeit zulässig sein, wie eine extra verabschiedete Sonderregelung vorsieht. Angeblich handelt es sich bei der Neuregelung der Altersbestimmungen zur Lehre um eine Maßnahme, die es den arbeits- und zukunftslosen Jugendlichen besonders in den Banlieues erlauben soll, in Lohn & Brot zu kommen. Namentlich Schulabbrechern sollte sie eine Perspektive anbieten. Doch bereits im November 2005 hatten die Unternehmerverbände klar gestellt, dass man gerade „die turbulentesten Elemente“ nicht einstellen werde. (Ein kapitalistisches Unternehmen ist doch nicht die Heilsarmee, und auch keine Erziehungsanstalt...) Für den „harten Kern“ der so genannten Schulversager dürfte die neue Bestimmung nicht viel ändern, wohl aber für die übrigen Jugendlichen vor allem migrantischer Herkunft, die zukünftig möglicherweise bereits im Alter von 12 oder 13 Jahren in den Schulen auf ein Abstellgleis in Richtung auf den extrem frühzeitigen Eintritt in eine Lehre – „orientiert“ werden. In Frankreich muss der „Ausbilder“ im Rahmen der Berufslehre selbst keine nachweisbare Ausbildung, und damit also gesicherte und übertragbare Kenntnisse vorweisen können – dieses Erfordernis hat der konservative Regierungschef Edouard Balladur im Jahr 1994 abgeschafft. In vielen Fällen dürfte es sich also faktisch um äußerst schlecht bezahlte (der gesetzliche Mindestlohn SMIC darf für Minderjährige in der Berufsausbildungsphase stark unterschritten werden, mit gesetzlich definierten Abschlägen) und wenig Kenntnisse vermittelnde, faktische „Praktika“ handeln. „Nun kehren Sie doch mal den Hof...“
Eine weitere Bestimmung des Gesetzespakets sieht vor, offizielle Experimente in mehreren Pilot-Regionen mit dem „anonymen Lebenslauf“ als Antidiskriminierungsinstrument zuzulassen. Etwa im Raum Lyon soll in Bälde der „CV anonyme“, der – in der ersten Runde der Bewerbung – den Namen (und damit die Herkunft) sowie die Adresse des/r Bewerbers/in nicht erkennen lässt, ausgetestet werden. Dies soll die Jobchancen der Jugendlichen aus den Trabantenstädten, besonders denen migrantischer Herkunft, deren Lebensläufe bisher oftmals bereits aufgrund von Namen und Wohnort von vornherein aussortiert werden, erhöhen. Ob diese Regelung wirklich etwas verändern, oder aber das Problem nur in die späteren Stadien des Bewertungsverfahrens – etwa das Vorstellungsgespräch – verlagern wird, bleibt abzuwarten. Sicherlich soll sie dazu dienen, einer aus den Banlieues kommenden (schmalen) Bildungselite den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. „Immerhin“ hat die Regierung durch die Verabschiedung einer solchen Maßnahme im Rahmen ihres Gesetzespakets, implizit, das objektive Problem anerkannt: Soziale Perspektivlosigkeit und Diskriminierung(en). Während sie zugleich auf allen anderen Ebenen alles möglich dazu beisteuert, dass die Probleme sich ansonsten noch verschärfen dürften.
CPE: Nur eine neue Stufe in der allgemeinen Flexibilisierungs-offensive
Dieselbe Flexibilisierungsoption wie mit dem CPE für junge Beschäftigte wurde bereits mit dem „Neueinstellungsvertrag“ (CNE), im August 2005, mitten in der Sommerpause eingeführt und für die Beschäftigten kleiner und mittlerer Unternehmen (bis 20 Mitarbeiter/innen) in die Tat umgesetzt. Auch für die „Senioren“ ab 57 gibt es seit wenigen Monaten einen neuen prekären Vertragstypus, eine spezifische Art von Zeitvertrag, die nicht an die bisher üblichen Zeitgrenzen befristeter Verträge gebunden ist. All diese Vorschriften dienen nur dazu, das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“ immer enger einzukreisen, und auf einen immer schmaler werdenden Kern von Beschäftigungsverhältnissen zu konzentrieren.
Jetzt wird die Prekarisierung auf die jungen Beschäftigten ausgedehnt, angeblich um zusätzliche Beschäftigung für die arbeits- und perspektivlose Jugend zu schaffen. In Wirklichkeit werden die Betroffenen dadurch in allererster Linie der Willkür ihrer Patrons ausgeliefert – so sollte ein jederzeit ohne Angaben von Gründen kündbarer Beschäftigter wohl besser nicht versuchen, den Respekt der offiziell geltenden Arbeitszeitregelungen durchzusetzen.
Der mit einem unter 26jährigen Lohnabhängigen geschlossene CPE kann, während der ersten zwei Jahre, ohne Angaben von Rechtfertigungsgründen durch den Arbeitgeber aufgekündigt werden. Allerdings sind dabei gewisse Formen bzw. Fristen einzuhalten, anders als bei der Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses in der Probezeit. Innerhalb des ersten Monats genügt eine Benachrichtigung des Beschäftigten per eingeschriebenem (oder direkt ausgehändigtem) Brief, danach bestehen zwei Wochen Kündigungsfrist, ab 6 Monaten Beschäftigungsdauer ist es dann ein Monat Vorwarnfrist. Das Bestehen einer solchen De-facto-Kündigungsfrist belegt wohl bereits hinreichend, dass es sich in Wirklichkeit um eine Kündigung handelt, die nur ihren Namen nicht ausspricht, da die Betroffenen behandelt werden, als ob sie sich während einer Probezeit befänden.
Die zweijährige Periode permanenter Prekarität, die durch die Sonderbestimmungen des CPE geschaffen wird, heißt denn auch gar nicht „Probezeit“, sondern „Periode der Konsolidierung des Beschäftigungsverhältnisses“. George Orwell lässt grüßen .
Ferner gehört zum CPE, dass der Arbeitgeber während der ersten drei Jahre von der Pflicht zur Zahlung von Sozialabgaben entbunden wird. Als Zuckerguss wird extra noch die Aufnahmeregelung für die Arbeitslosenversicherung abgeändert: Statt erst nach 6monatigem Bestehen eines Lohnarbeitsverhältnisses sollen die CPE- (und CNE-)Beschäftigten bereits nach vier Monaten ein Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung haben. Aber was für eine Unterstützung: Bricht das Arbeitsverhältnis nach 4 oder 5 Monaten auseinander, so erhält der oder die Betroffene zwei Monate lang großzügige 460 Euro pro Monat!
Nach bisherigen Erkenntnissen über den anderen, neu geschaffenen permanent-prekären Vertragstypus (den CNE) hat dessen Existenz bisher vor allem zur Konsequenz, dass er andere Typen von Arbeitsverträgen verdrängt. Laut gewerkschaftlichen Angaben hatten 41 Prozent der Arbeitgeber, die seit August 2005 einen CNE abschlossen, ohnehin vor, jemanden per unbefristetem Vertrag einzustellen. 32 Prozent planten demnach die Einstellung einer Arbeitskraft per befristetem Arbeitsvertrag (CDD), der zwar zeitlich limitiert, aber im Gegensatz zu CPE und CNE unter normalen Umständen nicht vor dem vereinbarten Ablaufdatum kündbar ist. Bei weiteren 25% der Abschlüsse von CNE handelt es sich demnach nur um von vornherein zeitlich befristete Vertretungen kranker oder aus sonstigen Gründen abwesender Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz – dafür hätten ansonsten normalerweise befristete Verträge oder auch Zeitarbeitsverträge zur Verfügung gestanden. Unter gegebenen Umständen lässt sich also wohl zweifelsohne feststellen: Die neuen permanent-prekären Verträge schaffen kaum oder keine neue Beschäftigung; aber sie verdrängen bisherige, (stärker oder andersartig) regulierte Arbeitsverhältnisse.
Proteste
Dagegen gibt es Proteste. Jedenfalls mehr, als es gegen die Einführung des damals CNE getauften, permanent-prekären Vertrags für die Neueingestellten in kleineren Betrieben gab: Damals, im Hochsommer, gab es genau null Demonstrationen oder Straßenproteste dagegen. (Allerdings hatten die Gewerkschaftsverbände schriftlich, und auch durch Einreichen von Klagen – die aber durch die Justiz abgewiesen wurden , dagegen Position bezogen.) Dies belegt zumindest, dass die Jugend bisher noch nicht dermaßen subjektiv in die Defensive gedrängt erscheint wie viele ältere, unter der Prekarisierung leidende Lohnabhängige.
Am 7. Februar demonstrierten frankreichweit rund 300.000 Jugendliche und Gewerkschafter dagegen, 30.000 bis 40.000 Personen in Paris. Überall war eine deutliche Überzahl junger DemonstrantInnen, also Betroffenen zu verzeichnen.
Eine Woche später fanden Proteste vor allem von Oberschülern und Studierenden statt. Das Haupthindernis dabei sind die 14tägigen Winter-Schulferien zwischen 4. Februar und 6. März.
Streiks in den Fakultäten von Rennes und Toulouse: Die Hauptforderungen der streikenden Studierenden betreffen dabei laufende „Studienreformen“ bzw. die Verringerung der Einstellungsmöglichkeiten für werdende Sportlehrer/innen um 50% (aufgrund von Einsparungsmaßnahmen in den Schulen). Aber in beiden Fällen nahmen die streikenden StudentInnen die Forderung nach sofortiger Abschaffung des CPE in ihren Forderungskatalog auf. Dadurch versuchen sie auch eine Brücke zu Oberschülern und anderen „unruhigen“ Elementen der Jugend zu schlagen. An der Hochschule blockierten allmorgendlich 500 bis 1.000 Personen die Zugänge zur Universität, und an Vollversammlungen nahmen immerhin 2.000 bis 2.500 Personen teil.
