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Venezuela
Der Widerspruch zwischen indigener Bevölkerung und spanischen Konquistadoren wird rasch zu Gunsten letzterer entschieden.
Das Gebiet des heutigen Venezuela ist seit ca. 5.000 Jahren besiedelt. Columbus sichtet das Orinoco-Delta 1498 bei seiner dritten “Westindien”-Fahrt – und damit erstmals das Festland des südamerikanischen Kontinents.
1499 erkunden der italienische Seefahrer Amerigo Vespucci und der Spanier Alonzo de Ojeda im Auftrag Spaniens die Ostküste Südamerikas, gehen im (250 km breiten) Orinoco-Delta an Land und nehmen das Gebiet mit päpstlicher Genehmigung für die spanische Krone in Besitz. Da sie ein auf Pfählen gebautes Indianerdorf an Venedig erinnert, nennen sie es “Veneciola” (Klein-Venedig).
Die Besiedlung des Landes durch die Europäer beschränkt sich vorerst auf die vorgelagerten Inseln Margarita und Cubagua sowie einige Goldgräberdörfer entlang der Küste. Innerhalb weniger Jahrzehnte beuten die Spanier die reichen Muschelbänke (Perlen) der Inseln vollkommen aus und versklaven oder vertreiben die ansässigen Indigenas.
Der Habsburger Karl V., Kaiser des “Hl. röm. Reiches dt. Nation”, gleichzeitig spanischer König, gibt 1528 einen Teil Venezuelas dem Augsburger Bankier Welser zu Lehen, um so seine Schulden bei ihm zu begleichen. Die Deutschen besiedeln die tropischen Niederungen am Maracaibosee. Ambrosius Dalfinger gründet im Namen des Handelshauses die Stadt Coro. Er wird 1533 von einem Indianerpfeil getötet. Nachdem die Kolonisatoren es vorziehen, im Landesinneren nach dem sagenhaften Schatz des Chibcha-Reiches zu suchen, anstatt das Land zu kolonisieren, werden Philipp von Hutten, Bartolomäus Welser und andere schließlich von den Spaniern wegen Nichterfüllung ihres Vertrags (“conquistar y poblar” – erobern und bevölkern) hingerichtet. 1546 wird dem Bankhaus Welser die Konzession wieder entzogen.
Mitte des 16. Jahrhunderts beginnen die Spanier mit der systematischen Kolonisierung Venezuelas und gründen die Stadt Valencia. Das Land ist, wie alle spanischen Besitzungen Südamerikas, Bestandteil des 1543 gegründeten Vizekönigreichs Peru, die Kolonien werden systematisch ausgeplündert (Gold, Perlen), die indigene Bevölkerung nahezu ausgerottet: Innerhalb von fünf Jahrzehnten fallen 90% der indigenen Bevölkerung Amerikas dem Völkermord der spanischen Konquista zum Opfer. Von geschätzt 80 Millionen überleben nur rund 10 Millionen die Massaker, von den Europäern eingeschleppten Krankheiten und die Zwangsarbeit für die Spanier.
Aus Räubern werden Gutsbesitzer
1567 gründen die Spanier in 1.000 Metern Seehöhe die heutige Hauptstadt Caracas. Im 17. Jahrhundert beginnt die großangelegte Plantagenwirtschaft in Venezuela, die Arbeitskräfte sind aus Westafrika verschleppte Sklaven.
Venezuela übernimmt, wie die anderen Kolonien, die Rolle des Exporteurs von Rohstoffen und tropischen Agrarprodukten. Aus den Exporterlösen wird der Import von Industrieprodukten, vorwiegend zum Luxuskonsum, teilweise zum Ausbau von Hafenanlagen bestritten. Handwerkliche oder industrielle Produktion scheitert an der Weltmarktkokurrenz (Importe aus Europa) und wird von den Kolonialherren auch gar nicht gewünscht.
Ab 1630 gelangen die Inseln Aruba, Curacao und Bonaire vor der Küste Venezuelas (“Niederländische Antillen”) in den Besitz der Holländer, und blieben es bis heute. Seit 1954 besteht für die Inseln innere Selbstverwaltung. Heute befinden sich hier große Ölraffinerien.
1717 wird Venezuela neben Kolumbien, Panama und Ecuador dem neuerrichteten spanischen Vize-Königreich “Nueva Granada” angegliedert, 1777 wird es zum spanischen Generalkapitanat mit eigener Verwaltung eklärt.2
Die Kolonisierung von Südamerika führt zu einem neuen Widerspruch zwischen Kreolen und spanischer Vorherrschaft sowie dem zwischen Kreolen und versklavten PlantagenarbeiterInnen.
