Aufbau Schweiz
Vom Aufstand in Naxalbari zum Volkskrieg
Aufstand im Bauerndorf Naxalbari
Eine der größten heute existierenden kommunistischen Guerillabewegung ist bei uns nahezu unbekannt. Erstaunlich, denn ihr Operationsgebiet umfasst eine Bevölkerung von über 60 Millionen Menschen. Aber auch nicht erstaunlich: Aus strategischen Gründen ist eine kommunistische Bewegung in Ostindien für die bürgerliche Presse momentan uninteressant und für die „neuen AntiimperialistIn­nen“ zu wenig attraktiv.
Die Merkmale des Imperialismus werden durch viele Tendenzen des Kapitalismus heute eher noch überboten als bestätigt: die Konzentration von Industrie und Banken, die Entstehung eines neuen Typs des Finanzkapitals, der Kampf um Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Zwar haben sich die Erscheinungsformen seit 1916 dramatisch verändert, die Inhalte allerdings sind nach wie vor aktuell. Krieg, Ausbeutung, Hunger, Unterdrückung. Nichts deutet auf eine friedliche „ultraimperialistische“ Entwicklung des kapitalistischen Systems hin, aus dem sich der Sozialismus evolutionär entwickeln könnte. Die revolutionären Kämpfe im Trikont1, die in den 60er- und 70er-Jahren aus diesen Verhältnissen entstanden sind, konnten allerdings keine Kontinuität bis heute entwickeln.
Antiimperialismus oder Kampf gegen Fremdherrschaft
Eine große Differenz zu den Kämpfen in den letzten Jahrzehnten besteht in der offenkundigen Schwäche der revolutionären antiimperialistischen Bewegung. Die bewaffnete Opposition gegen den US-Imperialismus in Asien und Afrika wird heute vor allem von reaktionären Kräften getragen, die zwar gegen die Fremdherrschaft durch die USA, GB, etc. kämpfen, aber an deren Stelle eine feudal-klerikale und patriarchalische Ordnung installieren wollen. Der Feudalismus und die kapitalistische Ökonomie bleiben unangetastet. Eine Oligarchie, eine herrschende Clique, soll durch eine andere ersetzt werden. Der Kampf für eine reaktionäre nationalstaatliche Entwicklung hat nichts mit Antiimperialismus zu tun, der eine über die nationale Befreiung hinausgehende sozialistische Perspektive hat. Die Befreiungsbewegungen warfen die Imperialisten aus dem Land, enteigneten aber gleichzeitig die Großgrundbesitzer und die Kompradoren­bour­geoisie in den Städten, kollektivierten die Landwirtschaft, verstaatlichten die Produktionsmittel2und bauten ein zentralwirtschaftliches Plansystem an Stelle des Marktes auf. Sie schafften damit erstmal die Grundlagen für eine sozialistisch-nationalstaatliche Perspektive. Die Entwicklung der entstandenen jungen Nationalstaaten, die mittlerweile alle eine Systemtransformation Richtung Marktwirtschaft vollzogen haben (z.B. Vietnam), zeigt jedoch auf, dass diese als Zwischenschritte gedachten Maßnahmen für eine nachhaltig wirkende soziale Befreiung, bzw. sozialistische Gesellschaft, nicht ausreichend waren.
Der Kampf um soziale Befreiung
Wenig bekannt sind die aktuellen antiimperialistischen Kämpfe, in denen die soziale Befreiung von Feudalismus und Kapitalismus im Zentrum steht. In Indien kämpft das Landproletariat und die Kleinstbauern schon seit Jahrzehnten gegen den Staat, die feudalen Klassen, den Imperialismus3und die Kompra­dorenbourgeoisie4. Von der chinesischen Revolution inspiriert kämpften kommunistische Kader5bereits in den Jahren nach der indischen Unabhängigkeit am Ende der 40er Jahre gegen den Feudalismus6. 1948 wurde der Aufstand in Telengana von Nehrus Armee blutig niedergeschlagen.