Aktionen
„Nadelstichaktionen“ in Rennes – spektakulärste: der Start eines Flugzeugs Lannion – Paris wurde um über eine Stunde verzögert. Demonstrationen von Oberschüler/innen und Studierenden, in Grenoble, Lyon, Nantes, Rennes...
In Lannion blockierten 400 jüngere Leute die Eingänge zur Unterpräfektur (juristische Vertretung der Pariser Zentralregierung), und in Brest besetzten 400 Jugendliche und junge Erwachsene einen McDonalds – nicht aus Antiamerikanismus, sondern als „Symbol prekärer Arbeitsverhältnisse“ (die Arbeit bei McDonalds ist im studentischen Milieu und bei jungen Leuten aus Migrantenfamilien verbreitet!). In Tours besetzten 150 jüngere Leute die regionale Arbeitsdirektion.
Am 7. März, also nach dem frankreichweiten Ende sämtlicher Urlaubsperioden (an Schulen und Hochschulen), ist wieder ein landesweiter „Aktionstag“ mit den Gewerkschaften geplant.
Der französischen Sozialdemokratie kam der ursprüngliche Aktionstag vom 7. Februar gerade recht, da sie am 8. Februar zum so genannten „Gipfel der Linken“ einlud, einem Treffen der etablierten Linksparteien (ohne radikale Linke) auf höherer Ebene für eine neue „Linkskoalition“ für die Wahlen von 2007, von der Sozialdemokratie über die Grünen bis zur Führung der KP. Ein bisschen Aufmerksamkeit durch die Straßenproteste, die sich für die offizielle „Opposition“ einspannen lassen könnte – mit Ausnahme der, freilich ziemlich aussichtsreichen, Anwärterin auf die Präsidentschaftskandidatur Ségolène Royal waren alle anderen (männlichen) Bewerber um die PS-Kandidatur für 2007 auf der Pariser Demo vom 7.2. anwesend, oft nur kurz. Ab jetzt sollen sich aber bitte alle Veränderungswilligen nur noch um die Wahlen kümmern.
Zur Mobilisierung und zum
Umfang der Demonstrationen
Rund die Hälfte der Demonstrierenden waren Jugendliche und jüngere Leute, die unter Oberschülern und an den Universitäten mobilisiert worden waren. Die übrigen Teilnehmer waren durch die Gewerkschaften mobilisiert worden waren; frankreichweit hatten insbesondere die Gewerkschaftsbünde CGT, Force Ouvrière (FO) und die christliche CFTC sowie die Bildungsgewerkschaft FSU zur Teilnahme an den Straßenproteste aufgerufen. Neben ihnen waren die Studentengewerkschaft UNEF und die Oberschüler/innen-Union UNL landesweit Aufrufer. Auch außerhalb der unmittelbar betroffenen Altersgruppe wird die neue Arbeitsgesetzgebung nur als ein weiterer Meilenstein zur generellen Prekarisierung sämtlicher Arbeitsverträge – durch Abschaffung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses und/oder des Kündigungsschutzes – betrachtet.
Aber gleichzeitig versuchen die Führungen der großen Gewerkschaftsorganisationen zu verhindern, daß die jetzt anlaufende Mobilisierung aus dem Ruder läuft. Die sozialdemokratische Parlamentsopposition wiederum hatte sich, 14 Monate vor den kommenden Präsidentschaftswahlen, denen ein Monat später die Parlamentswahlen folgen, mal wieder ein bisschen „wir opponieren“ gespielt und sich um eine starke Präsenz in der Pariser Demonstration bemüht. 7 von 8 sozialistischen Bewerber(inne)n um die Präsidentschaftskandidatur des Parti Socialiste (PS), nahmen wenigstens für ein Stündchen an der Demonstration in der französischen Hauptstadt teil.
Zu den herausragenden Punkten gehört, dass die „Gewerkschaftsunion der parlamentarischen Mitarbeiter“, der die Angestellten der Abgeordneten aller Couleur – Stenotypisten, Sekretärinnen, wissenschaftliche Mitarbeiter – angehören, durch Teilnahme an der Pariser Demo oder auch durch Tragen eines Streikarmbands (in den Räumen der Nationalversammlung) ihre Opposition gegen das debattierte Gesetzesprojekt manifestierte. Die Union fordert alle Abgeordneten auf, sich freiwillig selbst zu verpflichten, auch in Zukunft keinen CPE bzw. „Ersteinstellungs-Vertrag“ für junge Mitarbeiter/innen zu unterzeichnen.
Den Kritikern, die befürchten, es handle sich bei den neuen, spezifischen Vertragstypen möglicherweise nur um Vorstufen zu einer generellen Abschaffung des Kündigungsschutzes und/oder Schleifung des Arbeitsverhältnisses, gab Premier Dominique de Villepin jedenfalls am 26. Januar 2006 implizit Recht. Nachdem er zuvor Pläne für eine Ausweitung der Verträge ohne Kündigungsschutz (jedenfalls während zweier Jahre) auf andere Situationen bzw. Beschäftigungsverhältnisse noch dementiert hatte, berichtete die Pariser Abendzeitung „Le Monde“ in ihrer Ausgabe vom 26. Januar, das Amt des Premierministers plane „eine grundlegende Überarbeitung des Arbeitsrechts“ und „eine Neudefinition des CDI (= unbefristeten Arbeitsvertrags“): „Alles ist offen“ - nämlich das Wettrennen zwischen den Varianten (erstens) einer Ausweitung der „differenzierten Verträge“ und eines „Einheitsvertrags ( contrat unique ), der den bisherigen befristeten Vertrag (CDD) und unbefristeten Vertrag (CDI) miteinander fusioniert“.
Die angebotene „Lösung“, das angebliche Schaffen von Beschäftigung durch eine radikale Prekarisierung jüngerer Beschäftigter, die damit während der ersten zwei Jahre ihres Arbeitsverhältnisses null Chancen haben werden, die Einhaltung ihrer gesetzlichen Arbeitszeiten einzufordern und durchzusetzen, wird die Lage noch weiter verschlimmern. Die vom CPE Betroffenen werden enorme Probleme haben, etwa einen mittelfristigen Kredit – etwa zur Begründung einer eigenen Wohnung oder einer Familie – aufzunehmen oder auch nur eine Wohnung anzumieten. Ein Vertreter eines nationalen Zusammenschlusses von Wohnungsmaklern wird etwa in der Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“ (vom 1. Februar) mit den Worten zitiert, von den Beschäftigten in CNE und CPE – deren Arbeitsverträge ja bereits morgen schon wieder flöten sein können – werde systematisch ein Garant oder Bürge gefordert, ohne den sie kein Mietverhältnis eingehen können. Die Regierung behauptet, durch eine Mietgarantie der öffentlichen Hand werde Abhilfe geschaffen doch deren maximale Laufzeit beträgt 18 Monate und liegt damit also unter dem Zeitraum absoluter Unsicherheit für die CPE-Beschäftigten über die Fortdauer ihres Arbeitsverhältnisses.
Bewegungen
In Frankreich haben StudentInnen die Bewegung „Praktikanten in Wut“ gegründet. Sie kämpfen für gerechten Lohn, faire Beschäftigung, einen klaren Praktikantenstatus im Arbeitsrecht.
Katy ist heute 32 und hat nach dem Abitur insgesamt zehn Jahre Studium absolviert mit einem Management-Abschluss an einer Pariser Elite-Uni, einem Master an der Akademie der Schönen Künste. Sie hat also eine ziemlich hochwertige Ausbildung und sucht trotzdem seit eineinhalb Jahren vergeblich nach einem Job. „Ich muss feststellen, dass heute die Zahl der Praktikumsangebote ins Uferlose steigt und die der Jobangebote in den Keller geht“, erzählt sie. „Ich selbst habe mittlerweile acht Praktika absolviert, Posten in verantwortungsvoller Position, Arbeit, für die ich null Euro Lohn bekam.“
Lange dachte Katy, das Problem der unbezahlten Praktika betreffe nur ihren Bereich, den Kultursektor oder auch die Verlagsarbeit. Doch seit Ende des Sommers wird sie von den Zeugenaussagen von Schicksalsgenossen auf ihrem neu gegründeten Blog geradezu überrollt. Betroffen seien auch die Bereiche Werbung und Personalführung. „Aus dem Bank- und Finanzwesen kommen viele Mitglieder unserer Protestbewegung her, ebenso wie aus den Rechtswissenschaften, aus dem Consulting-Bereich. In unseren Reihen befinden sich sogar Informatik-Ingenieure“.
Hinzu kämen der öffentliche Dienst, Dienstleistungsunternehmen, der Versandhandel. Ebenso wie all die anderen nutzen Börsen-Firmen, die eigentlich schwarze Zahlen schreiben, die Praktikanten als kostenlose Arbeitnehmer aus, mit denen man umspringen kann, wie man will. Die Praktikanten in Wut kämpfen nun für ein Gesetzesprojekt: Im Arbeitsrecht soll der Praktikantenstatus verankert und genau definiert werden. Für ihren Einsatz wollen sie Lohn. Der Arbeitgeber soll die Sozialversicherung übernehmen, die Länge der Praktika auf einige Monate beschränkt bleiben und im selben Betrieb nicht beliebig fortschreibbar sein.