Seit 1775 nehmen die Unabhängigkeitsbestrebungen der in Venezuela geborenen Spanier (Kreolen genannt) zu. 1797 kommt es zum ersten großangelegten Aufstand der Bevölkerung gegen die spanische Oberherrschaft. Er scheitert, ebenso ein weiterer Aufstand 1806.3
Es sind die im Rahmen des wirtschaftlichen Aufschwungs erstarkten Plantagenbesitzer, die Unabhängigkeitsbewegung antreiben. Ihnen geht es primär um die Aufhebung des spanischen Handelsmonopols und der von Spanien auferlegten Zölle. Sie fürchten aber auch ein Übergreifen sozialreformerischer Ideen aus dem 1808 von Napoleon besetzten Spanien. Die kastenartige Gesellschaftsstruktur einer kleinen kreolischen Oberschicht und der großen Masse der farbigen Plantagen­ar­be­iter­In­nen, die Grundlage der Plantagenwirtschaft, scheint bedroht.4Den versklavten afrikanischen Plantagenarbeitern geht es schlicht um ihre Freiheit, deshalb schließen sich viele von ihnen den Rebellen an.
Am 5.11.1811 setzen aufständische Militärs unter Führung von Francisco de Miranda den spanischen Generalkapitän ab und erklärt das Land für unabhängig. Es gelingt jedoch nicht, die spanischen Truppen ganz aus Venezuela zu vertreiben, es folgen jahrelange erbitterte Kämpfe mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Den Spaniern gelingt es 1814 noch einmal, dank der recht zahlreichen königstreuen Venezolaner, das Land wieder unter ihre Herrschaft zu bringen.
Doch der Unabhängigkeitskrieg geht weiter, und am 24.6.1821 vertreibt der in Caracas geborene Revolutionär Simón Bolívar, inzwischen zum Präsidenten der bereits 1819 proklamierten Republik Groß-Kolumbien (Kolumbien und Venezuela) gewählt, mit seinem Sieg in der Schlacht bei Carabobo die Spanier endgültig auch aus Venezuela. Wenig später schließen sich Panama und das inzwischen ebenfalls von der spanischen Herrschaft befreite Ecuador Groß-Kolumbien an. Doch die Einheit Nord-Südamerikas hält nicht lange, noch vor dem Tod Bolívars am 17.12.1830 zerfällt Groß-Kolumbien und Venezuela wird selbständige Republik – die Großgrundbesitzer haben sich durchgesetzt.5
Parallel zum Unabhängigkeitskrieg werden bis 1815 bürgerkriegsartige Kämpfe von Sklaven und Mulatten gegen die weiße Oberschicht um die Gesellschaftsordnung der neuen Republik geführt. Nach dem “Haiti-Schock” – in dem sich von Frankreichs Herrschaft befreienden Inselstaat wird nach einem Volksaufstand die weiße Bevölkerung fast vollständig getötet oder vertrieben – lehnen die weißen südamerikanischen Unab­hän­gig­keits­führer die Öffnung der Bewegung gegenüber den andersfarbigen Volksgruppen teilweise unter Anwendung von Gewalt ab.6
Nach Erringung der Unabhängigkeit beginnen die Auseinandersetzungen der venezolanischen Bourgeosie untereinander.
Die Plantagenwirtschaft schafft einerseits eine ländliche Bourgeoisie, die meist von sogenannten “caudillos” angeführt wird (Plantagenbesitzer sind gleichzeitig Befehlshaber ihrer Privatarmeen) und einen föderalistischen Staat mit schwacher Zentralregierung möchte. Andererseits entsteht in den Hafenstädten eine Handelsbourgeoisie, die die Importe und Exporte kontrolliert und sich für einen starken Zentralstaat einsetzt. Gleichzeitig drängen die SklavenarbeiterInnen auf den Plantagen auf ihre Befreiung. Schließlich wird 1854 die Sklaverei gegen den Widerstand der Großgrundbesitzer abgeschafft. Trotzdem bleiben die “caudillos” tonangebend im Land.7
Der Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg hat fast ein Drittel der Bevölkerung das Leben gekostet, die Kakaoplantagen sind weitgehend zerstört, die staatliche Ordnung und Verwaltung zusammengebrochen. Die Spannungen zwischen ländlicher und städtischer Bourgeoisie auf der einen und zwischen Plantagenbesitzern und Sklaven bzw. LandarbeiterInnen auf der anderen Seite setzen sich weiterhin fort.
Bis 1964 wird es in Venezuela keine reguläre Übergabe der Staatsführung von einem gewählten Präsidenten auf den nächsten geben.8
Von 1831 bis 1861 regiert der Diktator General José Antonio Páez als Präsident die Republik Venezuela. Dank der guten Weltmarktpreise für Kaffee und Kakao erlebt das Land vorerst einen wirtschaftlichen Aufschwung, der für einen relativen inneren Frieden sorgt. In den letzten Jahren seiner Präsidentschaft nehmen die Auseinandersetzungen zwischen Großgrundbesitzern und Handelskapitalisten aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Probleme zu und wieder bürgerkriegsähnlichen Charakter an. Mit der Umstrukturierung Venezuelas in einen Bundesstaat am 22.4.1864 setzen sich schließlich die Großgrundbesitzer durch, aber von innerem Frieden kann keine Rede sein. Es folgen verschiedene Militärregierungen, unter denen es zu Grenzstreitigkeiten mit Kolumbien und Konflikten mit Großbritannien, den Niederlanden und den USA kommt.
Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten wie Argentinien oder Chile bleibt die Industrialisierung in Venezuela bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts marginal. 1891 lebt der größte Teil der 2,3 Millionen EinwohnerInnen auf dem Land, in der Hauptstadt leben zu dieser Zeit gerade 72.000 Menschen. Diese Rückständigkeit liegt vor allem an den Folgen des Bürgerkriegs: die vielen Opfer, die dieser forderte, die Zersplitterung des Landes (caudillos), die daraus resultierende Unterentwicklung des Transportwesens, all das läßt Venezuela lange Zeit noch weniger Möglichkeiten zur Entwicklung als benachbarten Ländern.
Die Erdölindustrie löst die Agrarproduktion ab
1908 putscht sich General Juan Vicente Gómez an die Macht, der Diktator regiert bis zu seinem Tod 1935. Gómez, der letzte venezolanische caudillo des klassischen Typs, beendet das für Lateinamerika im 19. Jahrhundert typische Schema liberaler (Grundbesitzer) und konservativer (Handelsbourgeoisie) politischer Parteien, indem er sie in seine oligarchische Regierung einbindet. Die Erdöleinnahmen nutzt er u.a. für den Aufbau einer stehenden Armee (die Mannschaftsstärke stieg zwischen 1902 und 1920 von 5.000 auf 50.000), zum Ausbau der Verkehrswege und zur Zentralisierung der Verwaltung.9
Mit der Entdeckung von Erdölquellen und dem rasch wachsenden Bedarf an Mineralölprodukten in den imperialistischen Metropolen ändern sich für Venezuela die grundlegenden Voraussetzungen zur Entwicklung: Die Kosten für die Erdölförderung liegen zu dieser Zeit in allen Entwicklungsländern niedriger als in den USA, deren Kosten den Weltmarktpreis für Öl bestimmen. Diese Differenz kann von den betreffenden Ländern abgeschöpft werden, sobald sie ihre Rechte als Grundbesitzer gegen die Ölkonzerne durchsetzen.
Als erste erwirbt 1907 Royal Dutch/Shell, der britisch-holländische Konzern, Konzessionen zur Ausbeutung der venezolanischen Erdölfelder. Bis 1918 hält diese Firma nahezu das Monopol auf Erdöl in Venezuela. 1921 steigt dann der US-Konzern Standard Oil10ins Geschäft ein, gefolgt von Gulf Oil (USA), gemeinsam überholen sie 1929 Shell in der Ausbeute. Ab 1932 ist die Standard Oil der wichtigste Ölproduzent in Venezuela, Shell bleibt aber – in Zusammenarbeit mit Standard Oil – präsent.
Hein: In dieser Phase stellt der Außenhandel Venezuelas mit den kapitalistischen Metropolen keinesfalls einen Werttransfer in dieselben dar, sondern eher umgekehrt einen Werttransfer zu Gunsten Venezuelas: Das exportierte Öl verkörpert weniger gesellschaftliche Arbeitskraft als die mit den Öleinnahmen gekauften Importwaren. Venezuela leidet daher seit den 30er Jahren lange Zeit – im Gegensatz zu den meisten Trikontländern – nicht an Devisen- und Kapitalmangel.
Andererseits bildet der Ölsektor eine Enklavenwirtschaft innerhalb des Landes. Seit Mitte der 20er Jahre werden rund 95% des geförderten Erdöls exportiert, die Produktionsmittel dagegen importiert. Bis 1948 steigt die Anzahl der Beschäftigten in diesem Sektor gerade mal auf 55.170, das sind 3,7% der ökonomisch aktiven Bevölkerung. 1977 sind es nur noch 0,6%. Die Entwicklung des Ölsektors basiert auf ausländischem Kapital, wodurch die Abhängigkeit des Landes eine neue Qualität erreicht: Mit der Entwicklung dieses Sektors wird Venezuela aus einem Land mit marginaler Bedeutung für US-Investitionen zum wichtigsten Investitionsland in Lateinamerika (1914: 0,5% aller US-Investitionen in Lateinamerika fielen auf Venezuela, 1950: 19,6%)
Für die Regierung Gómez bedeutet das Erdöl das Überleben, weil es dem Land einen wirtschaftlichen Aufschwung beschert, der zentral zu kontrollieren ist – im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen weiterhin dezentral organisierte Agrarproduktion vorherrscht. Dieser Aufschwung ist aber extrem einseitig: Einerseits können über die Einnahmen aus den Ölexporten viele Sektoren der Wirtschaft subventioniert werden, andererseits bringen sie eine Überbewertung der nationalen Währung, was die Exporte von Agrarprodukten erschwert. In der Folge kommt es zu einer Landflucht. Caracas und Maracaibo bieten Arbeitsplätze in der Verwaltung der Ölindustrie, dem Handel und der staatlichen Bürokratie, die rasch wächst.
Die Weltwirtschaftskrise bedeutet das Ende des Agrarsektors in Venezuela sowohl hinsichtlich des Exports als auch bezüglich der Eigenversorgung des Landes. Die Städte bieten nicht mehr annähernd genug Arbeitsplätze für die neu Zugezogenen, und immer mehr Arbeitslose müssen ihr Dasein als Schuhputzer, Losverkäufer etc. bestreiten.
