Durban Social Forum, 27.8.2012, Presseaussendung von Abahlali baseMjondolo
Wir sind alle Marikana
Nach 9/11 erlebte die Welt eine radikale geistige Veränderung – einen pauschalen Stechschritt nach rechts – die zu einer weitreichenden Änderung der Internationalen Gesetzgebung führte. George Bush‘s sogenannter „Krieg gegen den Terror“ drang in die Struktur jeder Gesellschaft auf dieser Welt ein, entfremdete Kulturen voneinander und brachte Nachbarn, Religionen gegeneinander auf, und verunsicherte die BürgerInnen zutiefst, was die Voraussetzungen für blinden Gehorsam gegenüber den den staatlichen Autoritäten schuf.
In Südafrika ist diese Kultur des Autoritarismus niemals wirklich aus unserer Gesellschaft verschwunden. Staatlich geförderter Terrorismus wurde mit „guten“ Auswirkungen von Vlakplaas-Agenten1und Mitglieder des Security Branch2angewandt. Einige, die das Regime bekämpften, lernten rasch, wie brauchbar streng kontrollierte Sicherheitsstrukturen und blinder Gehorsam gegenüber einer übergeordneten Elite sind – eine geheime Clique innerhalb einer Clique könnte auch für korrupte oder kriminelle Zwecke eingesetzt werden, oder zur Beschaffung dringend benötigter Mittel für die Partei – so wie es die National Party machte.
Viele Visionäre aber erhoben sich darüber und begeisterten uns dafür, dass eine moralische, gerechte und gleiche Gesellschaft möglich war, und wir setzten in unseren Hoffnungen auf ein besseres Leben auf ihre Stimmen. Wie anders könnte unser Land sein, hätte ihre Vision sich durchgesetzt?
Leider brachten wir, als 1994 die Demokratie zum Leben erwachte, einen unterdrückerischen Staatsapparat mit uns – der Amnestie anbot und sogar Wiederbeschäftigung für einige der Schlimmsten des früheren Regimes. Wir verbargen unsere Paranoia in unserer Brust, wer waren wir denn, dass wir unsere neue Regierung darüber zu befragen gewagt hätten, die uns einen Regenbogen3gegeben hatte? Das Leiden der GenossInnen bei Quattro4hätte uns lehren müssen, dass Widerstand nicht toleriert wird – Demokratie oder keine Demokratie.
Auch die Ernennung von Joe Modise5zum ersten nach-Apartheid-Verteidigungsminister sprach bereits für sich. Wir hätten wissen müssen, dass mit ihm massive Korruption und Manipulation unseres kriminellen Justizsystems folgen würden – die für immer die Naivität vom Angesicht unserer jungen Demokratie reißen und die wahren Prioritäten des ANC enthüllen würden.
Operation Vula6hat die aktuelle Besessenheit der Regierung nach Informationskontrolle und Geheimhaltung inspiriert – die Shaiks, Mac Maharaj, Polizeiminister Nathi Mthethwa, Oberpolizist Raymond Lala, und Finanzminister Pravin Gordon7. Fraktionsloyalität, unabhängig davon, welche Verbindungen jemand früher zur Apartheid hatte, wird königlich entlohnt. Wie sonst hätte der Chef des Geheimdienstes, Richard Mdluli, sein Imperium aufbauen können, trotz der Vorwürfe krimineller Handlungen?
Der ANC entstand nicht aus dem demokratischen Kampf der Massen, er entstand aus Speichelleckertum gegenüber einer mächtigen Elite, geschützt durch komplizierte Sicherheitsstrukturen und ein Netzwerk von Spionen und Gegenagenten – nahezu ein Spiegelbild der Apartheid-Strukturen. Das mag zu dieser Zeit notwendig gewesen sein, um ein ungerechtes, inhumanes System zu stürzen, aber ist es jetzt notwendig, um die Stimmen der Menschen zu unterdrücken – nach 18 Jahren sogenannter Demokratie?