Sans papiers
Hausbrände und Diskriminierung töten in Paris –Die Opfer sind schuld. Bekämpft werden müssen die Armen, nicht die Armut.
Das Feuer tötete mehrfach im letzten Jahr in Paris. Am 15. April 2005 brannte ein „möbliertes Hotel“, in dem Immigrantenfamilien jahrelang wohnten, in unmittelbarer Nähe der Pariser Oper und der benachbarten Prachtboulevards aus. Der Brand forderte 24 Tote. Nichts hat sich jedoch seitdem an der Gefahrensituation geändert, in der frankreichweit annähernd 2 Millionen „mal logés“ (Schlecht Behauste) leben.
In der Nacht vom 25. auf den 26. August brannte ein Wohnhaus am Boulevard Vincent-Auriol im südlichen Zentrum von Paris. Der Brand forderte 17 Tote, darunter 14 Kinder; Es handelte sich um ein sechsstöckiges Wohnhaus, in dem die Stadt Paris rund 150 Personen, überwiegend afrikanischer Herkunft, „provisorisch“ untergebracht hatte. Das Provisorium dauerte für viele Familien seit 1991. Damals hatten, beginnend am 13. Juli, dem Vorabend des französischen Nationalfeiertags, rund 300 Leute (vorwiegend maghrebinische und schwarzafrikanische Einwanderer) die Riesenbaustelle der jetzigen Bibliothèque Nationale de France besetzt.
Vier Monate lang lebten sie dort in Zelten, unterstützt von Wohnrauminitiativen wie dem kämpferischen DAL („Recht auf eine Wohnung“). Am Ende waren die Leute „vorübergehend“ in Notunterkünften, die der Stadt Paris gehörten, untergebracht worden. Ein Jahr später fand übrigens erneut eine noch größere Besetzung statt, 1.400 Menschen – meistens afrikanische Familien – campierten in ausrangierten US-Armeezelten vor dem Schloss von Vincennes. Diesmal ließ der Pariser Polizeipräfekt die Zeltstadt jedoch, Ende Oktober 1992, gewaltsam auflösen.
Die Protestierenden waren in beiden Fällen fast ausschließlich „legale“ Immigranten, die beispielsweise bei der öffentlichen Müllabfuhr beschäftigt waren. Sie waren jedoch, wegen Mietrückständen oder wegen Abriss ihrer bisherigen Wohnungen, aus ihren Häusern geflogen. Und sie fanden schlicht keine neuen Vermieter: Weil sie schwarz sind und aufgrund flagranter Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, oder auch einfach deswegen, weil sie „zu arm“ waren. Diese Ausschlussmechanismen haben sich seitdem nur noch drastisch verschärft: Potenzielle Vermieter verlangen oftmals als „Sicherheit“, dass ihre MieterInnen vier oder fünfmal die Summe der Monatsmiete als Gehalt verdienen. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: 1954 bestand die Bevölkerung von Paris noch zu 65 Prozent aus Arbeitern und Angestellten sowie kleinen Handwerkern, zu 35 Prozent aus Unternehmern, Freiberuflern und leitenden Angestellten. Bereits 1990 hatten sich diese Proportionen umgekehrt. Und derzeit spitzt sich diese Tendenz weiterhin drastisch zu: In den Jahren 2001 bis 2004 kletterten die Mieten in Frankreich im Durchschnitt um 14,22 Prozent, für das Jahr 2005 wird ein Anstieg um weitere 4,7 Prozent prognostiziert. Wer arm ist, hat also schlechte Karten in Paris, wo die Eliten der halben Welt mittlerweile um die prestigereichsten Quadratmeter konkurrieren – und wer noch dazu beispielsweise schwarz ist, hat doppelt schlechte Karten. Bisher waren einzelne ärmere innerstädtische Wohnviertel, die seit langem von Immigranten bewohnt waren, davon ausgenommen. Doch in diesen machen sich inzwischen die „Bobos“ (Bourgeois-Bohèmes) breit, jüngere Besserverdienende mit linksliberalem Touch und einem Hang zur Sozialromantik. Letztere schätzen diese Viertel und lassen gleichzeitig die Mieten auch dort explodieren.
Das „provisorisch“ belegte Wohnhaus am Boulevard Vincent-Auriol, nur einige hundert Meter von der 1996 eröffneten Nationalbibliothek entfernt, hatte lockere Bretter und teilweise löcherige Decken. Bei Regen tropfte das Wasser in das Gebäude hinein. Elektrische Drähte hingen lose in der Gegend herum. Anlässlich der Bauarbeiten in der unmittelbarer Nachbarschaft, wo rund um die Bibliothek in den letzten Jahren ein neues, „hypermodernes“ und extrem hässliches Büro- und Geschäftsviertel entstanden ist und weiter wächst, vibrierte und erzitterte das gesamte Haus. Der Brand von Ende August war aber kein Unfall. Kurz nach dem Brand hat die Pariser Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Unbekannt wegen Brandstiftung eröffnet, denn nach den ersten Ergebnissen der polizeilichen Ermittlungen steht mittlerweile fest, dass der Feuer absichtlich gelegt worden ist. Der Brandherd ging von Kinderwägen, die im Erdgeschoss im Treppenhaus abgestellt waren, aus – und der ursprüngliche Verdacht, dass defekte elektrische Leitungen das Feuer verursacht haben könnten, ist ausgeräumt, denn es befanden sich gar keine Leitungen in der Nähe der Kinderwägen. Im Moment ist aber weniger an einen ideologisch-rassistisch motivierten Anschlag zu denken, denn ein „warmer Abbruch“ käme mächtigen Interessen äußerst gelegen: In der Nachbarschaft des abgebrannten Hauses kostet der Quadratmeter in den zahlreichen (Büro-)Neubauten im Augenblick 4.000 Euro.
Ein zweiter Brand wenige Tage später, der in der Nacht zum 30. August erneut 7 Todesopfer (darunter 4 Kinder) forderte, traf erneut afrikanische Immigranten. Dieses Mal brannte ein besetztes Haus, das seit Anfang der 90er Jahre durch seine früheren Eigentümer aufgegeben und 1999 durch aus der Elfenbeinküste stammende Familien besetzt gehalten war. Die Mehrheit der „HausbesetzerInnen“ in Paris sind keine Junganarchisten, sondern afrikanische Familien, die auf dem so genannten „freien Wohnungsmarkt“ keine Chance haben und auch keine Sozialwohnung erhalten. Denn auch bei letzteren besteht weit mehr Nachfrage als Angebot, und eine zehnjährige Aufenthaltserlaubnis gehört zu den gesetzlichen Mindestvoraussetzungen, um überhaupt Anspruch auf eine Sozialwohnung (HLM) erheben zu können. Das ausgebrannte Gebäude in der Rue du Roi-Doré, in der Altstadt von Paris, gehörte zu den baufälligsten Häusern der französischen Hauptstadt und war bereits als besonders gefährlich eingestuft. Eine städtische Gesellschaft zur Renovierung risikobehafteter Gebäude hatte das Haus vor einem Jahr aufgekauft. Von 22 Familien waren 12, die Aufenthaltsdokumente besaßen, in eine andere Wohnung vermittelt worden. Die anderen 10, die keine gültigen Aufenthaltstitel (mehr) hatten, blieben in dem Haus mit defekten elektrischen Leitungen – letztere haben nach bisherigen Ermittlungen in diesem Fall möglicherweise den Brand verursacht. Diese zehn Familien waren es, die am 30. August bei lebendigem Leib zu verbrennen drohten.
Der Innenminister im Einsatz
gegen die Opfer
Sarkozy hat es erkannt: Das Problem rührt daher, dass so viele Leute mit akuten Wohnraumproblemen „sich in Paris zusammen ballen, von denen einige sich illegal in Frankreich aufhalten“ und deshalb angeblich nicht registriert seien.
Letztere Behauptung ist freilich Mummpitz, denn den Polizeidiensten ist sehr wohl die – ungefähre – Anzahl so genannt „illegaler“ Einwanderer und ihre räumliche Verteilung bekannt. Die Staatsorgane sind sehr genau darüber unterrichtet, dass bestimmte Wirtschaftszweige (Gebäudereinigung, Teile des Baugewerbes usw.) in weiten Teilen auf „illegalen“ und deshalb besonders prekarisierten und billigen Arbeitskräften basieren, ohne die sie in ihrer jetzigen Form zusammenbrechen würden.
Sarkozy erklärte nach den Bränden, er habe die Polizeidienste angewiesen, „all diese Gebäude zu räumen, um weitere Dramen zu verhindern“. Angeblich, um die potenziell gefährdeten Menschen darin zu schützen. Der brisante Punkt liegt freilich in der Frage, ob den von Räumungen betroffenen Personen oder Familien Ersatzwohnraum angeboten wird oder nicht. Der Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo möchte in den kommenden fünf Jahren 25.000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau (HLM) abreißen, um den schlechten Konditionen in den Plattenbauen mancher Pariser Trabantenstädte ein Ende zu bereiten. Wo wird dann der damit wegfallende Wohnraum ersetzt? Die Antwort der Regierung lautet: Irgendwo, noch weiter draußen aus dem Pariser Ballungszentrum oder in der „Provinz“ – aber bitte nicht in Paris und auch nicht vor seinen Toren!