Der Beginn der Arbeiter- und Studentenbewegung unter der Diktatur Gómez
Die Erdölindustrie schuf ein modernes Proletariat in Venezuela, die Ölarbeiter wohnten konzentriert in wenigen Camps und konnten sich daher relativ leicht organisieren. Die völlige Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl bedeutete aber auch, daß die relativ wenigen Arbeiter in diesem Sektor gegenüber den anderen privilegiert waren. Jeder längere Streik bedrohte die “nationalen Interessen” und wurde deshalb entweder militärisch niedergeschlagen, oder die Arbeiter konnten große Zugeständnisse erreichen. Unter dem Blickwinkel der “Arbeitsplatzsicherheit” tendierten die Erdölarbeiter (eine Form der Arbeiteraristokratie?) aber auch oft dazu, mit ihren Herren gemeinsame Sache zu machen.
Neben dem Proletariat im Erdölsektor entstand zusäzlich eine kämpferische städtische Mittel- und Arbeiterschicht. Im Frühjahr 1928 konnte Gómez nur durch Truppeneinsatz Unruhen unter Kontrolle bringen, an denen Studenten, streikende Transport- und Dockarbeiter und junge Offiziere beteiligt waren. Sie wurden später als “Generation von 1928” bekannt, darunter Rómulo Betancourt, AD-Gründer (AD: Acción Democrática, bis 1941 unter dem Namen PDN – Partido Democrático Nacional, quasi-sozialdemokratische Partei), und andere prominente Politiker der 50er Jahre. Als politische Organisation blieb aber nur die Studentenbewegung zwischen 1920 und 1935 die einzige organisierte Opposition im Land bestehen. Sie war die Keimzelle für die sich im Exil formierenden, links orientierten Parteien.
Die Absetzung des Diktators per Staatsstreich durch den Kriegsminister General Eleazar López Contreras (1935 – 1941) machte den Massen den Weg frei für die Artikulation ihrer Forderungen. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zu riesigen Demonstrationen für die Verbesserung der ökonomischen Situation der Massen und Demokratisierung, zur Bildung politischer Clubs, Komitees und Volksmilizen in den Städten. Es entstanden die ersten Gewerkschaften und Bauernverbände, weitere Studentenorganisationen und 17 politische Parteien. Aber schon 1937 waren viele ihrer Mitglieder verhaftet, im Exil oder im Untergrund. Im Grunde überstanden nur der PCV (Partido Comunista de Venecuela) und die AD die erste Repressionswelle.
1936 wurde die venezolanische Verfassung verabschiedet, die u.a. einen Kongreß und einen von diesem auf vier Jahre gewählten Präsidenten vorsah. Faktisch wurde das Land aber weiterhin diktatorisch regiert. Ab 1941 begann die AD mit dem Aufbau einer nationalen Parteistruktur. Der PCV wurde legalisiert, eine neue Verfassung verabschiedet.
Die erste demokratische Phase 1945 – 48
Aber die Diktatur blieb. Das führte zu einer Allianz von AD, PCV und jungen Armeeangehörigen der Patriotischen Militärischen Union, die mit Waffengewalt gegen die Regierung vorging. Am 18.10.1945 wurde die Militärregierung gestürzt und eine Revolutionäre Regierungsjunta unter AD-Gründer Rómulo Betancort übernahm die Regierung. COPEI (Comité de Organizacíon Politico-Electoral Independiente, eine christlich-soziale Partei) und weitere Parteien wurden gegründet. Im Oktober 1946 fanden die ersten allgemeinen Wahlen in Venezuela statt, bei der erstmals auch Frauen das Wahlrecht hatten. Die AD erhielt fast 80% der Stimmen.
Bezüglich des Erdöls versuchte die AD-Regierung, den Staatsanteil an den Abgaben zu erhöhen, wie schon frühere Regierungen auch: 1938 hatte Venezuela erstmals die Bremse angezogen und die Royalties (Abgaben für Ölförderung) angehoben. Die Konzerne ignorierten eine Zeitlang diese steuergesetzliche Änderung. Während des 2. Weltkriegs übte allerdings sogar die US-Regierung Druck auf die Konzerne aus, die venezolanischen Gesetze zu respektieren: die Verfügbarkeit über Erdöl war einfach zu wichtig geworden. 1943 wurden die Royalties auf 16 2/3% der Bruttoproduktion festgesetzt, die AD schraubte die Gewinnbesteuerung der Konzerne auf 50% hoch.
Diese erste demokratische Phase in Venezuela war gekennzeichnet durch die Übermacht der AD, gegen die rasch kirchliche und andere Kreise opponierten. Die AD setzte eine Agrarreform und eine Gewinnbeteiligung der ArbeiterInnen in ihren Betrieben durch und verdrängte die katholische Kirche aus dem Schulunterricht. Die Partei verhielt sich als Alleinherrscherin und schuf sich dadurch rasch Feinde sowohl auf der “linken” als auch auf der “rechten” Seite.