Durch die Integration der Communist Party of India (CPI) ins junge parlamentarische System wurden revolutionäre Perspektiven für lange Jahre blockiert und die Kommunistische Partei fristete neben der mächtigen Kongress­partei ein unbedeutendes Schattendasein. Frustriert von dieser Situation entbrannten innerhalb der Partei heftige Linienkämpfe, die mit der Abspaltung der pro-chinesischen Fraktion 1964 und der Gründung der CPI(M), (Communist Party of India [Marxist]) ihren Abschluss fanden. Das Programm und die Strategie zur revolutionären Veränderung Indiens widerspiegelt die Art der Produktionsverhältnisse, die in weiten Gebieten Indiens mit ihren halbfeudalen und halbkolonialen Verhältnissen herrschen. Besonders in den ostindischen Bundesstaaten sind die sozialen Ungleichheiten selbst für indische Verhältnisse extrem. Nur etwa 6% der BäuerInnen kontrollieren 40% der landwirtschaftlichen Fläche, während 73% der Bauern 23%7des Bodens bewirtschaften. Landreformen blieben Makulatur. Diese Gebiete weisen einen sehr hohen Anteil tribaler8und kastenloser Bevölkerungsgruppen auf. Die kommunistische Guerilla verfügt besonders dort über eine relativ breite soziale Basis unter dem Landproletariat und den verarmten Bauern, wo die Privatarmeen der Großgrundbesitzer und Pächter die Landbevölkerung unterdrücken und terrorisieren. Dies bedeutet bis heute tägliche Demütigungen und wirtschaftliche Ausbeutung. In Bihar ist es noch immer Sitte, dass kein Kastenloser in Gegenwart eines Kastenhindus sitzen darf…
Der Bauernaufstand 1967-1970
1965/66 tauchten in den ostindischen Unionsstaaten Flugblätter auf, in denen zum unmittelbaren Beginn der bewaffneten Revolution aufgerufen wurde. Verfasser war die Siliguri Gruppe der CPI(M). Dieser revolutionäre Ansatz war nicht zuletzt auch Teil und Ausdruck der globalen Debatte um den Revisionismus9in der Sowjetunion. Die revolutionären Kämpfe begannen im März 1967 im ostindischen Dorf Naxalbari10als bewaffneter Bauernaufstand in den Unionsstaaten West-Bengalen und Andhra Pradesh. Die indischen Streitkräfte reagierten mit massiven Ver­gel­tung­smassnahmen. Ungeachtet der massiven staatlichen Repression, trugen zahlreiche AktivistInnen, unter ihnen viele kommunistische StudentInnen aus Kalkutta, die dort eine Stadtguerilla aufgebaut hatten, die Idee des bewaffneten Bauernkampfes über die Grenzen Westbengalens in andere Bundesstaaten. Ende der 60er- Jahre etwickelten die Guerilla vor allem in Bihar den Kampf gegen die Großgrundbesitzer weiter. Dutzende Lokalfürsten wurden hingerichtet. In den 70er-Jahren gelang es den Aufständischen im größeren Ausmaß Landlose und Kleinstbauern zu mobilisieren und brachliegende Ländereien zu besetzen. Besonders in Zentralbihar konnten sie ganze Landstriche unter ihre Kontrolle bringen und in den befreiten Zonen Ansätze einer neuen Gesellschaft aufbauen, die aber immer wieder Rückschläge hinnehmen mussten. 1971 waren die meisten Aufstände zerschlagen, die RevolutionärInnen verloren die Verbindung miteinander. Lokale kommunistische Gruppen versuchten die Kräfte zu sammeln und bildeten immer wieder kleine Widerstandsnester.
Das Präriefeuer lodert von neuem
Die Guerillaaktivitäten haben sich Mitte der 80er-Jahre wieder verstärkt. Seit 1997 hat der traditionell schlecht dokumentierte Kampf wieder die Ausmaße eines Volkskrieges angenommen. Wurden die Kämpfe in den 70er-Jahren von der CPI(ML)11geführt, entstanden aus Linienkämpfen verschiedene neue kommunistische Organisationen. Die wichtigsten, die die aktuellen Kämpfe anführen, sind die CPI(ML) (PW – People’s War),12heute People’s War Group (PWG), das Maoist Communist Centre (MCC),die CPI(ML) Party Unity und die CPI(ML) Liberation, die 1992 einen Gewaltverzicht proklamiert hat.
Das Operationsgebiet der Guerilla liegt heute sowohl in den Bundesstaaten Bihar, Andhra Pradesh, Orissa und Maharashtra, als auch in den neu gegründeten, rohstoffreichen Unionsstaaten Jharkhand und Chattisgarh. In den umkämpften Gebieten ereignen sich täglich Feuergefechte, Sprengstoffaktionen und Angriffe auf Polizeieinrichtungen. Vor dem Hintergrund des Rückzuges staatlicher Gewalt, liefert sich die Guerilla heftige Kämpfe mit Privatarmeen13der Mittel- und Oberkasten, sowie Grossbauern. In letzter Zeit wurden auch vermehrt multinationale Konzerne attackiert. Der Einfluss der verschiedenen Guerilla-Fronten reicht mittlerweile über eine Bevölkerung von über 60 Millionen.