A propos: Ein Gesetz aus dem Jahr 2000, das vom damaligen KP-Minister für Verkehr und Wohnungsbau Jean-Claude Gayssot ausgearbeitet worden ist, verpflichtet alle Städte, Bezirke und Kommunen dazu, einen Anteil von mindestens 20 Prozent an Sozialwohnungen auf ihrem jeweiligen Gebiet zur Verfügung zu stellen – und notfalls Wohnraum umzuwandeln oder Sozialwohnungen nachzubauen. Seit dem Regierungswechsel von 2002 aber lässt die Pariser Regierung, die theoretisch alle Kommunen zur Einhaltung dieser Verpflichtung zwingen oder sie sonst mit einer Geldstrafe belegen könnte, das Gesetz schlicht und einfach nicht anwenden. Im Großraum Paris, wo der sozialdemokratische Regionalpräsident Jean-Paul Huchon ein wenig auf die Einhaltung der Vorschrift drängt, liefert unter anderem der Bürgermeister des Pariser Nobelvororts Neuilly-sur- Seine, ein gewisser Nicolas Sarkozy, einen anhaltenden Kleinkrieg gegen jede Verpflichtung zum sozialen Wohnungsbau. Auch die Hauptstadt Paris, seit 2001 unter einem sozialdemokratischen Stadtoberhaupt (Bertrand Delanoë), leistet zumindest passiv Widerstand; allerdings hat die Stadtverwaltung tatsächlich Mühe, innerhalb von Paris Neubauten anzusetzen, und zeigt sich teilweise um die Umwandlung bisherigen gehobenen in Sozialwohnraum bemüht. Dagegen leisten aber wieder bürgerliche Bezirkspolitiker erbitterten Widerstand.
In der Krise, die durch die Katastrophen von Ende August ausgelöst wurde, reagieren die Stadt Paris und der französische Staat unterschiedlich. Das Rathaus der Hauptstadt hat angekündigt, allen von Brandkatastrophen Betroffenen – demnach also auch jenen ohne gültige Aufenthaltspapieren – neuen Wohnraum zu beschaffen. Die 133 Überlebenden des Hauses am Boulevard Vincent-Auriol waren bald tatsächlich alle untergebracht, sie sind aber überwiegend „legale“ Einwanderer. Für die ehemaligen Bewohner der Rue du Roi-Doré hat die Stadt Unterbringungen an den Rändern von Paris angeboten, aber die Familien bestehen darauf, in ihrem bisherigen Wohnviertel zu bleiben. Der Hintergrund liegt darin, dass sie vermeiden wollen, dass ihre Kinder künftig in „Ghettoschulen“ gehen müssen und damit keine wirkliche Zukunft haben. Einige Schulen in den Randbezirken von Paris sind als „Ghettoschulen“ abgestempelt, und wer dort einen Abschluss macht und gleichzeitig schwarz ist, dürfte tatsächlich relativ geringe Chancen in der Gesellschaft haben. Viele der Frauen aus dem Haus arbeiten als Putzfrauen in der Nachbarschaft, haben soziale Kontakte im Bezirk und kennen Eltern oder Lehrer.
Dagegen hat die französische Zentralregierung kein Sterbenswörtchen über eine mögliche Unterbringung der von Katastrophen oder Räumungen betroffenen Familien verloren. Um den Applaus des rassistischen Teils der Wählerschaft bemüht, betont Sarkozy allein den repressiven Aspekt seiner Ankündigung, Die Polizeipräfektur hat eine Liste der 60 gefährdetsten Objekte erstellt. Diese sollen rasch geräumt werden.
Und den Worten folgten Taten: Gleich darauf, Freitag um 7 Uhr morgens rückten Großaufgebote der Pariser Polizei im 19. sowie im 14. Bezirk an. Im 19. räumten sie ein ehemaliges Zentrum für Behinderte, das seit vier Jahren aufgegeben und durch afrikanische Familien besetzt worden war. Ausgerechnet im Dreieck der Straßen „rue de la Fraternité“, „rue de la Liberté „ und „rue de la Solidarité“ rissen die Beamten die Familien aus ihren Betten, es kam zu gewaltsamen Übergriffen. Es wäre der erste Schultag für die Kinder gewesen. Der offizielle Vorwand, es habe sich um ein gefährliches Objekt gehandelt, ist offenkundig fadenscheinig: Im vorigen Jahr waren, im Einvernehmen mit dem sozialdemokratisch regierten Bezirksrathaus, einige Arbeiten an dem Gebäude durchgeführt worden, um Risiken etwa im Hinblick auf elektrische Leitungen auszuschalten. Für das Frühjahr 2006 war vereinbart gewesen, die rund 70 Personen in andere Wohnungen umzusiedeln, um Instandsetzungsarbeiten vornehmen zu können. Alle ernsthaften Probleme waren also dabei, geregelt zu werden. Aber das Gebäude war aus anderen Gründen wohl Leuten aus dem Staatsapparat ein Dorn im Auge. Einmal wöchentlich traf sich hier, und das dürfte bekannt gewesen sein, die Solidaritätskoordination für die Sans papiers (illegalisierte Einwanderer) des 19. Arrondissements. Ferner hatte ein Immobilienspekulant das Gebäude 2003 aufgekauft. Der konnte nun seine finanziellen Interessen geltend machen, er hatte auch die Justiz angerufen.
Die afrikanischen Familien wurden gezwungen, ihre Sachen in Müllsäcke und notdürftige Kartons zu verpacken. Jedoch erwiesen sich viele Bewohner der Nachbarschaft solidarisch, einige boten den Afrikanern etwa an, die Sachen, die sie nicht unmittelbar mitnehmen könnten, in ihren Garagen abzustellen. Die 70 betroffenen afrikanischen Erwachsenen und Kinder campieren nunmehr seit Freitagabend im Park am nahe gelegenen Boulevard d‘Algérie, am Pariser Stadtrand. Unterstützung erhielten sie von Wohnrauminitiativen, Antirassismusgruppen, KP, Grünen, undogmatischen Trotzkisten. Auch sozialdemokratische Hochschullehrerinnen aus der unmittelbaren Nachbarschaft engagierten sich aktiv. Die Pariser Stadtverwaltung hat jetzt angekündigt, jenen 18 Familien unter den Betroffenen, die über Aufenthaltserlaubnisse verfügen, neuen Wohnraum zu besorgen.
Im 14. Bezirk handelte es sich um ein 2.200 Quadratmeter großes Gelände, auf dem der letzte erhaltene Bauernhof auf Pariser Stadtgebiet liegt. Das Areal ist ebenfalls Objekt einer Immobilienspekulation, derentwegen lokale Initiativen seit Jahren mit den Bezirksbehörden im Konflikt lagen, um die geplante Zerstörung zu verhindern. Seit circa zwei Jahren wohnten dort ebenfalls 70 bis 80 afrikanische Immigranten, viele unter ihnen ivoirischer Nationalität. Sie wurden durch ein großes Polizeiaufgebot geräumt. In ihrem Fall hat die Polizeipräfektur angekündigt, ihnen für 14 Tage eine Unterkunft in einem möblierten Hotel zur Verfügung zu stellen und ihr Hab und Gute für einen Monat aufzubewahren. Seit Freitag sind die Familien nun in einem Hotel in Suresnes, einer Pariser Trabantenstadt, untergebracht – weit entfernt von den Schulen, in denen ihre Kinder am vorigen Freitag eingeschult werden oder in eine neue Klasse kommen sollten.
Am Samstag darauf (10. September) demonstrierten 8.000 bis 10.000 Menschen aus der gesamten Linken, links von der Sozialdemokratie, Solidaritätsvereinigungen, Antirassismus- und Wohnrauminitiativen vom Boulevard Vincent-Auriol bis zur Place de la République auf der anderen Seine-Seite. Der Versuch eines Teils der DemonstrantInnen, bis zu dem Park im 19. Arrondissement vorzudringen, in dem die zwangsgeräumten Familien campieren, wurde durch massiven Polizeieinsatz vereitelt.
Post scriptum: Die französische Volkszählung von 1990 hatte ergeben, dass es 118.000 leerstehende Wohnungen in Paris (und frankreichweit 1,9 Millionen) gebe. Die letzte Statistik aus dem Jahr 2001 weist allein für das Pariser Stadtgebiet 136.000 leer stehende Wohnungen aus. Nach einer Verordnung aus dem Jahr 1945 könnte die Regierung theoretisch Wohnraum, der zu Spekulationszwecken durch seine Eigentümer leer gelassen wird, legal beschlagnahmen.
Machismus
Das „Manifest der Frauen aus den Trabantenstädten“:
Weder Huren noch unterwürfig, ab sofort und nicht anders!
Da, wo die Männer leiden, dort ertragen die Frauen diese Leiden. Wirtschaftliche Marginalisierung und Diskriminierungen haben zur Bildung von Ghettos geführt, in denen die Bürger sich nicht als gleich(e) empfinden, und die Bürgerinnen noch weniger. Wir sind Frauen aus diesen quartiers, die beschlossen haben, nicht mehr im Angesicht der Ungerechtigkeiten zu schweigen, die wir durchleben; wir weigern uns, dass wir im Namen einer „Tradition“, einer „Religion“ oder schlicht einer Gewalt stets dazu verdammt seien, sie zu erdulden. (...)
Wir denunzieren den allgegenwärtigen Sexismus, die verbale und physische Gewalt, das Verbot von Sexualität, die bei manchen Jugendgangs praktizierte Form von Kollektivvergewaltigungen, die breit durch die Medien gingen und die wir denunzieren, die erzwungenen Heiraten, die sich als Wächter aufspielende Brüderschaft und die Familienehre oder die quartiers, die zu Gefängnissen werden . Wir denunzieren all dies, um nicht länger der Ghetto-Logik nachzugeben, die uns alle in der Gewalt einschließt, wenn es kein Aufbegehren gibt.