Die zweite demokratische Phase – gegen die Kommunisten
1948 stürzten COPEI und andere Parteien gemeinsam mit Teilen der Armee die Regierung und General Marcos Pérez Jiménez wurde neuer Militärdiktator. Während der Diktatur Jiménez’ wurden die politischen AktivistInnen wiederum in den Untergrund oder ins Exil gedrängt. Die Emigranten verloren zusehends Kontakt zu den Aktivisten, die im Land verblieben waren. Die Notwendigkeit der klandestinen Arbeit führte bei den Aktivisten in Venezuela zu einer starken Parteidisziplin. Es wurden Überlegungen angestellt, wie die Diktatur durch gemeinsame Aktionen zu stürzen sei.
Die verschiedenen Oppositionsgruppen vereinigten sich im Mai 1957 zur “Junta Patriotica”, um gemeinsam auf den Sturz des Regimes hinzuarbeiten. Mit der Rebellion einer Luftwaffen- und Armeegarnison in der Nähe von Caracas begannen drei Wochen nahezu ununterbrochener Massendemonstrationen und Unruhen in Caracas. Als am 22.1.1958 der Aufruf zum Generalstreik im ganzen Land befolgt wurde, verließ Jiménez am folgenden Morgen fluchtartig das Land.11
Es folgte eine kurze Zeitspanne, in der die zuvor im Untergrund gewesenen Parteimitglieder einen gewissen Einfluß geltend machen konnten. Aber die Entscheidung über die Zukunft Venezuelas war bereits anderswo getroffen worden. Bereits im Exil hatten die Führer von AD und COPEI in New York vereinbart, was schließlich im “Pakt von Punto Fijo” am 31.10.1958 festgeschrieben wurde: Die Führer von AD, COPEI und URD (Unión Republicana Democrática), Verteter der Unternehmerverbände (Fedecámaras), der Gewerkschaft CTV, der katholischen Kirche und der Armee beschlossen eine Regierung der nationalen Einheit.
Grundlage für diesen Pakt war die Verständigung darauf, ideologische Unterschiede anzuerkennen, aber zugunsten einer bürgerlichen Demokratie auch hinanzustellen, um die Herrschaft der Bourgeoisie insgesamt unangreifbar zu machen. Damit wurde der PCV von praktisch allen anderen “demokratischen” Organisationen aus jeglicher Regierungsbeteiligung ausgeschlossen.
Es wurde ein Zweikammern-Parlament geschaffen, und bis 1998 regierte in Venezuela entweder ein AD- oder ein COPEI-(naher) Kandidat. Die verschiedenen kleineren Parteien wurden mit wenigen Ausnahmen mehr und mehr zu Anhängseln einer der beiden großen Parteien, und jede Regierung versank mehr in Korruption als die vorhergehende.
Mit der Rückkehr des Parteigründers und neuen Präsidenten, Betancourt, entwickelte sich die AD rasch nach rechts. Die Revolution in Cuba 1959 strahlte auch auf Venezuela aus, die Diskussion über einen sozialistischen Weg in Venezuela führte 1960 zum Ausschluß der AD-Jugend aus der Partei wegen “prokommunistischer Äußerungen”. Die Ausgeschlossenen gründeten den MIR (Movimiento Izquierda Revolucionaria) und bildeten im Parlament mit 17 Abgeordneten eine eigene Fraktion.
Im Oktober 1960 rief die MIR-Zeitung zu einer Volkserhebung auf, um “die gegenwärtige untätige Regierung gegen eine Regierung auszutauschen, die die wahren Interessen des Volks vertritt”. Daraufhin wurden einige Redakteure der Zeitung verhaftet, worauf es zu Demonstrationen, Streiks der Studenten und Bombenattentaten in vielen Städten des Landes kam. Die Unruhen hielten zehn Tage lang an, Polizei und Militär töteten sechs Demonstranten und nahmen ca. 500 fest.12
Die 60er Jahre waren gekennzeichnet von Guerillaaktivitäten, Parteispaltungen und Neugründungen (AD-Abspaltungen ADOP und MEP, Gründung der FND – “Unabhängige”, CCN – Jiménez-Sympathisanten, 1968 Spaltung des PCV nach dem “Prager Frühling”).
Ab 1961 gab es in Venezuela eine Guerilla, die allerdings von den Bauern wenig Unterstützung bekam. Gleichzeitig verübten Jiménez-Anhänger Anschläge. Im Frühjahr 1963 wurden die einzelnen Guerillaverbände zur Nationalen Befreiungsarmee (FALN) zusammengefaßt sowie die FLN (Frente de Liberacíon Nacional) als politische Organisation gegründet. Die Guerillaaktivitäten nahmen rasch zu, und es kam zu Aufständen von Marineeinheiten, die Kontakte zu MIR und PCV hatten. Ziel der FLN war es, die AD-Herrschaft in einem breiten Bündnis mit allen nationalen Kräften zu Sturz zu bringen, wie es das Programm von 1963 ausdrückte: nationale Befreiung Venezuelas vom Neokolonialismus, d.h. Beseitigung der von der AD vermittelten diktatorischen Herrschaft des US-Imperialismus; Vorbereitung der Nationalisierung der Ölproduktion, Erhöhung des venezolanischen Anteils an den Ölprofiten, Anhebung des Ölpreises; Nationalisierung des Eisenerzbergbaus; Agrarreform; Senkung der Lebenshaltungskosten der Massen etc. Die FLN scheiterte aber rasch, u.a. weil der venezolanische Staat durchaus Initiativen wie etwa die Gründung der OPEC zur besseren Kontrolle über das Erdöl setzte.13Ein Fehler der Guerilla war die Verlagerung des Schwerpunktes ihres Kampfes aufs Land zu einer Zeit, da bereits die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den Städten lebte. Die Regierung konnte sich auch deshalb behaupten, weil sie durch die Erdöleinnahmen dem organisierten Teil der Arbeiterschaft materielle Verbesserungen verschaffen konnte. Damit spaltete sie die Opposition in einen legalen, parlamentarisch orientierten und einen illegalen Flügel, der kriminalisiert, isoliert und dann zerschlagen werden konnte. Der bewaffnete Kampf wurde zwar bis 1973 fortgesetzt (der PCV stellte ihn 1967 ein).