Erwartet unsere jetzige Regierung von uns, dass wir kleinlaut dastehen und unsere hart erkämpften Errungenschaften feiern, während die wenigen mit Champagner auf uns anstoßen? Erwarten unsere gegenwärtigen FührerInnen blinde Erniedrigung wegen historischer Taten, während die „frei Geborenen“ wenig Aussicht auf Bildung, Beschäftigung und ein besseres Leben für alle haben? Sollte der Bau eines Präsidentenpalastes in Nkandla die Herzen derjenigen erwärmen, die obdachlos gemacht wurden, weil die Regierung ihr Land an das big business verschleudert? Solle ein Minenarbeiter akzeptieren, dass es ihn 11 Leben kostet, das zu verdienen, was ein Aktienbesitzer in einem Jahr verdient?
Täglich erklärt uns ein gewalttätiger Staat, dass wir eine gewalttätige Gesellschaft seien. Täglich erklärt man uns auch, dass wir die ungleichste Gesellschaft der Welt sind, aber unsere FührerInnen unternehmen wenig, um das zu ändern. Uns wird erklärt, wir seien Opfer einer der höchsten Verbrechensraten in der Welt, doch der Staat richtet seine Gewehre regelmäßig auf seine BürgerInnen.
Warum sind wir also überrascht, wenn die tickende Zeitbombe explodiert?
Wir waren viel zu entgegenkommend gegenüber einem kriminellen Rechtssystem, das Kriminelle und korrupte PolitikerInnen schützt. Wir sind verstummt, während wieder ein Kind vergewaltigt wird. Wir haben den Einsatz brutaler Gewalt im Namen von law and order durch den Staat akzeptiert. Wieso sind wir so versöhnlich denen gegenüber, die sich nicht nur an uns versündigen, sondern die auch die öffentliche Geldbörse plündern, die verhindern, dass unsere Kinder Bildung erhalten, die uns auf jeder Ebene betrügen und uns dann in den Rücken schießen, wenn wir protestieren?
Wir müssen empört sein über das Massaker von Marikana, aber wo waren wir die letzten 18 Jahre, als das von der Regierung unterstützte, organisierte Verbrechen und die Korruption uns den Kern unserer Demokratie wegfrassen? Als Bheki Cele den „Dienstleistungs“-aspekt der Polizei annullierte und aus ihr wieder eine „Gewalt“ machte, wo war da unser lauter Widerspruch? Wo war die Empörung, als die Polizei die Siedlung Kennedy Road brutal überfiel? Wo bleibt die Verdammung der außergerichtlichen Tötungen durch die Cato Manor Organised Crime Unit? Die Umlazi-Schießerei? Die Abschlachtung von Andries Tatane hat die Einstellung der Polizei zur „Kontrolle der Massen“ nicht verändert, doch wir haben auch keine grundlegenden Änderungen verlangt. Das unabhängige Direktorat zur Untersuchung der Polizei gibt jedes Jahr eine längere Liste von Beschwerden über Beamte, die das Gesetz übertreten, heraus, aber im allgemeinen sind wir immer noch unkritisch geblieben.
Bis Marikana
Aber der einzige echte Unterschied zwischen Marikana und den vielen vorangegangenen Zwischenfällen, bei denen die Polizei scharfe Munition eingesetzt hat, ist die Anzahl der Toten. Statistiken helfen Witwen und Waisen nicht weiter.
Die lethargische Antwort der Regierung auf diese Tragödie demonstriert eindrücklich, wie entbehrlich wir in ihren Augen sind. Die Sorge gilt unserem Image in der Welt und den Auswirkungen, die es auf ausländische Investoren haben wird. Regierungsangestellte beschuldigen die Streikenden, die Gewerkschaften, die Angestellten in den Minen, traditionelle Heiler, eine unsichtbare „Dritte Kraft“, doch die Öffentlichkeit wird angewiesen, niemand zu beschuldigen. War es nicht die Regierung, die die Polizei angewiesen hat, in Marikana ein Maximum an Gewalt einzusetzen?