Zu einer Zeit, in der alle nach Antworten auf die Gewalt suchen, die unsere Gesellschaft unterminiert, wollen wir sagen, dass der erste Schritt über unsere Befreiung, über den Respekt unserer elemantarsten Rechte führen muss. Behörden, Medien, politische Parteien sprechen von der Banlieue und ihren Bewohnern nur in der männlichen Form.
Wir erscheinen nur von Zeit zu Zeit, „nett“, erfolgreich in der Schule oder in der Küche, wo die Mahlzeiten für die quartier-Feste bereitet werden. Stille herrscht über unser Leben, über jene, die abgehauen/ausgerissen sind, über jene, die von morgens bis abends den Haushalt machen, die sich verstecken um zu lieben oder die sich als Mutter wiederfinden, wenn sie kaum der Kindheit entwachsen sind.
Also haben wir entschieden, nicht mehr abzuwarten, bis alles immer schlimmer wird, wir haben beschlossen zu handeln, damit das Leben besser wird für uns, für unsere Familien und unsere quartiers. Ohne Tabu von den Dingen zu sprechen, die man vor anderen verbirgt, wird von manchen nur schwer akzeptiert werden.
Ihnen sagen wir: Wie wollt Ihr gegen die Ungerechtigkeit, den Rassismus, die (gesellschaftliche) Zurückweisung, den Misserfolg in der Schule, das Gefängnis gewinnen/siegen, wenn auch Ihr unterdrückt?
Millionen Frauen in den Banlieues wollen nicht mehr vor die falsche Alternative zwischen Unterwerfung unter die Unordnung des Ghettos und der Darbietung ihres Körpers auf dem Altar des Überlebens gestellt sein.
Weder Huren noch unterwürfig: einfach Frauen, die ihren Wunsch nach Freiheit leben wollen, um ihr Verlangen nach Gerechtigkeit einzubringen.
Der Forderungskatalog trägt den Titel: „Für eine voluntaristische staatliche Politik, um die republikanischen Werte zu stärken und den sozialen Frieden zu begünstigen“, er beinhaltet:
Recht auf Sexualerziehung für alle;
Recht auf staatsbürgerliche Erziehung („verstärkter Unterricht zur sprachlichen Eingliederung“, „Rechtsberatung“ sowie „Kenntnis der persönlichen Rechte“);
Recht auf Sicherheit für alle (gefordert wird ein dichtes Netz von Notaufnahmezentren für „die Opfer von Gewalt, Zwangsheirat und Polygamie“);
Schaffung spezieller Aufnahmepunkte in den Polizeikommissariaten in Zusammenarbeit mit Frauenvereinigungen;
Die Schaffung spezieller konsularischer Dienste im Ausland, um dort zwangsverheiratete junge Französinnen migrantischer Herkunft (oder zuvor in Frankreich lebende Migrantinnen) zu schützen und/oder zurückholen zu können;
Bekämpfung der Ursachen von Prostitution (Polygamie, mafiöse Strukturen, Abbruch der familiären Kontakte)
Anerkennung von Frauenvereinigungen in den Trabantenstädten und ihre Einbeziehung in kommunale Programme;
Eine stärker auf „Entghettoisierung“ ausgerichtete Städtebaupolitik, Verstärkung von Kontakten zwischen Kernstädten und Banlieues und besserer Zugang zu Kultur und Freizeiteinrichtungen;
Eine „Familienpolitik, welche die tägliche Belastung der Frauen zu reduzieren erlaubt“ (mehr und weniger teure Betreuungs-, Hort- und Kindergartenplätze)
Eine „voluntaristische Beschäftigungspolitik“ (konkret vor allem: Zurückdrängung prekärer Arbeitsverhältnisse, forcierte Bekämpfung von Diskriminierungen in der Einstellungspraxis)
Eine bessere Bildungspolitik, die die „schulischen Abstellgleise“ bekämpft, für mehr soziale Mischung in den verschiedenen Schulen sorgt sowie in allen Altersstufen die Einführung von Unterricht in „Sexualkunde, Rechtskunde, Gleichheit der Geschlechter und spezifischen Rechten der Mädchen“.
Am 11. Juli 2003 wurden mehrere Riesenportraits unter dem Titel „Mariannes von heute“ an der Außenfassade der Pariser Nationalversammlung angebracht. Die insgesamt vierzehn Abbildungen zeigen junge Frauen, die erkennbar aus Einwandererfamilien stammen und teilweise nicht weißer Hautfarbe sind. Jede von ihnen ausgestattet mit Insignien der Französischen Revolution.
Der Titel der Ausstellung: La République métissée. Das bedeutet ungefähr die „vermischte Republik“, wobei der französische Begriff métissage keineswegs negativ beladen ist, sondern je nach Standpunkt euphorisch-zustimmend bis ablehnend benutzt werden kann.
Die Porträts wurden, im Rahmen einer offiziellen temporären Ausstellung, auf Anordnung des konservativen Parlamentspräsidenten und Ex-Innenministers Jean-Louis Debré angebracht. Das war eines der Ergebnisse der Unterredungen zwischen der Raffarin-Regierung und Frauengruppen, die vor allem die Bewohnerinnen der Banlieues französischer Ballungsräume vertreten.
Diese vierzehn jungen Frauen haben alle im Februar und März 2003 am „Marsch der Frauen aus den Vorstädten“ teilgenommen. Einer Tour der France ähnlich, reisten dessen Teilnehmerinnen 2 Monate zu Vorträgen und Diskussionsrunden. Auf diesem Wege sollte eine Bewegung der „Mädchen der Siedlungen“ initiiert werden, um deren Unterdrückungsbedingungen landesweit zum Thema zu machen. Als Höhepunkt und Abschluss der Aktion führten die Teilnehmerinnen und UnterstützerInnen der Kampagne in Paris die Demonstration zum internationalen Frauentag 2003 an. In der Folgezeit sollten sich feste Bewegungsstrukturen herausbilden, in Gestalt einer neuen Frauenorganisation unter dem Titel „Ni putes ni soumises“, Titel auch der mehrere Monate dauernden Protest- und Organisierungskampagne, die durch den „Marsch der Frauen aus den Banlieues“ sichtbar gemacht werden sollte. Die Namensgebung soll den Doppelcharakter der spezifischen Unterdrückung von Frauen in der Einwanderungsbevölkerung und der Bewohnerschaft der Trabantenstädte hervorheben. Diese weist zwei Hauptaspekte auf, die oftmals in die fatale Alternative „Entweder Freiwild oder früh verheiratete, wie ihre Vorfahrinnen lebende Frau“ einmünden.
Banlieues, „der Islam“ und die spezifische Unterdrückung
Manche BeobachterInnen führen die besondere Unterdrückungssituation junger Frauen in diesen Bevölkerungsgruppen vorwiegend auf „den Islam“ zurück. In konservativen und rechtsextremen Kreisen war es vor allem in den Neunziger Jahren üblich, eine „Islamisierung der Banlieues“ zu beklagen. Inzwischen ist die große „islamische Welle“ ausgeblieben, andererseits hat auch die regierende Rechte die konservativen islamischen Gemeindevertreter als Ordnungsfaktor in den „sozialen Problemzonen“ für sich entdeckt.
Tatsächlich ist das Gewicht der muslimischen Religion nicht gewachsen. Allenfalls ist ein Austauschphänomen zu beobachten, das darin besteht, dass die früher dominante Einwanderergruppe aus dem Maghreb in den Banlieues zahlenmäßig leicht ab- und die Zahl von Einwanderern aus westafrikanischen Ländern wie Mali und Senegal zunimmt. Vor allem muss festgestellt werden, dass die französischen Banlieues, anders als die „Ghettos“ nordamerikanischer Großstädte, keine „ethnischen“ Bezirke sind, in denen eine Community bestimmend wäre. Die Mehrzahl der Bewohner in den Trabantenstädten sind europäischstämmige Angehörige der sozialen Unterschichten, auf die freilich der Fokus der Medien nicht gerichtet ist.
Das dominierende Phänomen in den Trabantenstädten ist die Auflösung kollektiver sozialer Strukturen durch Anonymität, mangelnde Möglichkeiten sozialer Eingliederung und Fehlen von Zukunftsperspektiven. Das kollektive Bewusstsein der dort lebenden Jugendlichen ist real kaum von der Religion oder sonstigen traditionellen Werten geprägt, da sie mit den Lebensweisen der traditionellen Gesellschaft kaum noch in Berührung sind.
Absolut dominierend ist aber das durch die Medien vermittelte Konsum- und Konkurrenzbewusstsein, das sich in den Banlieues in Marken-Sportklamotten, Baseballkappen und Turnschuhe oder den hohen Stellenwert schneller Autos widerspiegelt. Tätigkeiten in der „Parallelökonomie“, wie etwa der Handel mit bestimmten Drogen, erlauben einer durchsetzungsstarken Minderheit, zu „schnellem Geld“ zu kommen, das sie auch entsprechend zur Schau stellen. Andere, lautstarke Minderheiten schließen sich zu Jugendgangs zusammen, um in dieser auf Härte und Konkurrenz ausgerichteten Umgebung zu bestehen. Sexualität wird in dieser Umwelt oftmals als „etwas“ gesehen, was man sich „aneignet“, „notfalls“ eben auch durch Belästigung oder gar Gewalt.