Bei den Wahlen 1973 waren faktisch nur noch AD und COPEI übrig geblieben, die Wahl bestand – nach US-Vorbild – zwischen “Mitte” und “Mitte” (was heißt zwischen “Rechts” und “Rechts”).14
Wirtschafts- und Sozialpolitik der bürgerlichen Fraktionen
Die gesamte Phase von 1958 bis 1998 war gekennzeichnet von der Vorherrschaft der AD und des COPEI, die in unterschiedlicher Zusammensetzung oder Alleinregierungen das Land kontrollierten. Insgesamt überdeckte der Konsens von 1958 die Spannungen zwischen den herrschenden Gruppierungen:
Präsident Perez (AD) und seine Gesinnungsgenossen verfochten eine Nationalisierung der Bodenschätze und der Grundstoffindustrie und sahen die privaten Unternehmer als “Werkzeuge” des demokratischen Staates, die als Gegenleistung für ihre Profite einen wachsenden Teil der sozialen Kosten der Entwicklung zu übernehmen hätten.
Die hier Angesprochenen waren auf der einen Seite der sogenannte “aufsteigende Sektor” der Bourgeoisie – Vertreter des Bank- und Handelskapitals, die eng mit dem Staatsapparat verknüpft waren. Sie regten etwa den Aufbau einer petrochemischen Industrie als Joint-Venture von Staat und venezolanischem Privatkapital an. Die andere Fraktion der Bourgeoisie findet sich in Fedecámaras, dem Unternehmerverband, wieder. Sie steht für eine liberale Marktwirtschaft, d.h. die Selbstregulierung der Wirtschaft über marktbestimmte Preise. Der Staat soll ihr zufolge lediglich für den Ausbau der Infrastruktur und die Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen herhalten. Allerdings sprach sich auch diese Fraktion nicht gegen die Nationalisierung der Ölförderung aus.
Die AD verfocht eine typisch sozialdemokratische Politik: Nachdem es bereits 1958 und 1959 zu hunderten spontanen Landbesetzungen gekommen war, mußte die Regierung eine Landreform ins Auge fassen. Allen Landarbeitern und Kleinbauern (Campesinos) wurde das Recht auf ausreichend Land zur Selbstversorgung zugesprochen – ein Recht, das oft genug nur auf dem Papier stand. Denn im Mittelpunkt der AD’schen Landreform stand keineswegs die Hebung des Lebensstandards der Masse der Landbevölkerung. Vielmehr ging es der AD um die Integration der Landwirtschaft in die Marktwirtschaft, d.h. der Aufbau und Erhalt rentabler Betriebe. Deshalb fielen z.B. Besitzungen, die ihre “soziale Funktion erfüllen” (also effizient bewirtschaftet wurden), nicht unter die Landreform.
In der Industrie stand die “Substitution der Importe” im Mittelpunkt der AD-Politik. Die Entwicklung der Grundstoffindustrie wurde dabei als eine Aufgabe des Staates betrachtet, während alle anderen Industriesektoren dem privaten Sektor vorbehalten blieben. Konkret wurde das nationale Straßennetz ausgebaut, das Land elektrifiziert und das “Guayana-Projekt” in Angriff genommen, ein Stahlwerk und ein Wasserkraftwerk am Caroni. Weiters wurde der Wohnungsbau angekurbelt, um Arbeitsplätze und Wohnraum zu schaffen.
Sozialpolitisch wurden zwar einige Modelle der kapitalistischen Metropolen wie Sozialversicherung übernommen. Damit wurden aber nur diejenigen Arbeiter erreicht, die einer traditionellen Lohnarbeit nachgehen konnten, der Rest fiel durch den Rost.
Die Vervierfachung des Ölpreises 1973 schuf günstige Voraussetzungen für die Entwicklung der nationalen Industrie. 1976 wurden die Eisenerz- und die Ölindustrie nationalisiert. Dieser Schritt wurde bereits zuvor (zwischen 1970 und 1974) von allen anderen OPEC-Staaten gesetzt (Nationalisierung oder zumindest Mehrheitsanteil des Staates an Ölunternehmen im Land). Exxon (Standard Oil) etwa wurde mit über 1 Milliarde US-Dollar abgefunden.