In den Guerillazonen haben sich die Lebensbedingungen des Landproletariats drastisch verändert. Landenteignungen wurden zugunsten der landlosen Bauern durchgeführt. Die Landarbeiter haben einen 8-Stunden-Tag. Unbezahlte Arbeit existiert nicht mehr, die Löhne wurden verdoppelt, Schulen und medizinische Behandlung existieren für alle. Die Großgrundbesitzer wurden verjagt und die Bauernkomitees als politische Machtorgane nehmen langsam Gestalt an.
Zwei hauptsächliche soziale Diskriminierungen der indischen Gesellschaft – die Kastenunterdrückung und die Frauenunter­drückung – wurden in den befreiten Zonen reduziert. Die Gewalt an Frauen wird denunziert, Mitgiftforderungen, die Verbannung der Frau beim Tod des Ehemannes und ihre Diskriminierung im Falle von Unfruchtbarkeit bekämpft. Es wird ihnen Mut gemacht, aus ihren vier Wänden herauszukommen und sich am politischen und sozialen Leben zu beteiligen. Viele Teile Indiens, mit ihren über 900 Millionen Menschen, liegen noch fern von revolutionärer Politik, doch dieser kleine Beginn in Ostindien ist beispielhaft für das ganze Land. Aus einem Funken kann ein Steppenbrand werden.
Die internationale Ausweitung der Kämpfe
Mit der Bildung des Coordination Com­mitee of the Maoist Parties and Organizations of South Asia14im Juni 2001 wurde erstmals versucht, die Kämpfe in den verschiedenen Ländern zu koordinieren. Ziel ist eine „Compact Revolutionary Zone“ (CRZ) zu entwickeln, die sich von Nepal über Bihar bis Andhra Pradesh erstreckt. Eine internationalistische befreite Zone, die sich nicht mehr an staatlichen Grenzen orientiert. Neben der nepalesischen Kommunistischen Partei und den indischen kommunistischen Organisationen beteiligen sich auch KommunistInnen aus Bangladesh und Sri Lanka aktiv an diesem internationalistischen Projekt.
Anmerkungen
1 Trikont: Abkürzung für die drei Kontinente Lateinamerika, Afrika und Asien.
2 Die Form der staatskapitalistischen Betriebe in einer Übergangsperiode wurde als Weg der Überleitung kapitalistischer Wirtschaftsformen in sozialistische verstanden.
3 Die Unabhängigkeit Indiens wurde als Farce, Indien als Halbkolonie definiert.
4 Die chinesischen KommunistInnen definierten den von den Imperialisten geschaffenen Kapitalismus im Trikont als bürokratischen Kapitalismus. Er umfasst das Kapital der Großgrundbesitzer, der Grossbanken und der Großbourgeoisie. Er schließt sich in seiner Entwicklung mit der Staatsmacht zusammen, bei existierenden feudalistischen Strukturen. Daraus ist die Spaltung der Grossbourgeoisie in eine bürokratische und eine Kom­pra­do­ren­bour­geoisie entstanden.
5 Die Kommunistische Partei Indiens wurde 1925 gegründet und war Mitglied der Kommunistischen Internationalen.
6 Vorkapitalistische Gesellschaftsformation, die sich durch Großgrundbesitzer, ungerechte Landverteilung und Knechtschaft ausdrückt. Mit der Entwicklung des Kapitalismus im Trikont veränderte sich die feudale in eine halbfeudale Gesellschaft.
7 Zahlen aus dem Agrarzensus von 1977.
8 Ureinwohner, die außerhalb des hinduistischen Kastenwesens stehen.
9 Reformistische Revision des revolutionären Charakters des Kommunismus, Koexistenz mit dem Imperialismus.
10 Daher wurden die kommunistischen Aufständischen in der Folge in der bürgerlichen Presse oft „Naxaliten“ genannt.
11 Communist Party of India (Marxist-Leninist), 1967 als revolutionäre Abspaltung der CPI(M) gegründet. Die CPI(M) stellte sich gegen die bewaffneten Kämpfe der Bauern.
12 CPI(ML) Volkskrieg, gegründet 1980.
13 Die wichtige Ranvir Sena in Bihar wird auf 100.000 Mann geschätzt.
14 Koordinationskomitee maoistischer Parteien und Organisationen Südasiens.