Körperlich schwächere unter den männlichen Jugendlichen, aber vor allem Mädchen haben in diesem Umfeld häufig das Nachsehen. Deswegen werden viele von ihnen auf die traditionellen Familienstrukturen zurückgeworfen, die dadurch völlig überfordert sind. Auf der Suche nach Rückhalt flüchten manche unter ihnen in den Rückzug auf eine vermeintliche Tradition.
Die relative Zunahme von Kopftüchern erklärt sich zum Großteil aus diesem Kontext: Sein Tragen signalisiert den männlichen Jugendlichen „Lasst mich in Ruhe, ich bin nicht zu haben“. Das funktioniert auch häufig, da auch die männliche Einwandererjugend oftmals mit dem Rückzug auf traditionelle Rollen spielt – wenn es etwa darum geht, der Schwester das Ausgehen zu verbieten, da man dieser nicht gönnt, dass sie „es besser haben“ soll. Da in den Resten traditionell-patriarchalischer Familienstrukturen, die in den Einwandergruppen als solche längst zerfallen sind, dennoch die Mädchen weit stärker zum Arbeiten angehalten werden als die Jungen, haben sie oft auch bessere Schulergebnisse.
Der dadurch hervorgerufene Neideffekt wiederum führt zu autoritären, machistischen Abwehrmechanismen. Das aber zeigt die fatale Alternative auf, die durch den Slogan „Ni putes ni soumises“ denunziert werden soll: Entweder fügt frau sich in eine solche Rolle, oder aber sie gilt in den Augen einer rücksichtslosen Minderheit als Freiwild, das man fast nach Belieben anmachen oder begrapschen kann.
Hinzu kommt, dass die deutliche Verschlechterung der Aussichten, etwa einen Job und eine Wohnung zu finden, sich gerade für Personen, die eine Wohnadresse in „sozialen Problemvierteln“ angeben, in den letzten 15 Jahren dazu geführt hat, dass der Weg über die berufliche zur sozialen Emanzipation für viele junge Frauen versperrt ist.
Die 50jährige Mouna, die in der Pariser Trabantenstadt La Courneuve Alphabetisierungskurse für migrantische Frauen leitet, meint: „Der Mentalitätswandel lässt sich bei manchen Frauen aus migrantischen Familien spüren. Meine Generation hat alles getan, um aus traditionellen Rollen herauszukommen. Als meine Eltern eine arrangierte Heirat für mich einfädeln wollte, habe ich mich für die Kandidaten systematisch auf eine Weise angezogen, dass sie abgeschreckt wurden und Reißaus nahmen. Das hat funktioniert, am Ende habe ich geheiratet, wen ich wollte. Doch viele der heute aufwachsenden Mädchen verhalten sich da anders, wollen jung und unbedingt jemanden aus der Community heiraten, damit sie akzeptiert werden. Das hat damit zu tun, dass andere Wege, die die Gesellschaft früher bereithielt, blockiert scheinen.“
Beginn der Kampagne
Viele Frauen aus Trabantenstädten und Einwandererfamilien hatten seit Jahren begonnen, die Situation zunehmend unerträglich zu finden. Zu Beginn des Jahrzehnts entstand ein eigener, frauenspezifischer Organisierungsprozess, außerhalb der bzw. neben den klassischen feministischen Gruppierungen.
Aus Zusammenschlüssen in örtlichen associations (eine Zwischenform zwischen Verein und Bürgerinitiativen) erwuchs die Bewegung für örtliche Frauenkongresse im Jahr 2001. Die Schirmherrschaft hatte dabei der Nationale Zusammenschluss der „Häuser der Kumpels“ übernommen, eine Struktur, die unter der Kontrolle der um 1984/85 entstandenen Organisation SOS Racisme steht. Im Inneren der Fédération waren im Vorfeld frauenspezifische Kommissionen gegründet worden.
Aus den bei den lokalen Veranstaltungen zusammen getragenen Erkenntnissen wurde ein „Weißbuch der Frauen aus den quartiers“ erstellt, als Grundlage für einen nationalen Frauenkongress, der im Januar 2002 stattfand. Der Veranstaltungsort, die älteste Hochschule der Hauptstadt, schien dabei nicht unbedingt dazu geeignet, eine Mobilisierung aus den Trabantenstädten sicherzustellen. Insgesamt nahmen 250 Frauen aus verschiedenen Teilen Frankreichs am Kongress teil, der ein „Frauenmanifest“ beschloss.
Den Auslöser dafür, dass die landesweite Kampagne in Form der Städtetour gestartet wurde, gab eine Gewalttat im Oktober 2002 in der Pariser Trabantenstadt Vitry-sur-Seine. Die 17jährige Sohane, Tochter kabylischer Einwanderer, war durch einen örtlichen führenden Kleinkriminellen getötet worden. Das Opfer war von einem Gleichaltrigen mit Benzin übergossen und (von dem sogenannten Kleinkriminellen) mit einem Feuerzeug bedroht worden. Der Gleichaltrige erlitt selbst schwere Brandverletzungen, während sein Opfer in den Flammen starb. Hintergrund waren Konflikte zwischen seiner Freundin und Sohane und Territorialansprüche eines Bandenchefs, der die Folgen seines gefährlichen Verhaltens am Ende selbst nicht mehr beherrschte.
Dieser besonders spektakuläre Tod, in dessen Folge bis zu 2.000 Menschen aus Vitry-sur-Seine in Form eines Schweigemarschs demonstrierten, wurde durch die Medien in hohem Maße wahrgenommen. Deswegen schien die Zeit reif, um die Ursachen zur Sprache zu bringen und an den Zuständen zu rütteln. Anfang Februar des Jahres 2003 begann der „Marsch der Frauen aus den Banlieues“ deswegen auch in Vitry-sur-Seine. Von dort aus ging es zunächst nach Süd- und Südwestfrankreich, bevor in den ersten Märztagen verschiedene Trabantenstädte im Ballungsraum Paris auf dem Programm standen. Am 8. März demonstrierten rund 15.000 bis 20.000 Personen, darunter auch eine größere Anzahl Männer, in Paris hinter den Organisatorinnen, viele von ihnen trugen die schwarz-rosafarbenen Aufkleber „Ni pute ni soumises“. Damit fiel die Teilnahme am internationalen Frauentag in diesem Frühjahr in Paris deutlich stärker aus als in den Vorjahren.
Bilanz und Probleme
Zwar war die Teilnahme am Demonstrationszug durch Paris optisch stark durch die Präsenz von Berufspolitikern und Funktionärinnen geprägt, die den Zuspruch zu der Kampagne durch die linksliberalen Medien gern für sich genutzt hätten. So traf man auf den neoliberalen Sozialdemokraten und Ex-Wirtschaftsminister Laurent Fabius, den für die Banlieues zuständigen amtierenden bürgerlichen Städtebauminister oder Lionel Jospins Ehefrau Sylviane Agacinski. Hinter dem eigentlichen mondänen Prominentenblock gingen die FunktionsträgerInnen von SOS Racisme.
Dennoch war auch eine reale Beteiligung von Frauen, und auch einigen Männern, aus den Trabantenstädten selbst sichtbar. Es genügte, im Anschluss an den entsprechenden Métro-Stationen wie Stalingrad umzusteigen, um zu sehen, dass auch die in die Banlieues fahrenden Züge dieses Mal nach der Demonstration überfüllt waren. Die Mobilisierung aus den Banlieues ist bei solchen Anlässen nicht immer sehr stark.
Von einer Organisierungs-Dynamik in den Banlieues ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr viel zu lesen und zu hören. Im Anschluss an den 8. März nahmen die Organisatorinnen Verhandlungen mit der konservativen Regierung über eine mögliche Finanzierung des Netzwerks, oder von Projekten wie der Herausgabe eines Handbuchs für Frauen, auf.
Die Algerierin Chafia, Mitglied der internationalistischen Gruppe Solidal, die sich vor allem um den Maghreb, aber auch um die Situation der Immigranten in Frankreich kümmert, beobachtete einige Monate lang „Ni putes ni soumises“. Während sie ihrem Anliegen große Sympahie bekundet, ist ihrer Ansicht nach jedoch in der konkreten Bewegung ein Problem angelegt: „Es gibt keine wirkliche Bewegung von unten, keine Selbstorganisation. Der Funktionärsapparat von SOS Racisme hat seit längerem alles getan, um seine Hegemonie über diese Kampagne zu sichern. Dadurch kommt aber keine echte Dynamik dort, wo sie nötig wäre, zustande.“
SOS Racisme hat bereits in den 80er Jahren, damals mit reichlich Geld von Präsident François Mitterrand, den antirassistischen Mobilisierungen der Immigrantenjugend die Spitze abgebrochen. Sie wurden für Konzerte mobilisiert und anschließend ohne politische Perspektiven gelassen. Die staatsnahe Organisation ist heute unter den Banlieue-BewohnerInnen selbst eher diskreditiert, zumal ihr bis vor kurzem amtierender Präsident Malek Boutih im Juni dieses Jahres sein Amt gegen einen Sitz in der Parteiführung der Sozialdemokraten ausgetauscht hat nicht ohne zwei Monate später auch noch lautstark den konservativ-repressiven Innenminister Nicolas Sarkozy als „Hoffnungsträger für die Jugend“ zu loben.