1973 wurde mit dem Bau der U-Bahn von Caracas begonnen, weiters wurden das Eisenbahnnetz und Hafenanlagen ausgebaut, wogegen die Ausgaben für soziale Verbesserungen (wie Bildung) relativ niedrig blieben. Dagegen nahm die Korruption überhand, ehrgeizige Entwicklungsprojekte verliefen zunehmend im Sand, und die Aufnahme von internationalen Krediten, die durch die Erdöleinnahmen gedeckt schienen, rächte sich bald. Venezuela fiel zunehmend dem IWF und der Weltbank in die Hände.
Als 1979 eine konservative Regierung antrat, befand sich Venezuela bereits in einer ökonomischen Krise. Der Staatsverschuldung, die trotz der Erdöleinnahmen seit 1977 ständig steigt, wurde mit einem neoliberalen Programm begegnet. So wurden die Preisbindungen für Grundnahrungsmittel aufgehoben. Es kam zur Inflation und 1983 zu einer massiven Kapitalflucht. Auch die wieder an die Macht gekommene AD unter Präsident Perez (1988) verfolgte eine neoliberale Politik mit Abwertung des Bolívar, der Kürzung von Subventionen und starken Preissteigerungen (ca. 100%). Das führte schließlich am 27.2.1989 zu Unruhen und Plünderungen. Die Proteste richteten sich nicht nur gegen die venezolanische Regierung, sondern auch gegen IWF und Weltbank. Perez ließ den Ausnahmezustand ausrufen, der Aufstand in Caracas (“Caracazo”) forderte 1000 Tote. Aber viele Soldaten und ihre Kommandanten weigerten sich, auf die Demonstranten zu schießen. Die Verarmung der venezolanischen Bevölkerung stieg nun rasch an. 1991 war bereits1/3 verarmt, mit Streiks wurde der Rücktritt der Regierung Perez gefordert. Im Laufe der 90er Jahre verarmten nach und nach 80% der Bevölkerung, es gab Finanzkrisen, Bankenkrachs und immer weitere Abwertung des Bolívar.
Die parlamentarische “Bolivarische Revolution”15
In seiner Kritik am bewaffneten Kampf der 60er Jahre in Venezuela bemerkt Hein: “die konsequente Verfolgung einer nach innen basisorientierten, nach außen nationalistischen Politik im Rahmen der bürgerlich-demokratischen Strukturen hätte langfristig die politischen Kräfteverhältnisse wahrscheinlich wirkungsvoller verändern können.” Nach seinem mißlungenen Staatsstreich 1992 verfolgte Hugo Chávez eben diese Politik. Wer ist der seit 1998 amtierende venezolanische Präsident?
Hugo Chávez wurde 1954 als Sohn eines Lehrerehepaars in Sabaneta, einem Ort in der venezolanischen Savanne im Bundesstaat Barinas geboren. Als 18jähriger begann er seine militärische Laufbahn mit dem Eintritt in die Militärakademie. 1982 gründete er die “Revolutionäre bolivarische Bewegung 200” (Movimiento Revolucionario 200/MBR-200) “im Gedenken an den 200jährigen Geburtstag des Befreiers” (Simón Bolivár).
Chavez war einer der Militärs, die sich beim “Caracazo” 1989 weigerten, in die Demonstranten zu schießen. Am 3.2.1992 mißlang ein Staatsstreich der “MBR 200”. Als Oberstleutnant – dieser Dienstgrad wird auch als “Comandante” bezeichnet – verantwortete Chávez im Rahmen des Putschversuchs vor laufender Kamera den Fehlschlag der Operation in der Hauptstadt Caracas und erwarb sich damit schlagartig das Image eines gescheiterten, aber aufrechten Helden, der von jenem Augenblick an seine in den Garnisonsstädten Maracaibo, Maracay und Valencia erfolgreichen Kameraden überstrahlte. Er verbrachte zwei Jahre in Haft, bis ihn der damalige Staatspräsident Caldera zusammen mit seinen Mitverschwörern begnadigte.
Aus der Haft entlassen, entfaltete er eine rastlose politische Aktivität, besuchte jeden Winkel des Landes, baute seine politische Basis auf und entschied sich schließlich für eine Kandidatur im Präsidentschaftswahlkampf 1998, nachdem er noch 1995 zum Boykott der damaligen Regional- und Gemeinderatswahlen aufgerufen hatte. Gemeinsam mit seinen Putschkameraden wandelte er die Militärloge MBR-200 in eine politische Partei unter praktisch demselben Kürzel MVR (“Movimiento Quinta República”) um.16
Bei den Parlamentswahlen von 1998 kandidierte der MVR in einem Bündnis, dem der MAS (Movimiento al Socialismo), der MEP (Movimiento Electoral del Pueblo), der PCV sowie 5 weitere Parteien (die den Mittelstand und die Bauern vertreten) angehörten. Das Wahlprogramm versprach einen “Kapitalismus mit menschlichem Antlitz”, den “Kampf für die Freiheit, die Liebe und das Vaterland”, partizipative Demokratie, eine unabhängige Justiz, die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, den Kampf gegen Klientelismus, Korruption und Steuerhinterziehung. Das Bündnis gewann die Wahlen, von den erhaltenen Stimmen fielen auf den MVR 80%. Die Präsidentschaftswahlen 1999 gewann Chávez mit 56% der Stimmen, bei den Präsidentschaftswahlen 2000 erhielt Chávez 60%.17
Wie versprochen, wurde 1999 eine neue Verfassung erarbeitet und per Volksabstimmung beschlossen. Ihr 1. Artikel lautet: “Die bolivarische Republik Venezuela ist unwiderruflich frei und unabhängig und gründet ihr moralisches Erbe sowie ihre Werte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden unter den Völkern auf die Lehren Simón Bolívars, des Befreiers.”