Wir müssen diejenigen anklagen, die den Tod unserer 34 Genossen verursacht haben und die 78 verletzt haben. Wir müssen wütend sein auf die gewalttätige staatliche Repression, die ein Maximum an Gewalt gegen eine Gruppe Streikender gutgeheißen hat, die keine unmittelbare Gefahr dargestellt haben, für keine Person, keine Struktur. Ein Staat, der meint, die Macht bis zu „Jesus zweitem Erscheinen“ okkupiert zu haben; ein Staat, der rasch die unabhängigen Stimmen der Zivilgesellschaft zum Schweigen bringt; ein Staat, der demokratische Rechte ausschließlich finanziellen Interessen zugesteht; ein Staat, der zynisch seinen Sicherheitsapparat manipuliert; der eine Kultur der Paranoia und Angst schafft; ein Staat, der dem Volk den Krieg erklärt hat. Welchen Wert hat die beste Verfassung der Welt, wenn unsere Regierung sie ignoriert?
Die Tatsache, dass streikende Minenarbeiter kulturelle Waffen getragen haben, ist irrelevant.8Das Marikana-Massaker ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass unsere Regierung zunehmend den Willen des Volkes im Stil der Apartheid unterdrückt.
Wir dürfen nicht länger schweigen. Wir müssen ein Ende dieses Staates der Gewalt fordern, für uns selbst, für unsere Kinder, und für die Zukunft unseres Landes.
Früher oder später werden die Gewehre auf uns gerichtet werden – wir sind alle Marikana-MinenarbeiterInnen.
Tragt rot und schließt euch den blutigen Mittwoch-Streikposten an in Solidarität mit den MinenarbeiterInnen von Marikana und all jenen, deren Blut durch staatlich sanktionierte Gewalt vergossen worden ist.
Es reicht! Kein Wohnraum, kein Land – keine Stimme! JedeR zählt
Anmerkungen
1 Vlakplaas = ehemalige Sondereinheit C1 (davor C10) der südafrikanischen Polizei in der Apartheid-Zeit, eine geheim operierende Todesschwadron, die für zahlreiche Morde und Anschläge gegen Regimegegner verantwortlich war.
2 Auch „Special Branch“, Teil der Polizeikräfte, nach 1960 mit Sondervollmachten ausgestattet; infiltrierte Organisationen wie den ANC oder den PAC, u.a. verantwortlich für den Mord an Steve Biko 1977.
3 Anspielung auf Bischof Desmond Tutu‘s „rainbow nation“, ein Begriff, mit dem die Wahrheitskommissionen etc. eingesetzt wurden, die schließlich zu den Amnestien führten.
4 Quattro ist ein Programm, das „Black Economic Empowerment“-Minenbesitzern (BEE) den Zugang zum auswärtigen Kohlemarkt erleichtert. BEE wiederum ist ein Programm, das (reichen, d.h. im Dunstkreis des ANC agierenden) Schwarzen den Erwerb von Unternehmen ermöglicht. Kurz zusammengefasst, das Ganze ist ein Mittel der neuen schwarzen Oberschicht, sich zu bereichern.
5 Joe Modise, 1929 – 2001, Mitbegründer von Umkhonto we Sizwe, dem bewaffneten Arm des ANC, ab 1990 einer der Verhandler mit der Apartheid-Regierung, von 1994 bis 1999 Verteidigungsminister. Während seiner Amtstätigkeit werden ihm zahlreiche Korruptionsfälle bei Waffenbeschaffungen vorgeworfen. Chris Hani kritisierte Modise bereits 1969.
6 Geheimes Untergrund-Kommunikationsnetzwerk, das der ANC in den 80er Jahren aufbaute.
7 Alle Genannten waren Teil von Operation Vula
8 Verweis auf die in den Medien hochgekochte „Bewaffnung“ der Streikenden. Sie bestand aus selbst angefertigten Speeren und Macheten gegenüber der hochaufgerüsteten Polizei. Es gab auch keinerlei Hinweise darauf, dass diese „Waffen“ gegen die Polizisten eingesetzt worden sind.