Aber Chafia macht dem organisatorischen Kern noch einen anderen Vorwurf: „Sie hatten Recht damit, von der Gewalt in den Banlieues und der Situation der jungen Frauen in der Immigrationsbevölkerung zu reden. Aber sie tun das in einer solchen Weise und mittlerweile so ausschließlich, dass es sich in den dominierenden Medien wunderbar in die Angstkampagne gegenüber Einwanderung, Kriminalität und Trabantenstädte einfügt. Es gibt in Frankreich 1,5 Millionen misshandelte Frauen. Tun wir doch nicht so, als ob solche Probleme nur die Banlieues betreffen würden. Jetzt hat die Sache einen Dreh angenommen, dass sie zur Selbstbestätigung der Leute in den sauberen Mittelschichtsvierteln wird.“ Kein Wunder ist es deswegen auch, wenn führende Medien im Frühjahr zeitweise vor Sympathien für „Ni putes ni soumises“ überquollen, die sich sonst nicht eben über die Situation der Banlieue-BewohnerInnen besorgt zeigen. Aus ähnlichen Gründen hat sich das Netzwerk gegen Polizeigewalt Résistons, das vor allem in den Banlieues arbeitet, im Frühjahr über die Kampagne Ni putes zerstritten, bevor es sich abwandte.
Parteien, Strukturen
Die gute Nachricht zuerst, oder zumindest eine der guten Nachrichten: Der sozialliberale Gewerkschaftsbund CFDT (Französischer demokratischer Arbeiterverband), der anlässlich der Streikwelle gegen die so genannte Rentenreform im Frühjahr die konservative Regierung von Jean-Pierre Raffarin unterstützte, scheint vor einer stärkeren Austrittswelle zu stehen. Damit deutet sich für die nahe Zukunft eine Umgruppierung der französischen Gewerkschaftslandschaft an.
Eine außerordentliche Delegiertenkonferenz der CFDT-Branchengewerkschaft bei den Eisenbahnern und Transportarbeitern (CFDT-FGTE) am Mittwoch und Donnerstag vorletzter Woche wurde zum Anlass, um Bilanz zu ziehen. Für die Mehrheit der Linksopposition innerhalb der CFDT ist es jetzt Zeit zu gehen. Denn die Führung des Dachverbands, die sich am Vorbild der deutschen Gewerkschaften und der „Sozialpartnerschaft“ orientiert, hatte sowohl beim Streik der öffentlichen Dienste im Herbst 1995 als auch in diesem Jahr jeweils konservative Regierungen gegen soziale Bewegungen unterstützt. Die FGTE bildete bisher eine der Hochburgen der innergewerkschaftlichen Opposition; anders als der Dachverband nahm sie jeweils an den Streikbewegungen teil.
Da die Satzung eine Drei-Viertel-Mehrheit für den kollektiven Austritt des Branchenverbands aus dem Gewerkschaftsbund erfordert, entschieden sich die Transportgewerkschafter anders. Jede der 118 Einzelgewerkschaften, die die FGTE zusammensetzen, soll für sich über einen Abgang entscheiden. Aber viele Mitglieder kehren dem Verband auch bereits inviduell den Rücken. So haben 14 von insgesamt 25 Vorstandsmitgliedern der FGTE ihren Austritt erklärt.
Für die kommenden Monate wird mit dem Abgang eines Drittels der insgesamt 60.000 Angehörigen des Branchenverbands gerechnet. Hervé Alexandre von der nationalen Gewerkschaft der Wettervorhersage, die aus historischen Gründen der FGTE angegliedert ist, ein bisheriges Führungsmitglied des Branchenverbands, schildert die derzeitige Unübersichtlichkeit: „Vor allem die Eisenbahner werden zum großen Teil zur CGT gehen, nachdem schon seit dem Frühsommer mit dem ehemals KP-nahen Gewerkschaftbund verhandelt worden ist das ist teilweise mit Illusionen über dessen kämpferischen Charakter verbunden. Eine Minderheit wird zur linksradikalen Basisgewerkschaft SUD gehen. Andere wiederum, wie unsere Gewerkschaft, gehen eher zum Verband der Lehrergewerkschaften FSU, der sich in naher Zukunft vom Bildungswesen auf den gesamten öffentlichen Dienst ausweiten wird. Und wieder andere, wie die Lastwagenfahrer, wollen vorerst als Linksopposition innerhalb des alten Dachverbands bleiben mal sehen, wie lange sie das durchhalten werden.“
Der Gewerkschafter rechnet mit insgesamt an die 100.000 Austritten aus der CFDT, die derzeit real um die 600.000 Mitglieder zählt; die offiziellen Angaben sind um ein Drittel höher, aber aufgebauscht. „Alle CFDT-Verbände der Region Auvergne sind bereits geschlossen zur CGT übergetreten“, sagt Alexandre, „und die Gewerkschaften der Kommunalbediensteten in Paris und im Pariser Umland sind teilweise schon im Juni ausgetreten.“
Die führenden Medien veranschlagten die Zahl der zu erwartenden Austritte unmittelbar nach der FGTE-Tagung zunächst mit 10.000 bis 15.000 (Libération) oder „bis 20.000“ (Le Monde). Doch Hervé Alexandre hält diese Zahlen für untertrieben und meint, sie rührten daher, „dass die Journalisten die gewerkschaftlichen Milieus an der Basis der CFDT kaum kennen“. Seitens des Dachverbands gibt man sich selbstverständlich alle Mühe, das Phänomen kleinzureden und herunterzuspielen; von hier aus wird gar (in Pressegesprächen) verlautbart, die CFDT erleide gar keine Verluste, sondern nur den Abgang von Leuten, „die ohnehin seit längerem gehen wollten, und deren Gehen uns die gewerkschaftliche Arbeit erleichtern wird“.
Am vorigen Freitag wurden neue Austritte bekannt. So hat die Hälfte der CFDT-Sektion unter den Beamten und Angestellten des nationalen Arbeits- und Sozialministeriums (rund 700 Mitglieder) dem Dachverband den Rücken gekehrt.
Die soziale Bewegung macht Pause
Diese Umgruppierung der gewerkschaftlichen Landschaft, die dessen „sozialpartnerschaftlich“ orientierten Flügel, der die Ergebnisse aus der Eigendynamik des kapitalistischen Entwicklungsprozesses lediglich verwalten will, schwächt, geht aber derzeit nicht mit einem Anwachsen sozialer Kämpfe und Konflikte einher. Vielmehr erfolgt sie im „Wellental“, das auf die starken sozialen Bewegungen vom Frühsommer dieses Jahres folgt.
Zwar hält die Protestbewegung der prekären Kulturschaffenden (intermittents), deren Unterstützung aus der Arbeitslosenkasse in naher Zukunft drastisch reduziert werden wird, nach wie vor an. Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern, wie es sie etwa in Paris zuletzt am vergangenen Donnerstag gab, an deren Rande aber eine geplante Störaktion bei Dreharbeiten des Privatsenders M6 durch die Poliei verhindert werden konnte, wechseln sich ab mit örtlichen Interventionen bei Aufführungen, die das Theater- oder Konzertpublikum einbeziehen sollen.
Die Bewegung der Kultur-schaffenden hält an
Auch fantasievolle Aktionsformen kommen nicht zu kurz. So, als Mitte September einige Kulturschaffende als Fassadenkletterer den neuen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF, der seit dem Hochsommer im teuren 7. Pariser Bezirk ansässig ist, bestiegen. Die Hausherren hatten alle Mühe, die mit Transparenten ausgestatten ungebetenen Gäste wieder loszuwerden.
Durch die halbwegs spektakuläre Besetzung des Pariser Stadttheaters an der zentralen Place du Châtelet, die kurz stattfand, verfügen die streikenden Kulturschaffenden der Hauptstadt nun auch über ein zentral gelegenes und Aufmerksamkeit schaffendes „Hauptquartier“. Bis dahin waren sie zwei Wochen lang in einem ehemaligen Polizeikommissariat unweit des Zentrums untergebracht, das außer Betrieb war und sich für die Bedürfnisse der Streikkoordination rasch als zu eng erwies. Das ehemalige Kommissariat war ihnen durch die Stadt Paris zur Verfügung gestellt worden, nachdem die Koordination der intermittents und Prekären aus der während der Sommermonate Juli und August genutzten Salle Olympe de Gouge im 11. Bezirk ausgezogen war. Dem zugrunde lag eine Absprache mit der Stadt Paris: Diese hatte die Besetzung den ganzen Sommer über geduldet, im Gegenzug hatten die intermittents versprochen, den Saal Anfang September für dort stattfindende Kulturveranstaltungen zu räumen. Das hatten sie dann auch getan.
Am Mittwoch voriger Woche, dem 1. Oktober, gelang es einer Handvoll von Kulturschaffenden, sich in Toulouse zunächst unerkannt zu einem Kolloquium mit dem MEDEF-Vorsitzenden, Baron Antoine-Erneste de Seillière, einzuladen. Thema waren „Jugendliche im Unternehmen“. Nach einer über anderthalbstündigen Rede „des Barons“, wie der MEDEF-Kapitän oft kurz genannt wird, gelang es einer jungen Frau, die unschuldige Frage zu stellen, ob der MEDEF nicht „eine Gesellschaft ohne jede Solidarität, mit einem Höchstmaß an Prekarität“ anstrebe. Das darauf folgende brutale Eingreifen des Ordnerdienst sorgte für unerwartete Solidarisierungseffekte im jungen Teil des Publikum. Gleichzeitig gelang es einigen intermittents, mehrere elektrische und ISDN-Kabel des Kongresszentrums lahmzulegen. Einige Meter weiter demonstrierten rund 200 Kulturschaffende gegen den MEDEF.
Dennoch bleibt der Ausstand der intermittents derzeit gesamtgesellschaftlich eher isoliert, während eine seiner Stärken während des Sommers noch die Verbindung zu den sozialen Bewegungen in vielen anderen Sektoren etwa gegen die am 24. Juli vom Parlament verabschiedete Rentenreform gewesen war. Dadurch sollte eine korporatistische Verengung auf reine Berufsgruppeninteressen vermieden, und eine Debatte sowohl um die Prekarität, welche die intermittents mit anderen sozialen Gruppen teilen, als auch um den gesellschaftlichen Stellenwert von Kultur eröffnet werden. Doch eine verschiedene gesellschaftliche Bereiche übergreifende Bewegung (etwa zum Generalstreik) ist momentan nicht in Sicht.
Öffentliche Dienste: Bewegung im „Wellental“
Einer der Gründe dafür ist, dass die im Frühsommer besonders stark in der Streikbewegung engagierten Lehrer und Lehrerinnen derzeit durch die Verwaltung in den finanziellen Würgegriff genommen werden. Da es in Frankreich in der Regel keine Streikkassen gibt was im Gegenzug den immensen Vorteil hat, dass die Gewerkschaftsapparate die Entwicklung einer Streikbewegung nur sehr bedingt kontrollieren können , bedeutet eine Arbeitsniederlegung für die Beschäftigten meist den Verlust von Lohn oder Gehalt. Für viele Lehrer beläuft sich diese Einbuße für das vergangene Frühjahr auf bis zu zwei Monatsgehälter. Von der französischen Post wird Ähnliches berichtet, was den „harten Kern“der Streikbewegung rund um die dort einflussreiche Basisgewerkschaft SUD-PTT betrifft. (Nur eine Minderheit der Postbeschäftigten hatte das gesamte Streikfrühjahr hindurch die Arbeit niedergelegt, während eine Mehrheit nicht so richtig an den Erfolg glauben wollte und nur während der landesweit durch die CGT ausgerufenen „Aktionstage“ periodisch in den Ausstand trat.) So rechnet das Gründungsmitglied von SUD-PTT, Guy Freche, in Paris mit dem Verlust von zwei Monatsgehältern: „Noch nie in meinem Leben war ich wirklich abgebrannt, aber im Moment bin ich deswegen total pleite!“
Lohn-Zurückbehaltungen im öffentlichen Dienst erreichen nach Angaben des französischen Finanzministeriums ingesamt 800 Millionen Euro. Die linksliberale Tageszeitung „Libération“ (vom 3. Oktober) meinte deswegen bereits ironisch, die Streiks seien“für den Staat rentabel“ (Artikelüberschrift) und Gewinn bringend. Angesichts der genannten Summe von fast einer Milliarde und der Reaktionen sah sich das Wirtschafts- und Finanzministerium am Freitag veranlasst, in öffentlichen Erklärungen zu dementieren, die Lohn-Einbehaltungen seien bereits als struktureller Baustein der Sparpolitik in das Regierungskalkül eingegangen.
Im öffentlichen Dienst war bisher Tradition, dass die Gehaltsabzüge während der nachfolgenden Monate über einen längeren Zeitraum gestreckt wurden, wobei die Modalitäten Verhandlungsgegenstand waren. Die jetzige Regierung aber hat sich im Lauf des Sommers (per Anordnung des Bildungsministers vom 4. August) darauf festgelegt, keinerlei Konzessionen zu machen und „das Gesetz in seinem Worlaut anzuwenden“. Seit Juli oder August sind viele Lehrer daher mit Abzügen bis zu 1.500 Euro konfrontiert, und zumindest wer eine Familie ernähren muss, hat oft ziemlich daran zu schlucken.
Für vermehrte Wut an der Basis sorgte die Tatsache, dass die Abzüge in der Praxis oft von Region zu Region, ja von Schule zu Schule sehr unterschiedlich gehandhabt wurden. Einige sehen darin ein macchiavellistisches Spaltungskalkül der Regierung. Der wirkliche Grund ist wahrscheinlich ein anderer: In einigen Fällen deckten Schuldirektoren ihre Gewerkschaft rief zur Solidarität mit den Betroffenen auf und Verwaltungsangestellte die Streikenden vom Frühjahr, indem sie nur eine geringe Zahl von Streiktagen für die Gehaltsbemessung in Rechnung stellten. In anderen Fällen dagegen kam die Regierungslinie in ihrer vollen Härte zur Geltung. Diese Ungleichheiten steigern zwar den Unmut, sorgen andererseits aber auch für eine Zersplitterung, auf deren Grundlage sich schwer eine breite Protestbewegung aufbauen lässt.
Und die Privatindustrie?
Ein anderer wichtiger Grund ist in der Situation der Beschäftigten des privaten Wirtschaftssektors zu suchen. Ihnen galten im Frühjahr zahllose Appelle der streikenden öffentlichen Bediensteten, die den Eintritt der Privatwirtschaft in den Ausstand und dessen Ausweitung zum Generalstreik forderten. Tatsächlich hatten sich einige harte Kerne von Streikbereiten in der Privatindustrie heraus gebildet. So waren etwa in Paris auch Abordnungen aus den Automobilwerken von Renault, Peugeot oder Citroen auf den Demonstrationen vertreten. Beim Reifenhersteller Michelin in Clermont-Ferrand verließen im Juni 400 Arbeiter während der laufenden Schicht aus eigenem Antrieb ihre Arbeitsplätze und formierten sich zu einer eigenen Demonstration. Angesichts der besonders harten Repressionspraxis in dem paternalistisch geführten Unternehmen, das insgesamt 15.000 Beschäftigte zählt, war das bereits ein großer Schritt.
Doch gerade in der Privatindustrie hat der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Zahl von „Sozialplänen“ seit Juli für einen bleischweren Druck gesorgt. Die Vernichtung von zehntausenden Arbeitsplätzen folgte auf die Pleite einiger Unternehmen wie der Fluggesellschaft Air Lib , aber erreichte auch gut gehende Unternehmen, beispielsweise infolge von Fusionen. (Ähnliches wird derzeit nach der Mega-Fusion der Fluggesellschaft Air France mit dem niederländischen Unternehmen KLM zur weltweiten „Nummer Eins“ ihrer Branche befürchtet).
Drastische Einschränkungen für Erwerbslose und Sozialhilfe-empfänger
Hinzu kommt der Umgang mit den Erwerbslosen, der sich in den letzten Monaten drastisch verschärft hat. So werden 800.000 bis 850.000 Arbeitslose in den nächsten Monaten aus der Entschädigung durch die Arbeitslosenkasse UNEDIC herausfallen. Der Grund: Am 20. Dezember 2002 unterzeichnete, durch die Öffentlichkeit damals kaum wahrgenommen, ein Teil der Gewerkschaften deren wichtigste die sozialliberale CFDT war, die seit einem Jahrzehnt die paritätisch getragene UNEDIC verwaltet ein Abkommen mit den Arbeitgeberverbänden. Um Geld bei der UNEDIC zu sparen, und damit auch die Beiträge der Arbeitgeber zu senken, wurden die Ansprüche auf die Arbeitslosenhilfe reduziert. Ab diesem Herbst verlieren viele arbeitslos gewordene dadurch 7 bis 12 Monate Bezugsanspruch. Und sehr viele Betroffene wussten das bisher gar nicht, sondern entdeckten in den letzten Tagen, dass sie plötzlich auf¹s Trockene gesetzt wurden.
Normalerweise werden die damit von der Arbeitslosenhilfe, die sich am letzten Lohn orientiert und durch die UNEDIC ausgeschüttet wird, Ausgeschlossenen an die vom Staat bezahlte Stütze ASS (Spezifische Solidaritätsleistung) mit fester Bezugshöhe weiterverwiesen. Doch die Regierung entschied im Spätsommer, dass sie für die erwarteten zusätzlichen Anspruchsberechtigten nicht aufkommen wolle. „Man kann nicht ewig die Arbeitslosigkeit bezahlen“, meinte Sozialminister François Fillon im Interview mit der Sonntagszeitung JDD vom 21. September trocken. Daher wurde die Stütze auf nur noch zwei Jahre Bezugsanspruch (oder drei Jahre für die bereits bisher von der ASS Lebenden) begrenzt, während sie bis dahin nicht zeitlich limitiert war.
Für Hunderttausende wird damit nach einiger Zeit nur noch der Fall in die Sozialhilfe (RMI) bleiben. Doch auch die ist nicht mehr, was sie einmal war. Denn ab Anfang kommenden Jahres heißt sie nicht mehr RMI (Mindest-Eingliederungsbezug), sondern RMA, für „Mindest-Aktivitätsbezug“. Das bedeutet, dass die Bezieher der Sozialhilfe gut 400 Euro im Monat gezwungen werden sollen, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Verdienst, zwei Euro Stundenlohn sind vorgesehen, soll mit der Sozialhilfe kumuliert werden können.
In dieser Entwicklung suchen die Aktivisten der Streikkoordination der intermittents den Grund, warum viele prekär Beschäftigte sich derzeit kaum trauen, den Kopf zu heben. Denn gerade die prekär Arbeitenden wollen die Kulturschaffenden, die selbst in prekären Verhältnissen (die allerdings in ihrem Falle teilweise selbst gewählt sind, im Sinne künstlerischer Unabhängigkeit von den Zwängen eines „Normal-Arbeitsheitsverhältnisses“) überleben, für gemeinsame Aktionen gewinnen.