Das Zweikammernparlament nach US-Vorbild wurde aufgelöst und durch ein Einkammernparlament mit 165 Sitzen ersetzt. Dafür wurde ein Konföderationsrat mit ca. 70 Mitgliedern eingerichtet, der die Bundesstaaten repräsentiert. Er setzt sich aus den Regierungsmitgliedern, Gouverneuren, einem Bürgermeister je Bundesstaat und Vertretern der Zivilgesellschaft zusammen.
Die Auswahl von Obersten Richtern, Mitgliedern des Wahlrats, dem Präsidenten des Rechnungshofes und des Generalstaatsanwalts erfolgt durch Kommissionen, an denen die Zivilgesellschaft zu beteiligen ist. Der Staatspräsident kann per Volksabstimmung seines Amtes enthoben werden, wie überhaupt das Instrument der Volksabstimmung aufgewertet wird (etwa zur Amtsenthebung aller gewählten Amtsträger, für Gesetzesinitiativen, die Abschaffung von Gesetzen).
Neu eingeführt wird die “Bürgergewalt” (Poder Ciudadano) und die “Wählergewalt” (Poder Electoral). Dabei geht es um die Untersuchung und Bestrafung von Tatbeständen, die gegen “die öffentliche Ethik und Moral der Verwaltung” verstoßen. Generell wird die Macht des Staatspräsidenten bzw. der Exekutive gegenüber der Legislative gestärkt, allerdings auch die “Zivilgesellschaft” eingebunden. Weiters werden die Rechte der indigenen Völker berücksichtigt: der Staat sichert diesen Völkern und Gemeinschaften gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie in den traditionell von ihnen bewohnten Gebieten zu. Bildung bis hin zur Universität ist nunmehr in Venezuela gratis.
Die wohlhabenden Schichten verschoben inzwischen enorme Mengen an Geld ins Ausland. Die Kapitalflucht 2000 wird auf 10 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Wirtschaftlich kündigte Chávez erhöhte Ausgaben im Gesundheitswesen und Baugewerbe an. Im Frühjahr 2000 wurden über 100.000 zusätzliche öffentliche Bedienstete aufgenommen sowie Lohnerhöhungen dekretiert. Trotz gestiegener Arbeitslosigkeit, Inflation und Staatsverschuldung sank die Popularität des Präsidenten vorerst nicht, ihm wurde allgemein Zeit eingeräumt, seine Maßnahmen umzusetzen.
Während der Andenpakt von der neuen Regierung eher vernachlässigt wird, kümmert sie sich umso intensiver um die Beziehungen zu den Nachbarländern. Kolumbien wurde zum “Patienten” erklärt, an dessen Therapie man sich aktiv beteiligen werde. Die venezola­nische Regierung traf ein Übereinkommen mit der FARC-Guerilla in Kolumbien, worin diese darauf verzichtet, Venezuela als Rückzugsgebiet zu nutzen. Dafür sperrte Chávez den venezolanischen Luftraum für US-Militärflugzeuge, die im Zuge des “Plan Colombia” (US-Plan zur Vernichtung der FARC und anderer kolumbianischer Guerillas) nach Kolumbien fliegen.
Viel Aufsehen erregten die neuen Beziehungen zu Cuba. Seit 1980 existiert mit dem Pakt von San José gewissermaßen eine Verpflichtung der OPEC-Länder Mexiko und Venezuela, einigen armen südamerikanischen und karibischen Staaten zu Vorzugspreisen täglich 160.000 Barrel Öl zu liefern. Cuba jedoch blieb – wegen der US-Pressionen – bislang davon ausgeschlossen. Im Oktober 2000 unterzeichneten Cuba und Venezuela ein Abkommen, um diesen Zustand zu beenden und Cuba in das Programm des San-José-Paktes aufzunehmen. Zusätzlich zum Öl-Geschäft vereinbarten die beiden Länder ein Programm der industriellen Kooperation.18
Im Oktober 2000 fand in Caracas ein Treffen der OPEC statt, von Chávez als “Wiederauferstehung” der Organisation bezeichnet. Chávez hält sich – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – an vereinbarte Förderquoten, was den Ölpreis in die Höhe trieb und Venezuela zusätzliche Einnahmen verschafft.
Im Dezember 2001 verabschiedete die venezolanische Regierung ein Gesetzespaket, welches unter anderem eine Sondersteuer für die multinationalen Ölkonzerne beinhaltete und wandte sich gegen das FTAA (Frei­handelsabkommen für Amerika). Gleichzeitig nahm sie intensivere Beziehungen zu China auf. Beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Jiang wurden Abkommen über eine gemeinsame Anlage zur Herstellung von “Orimulsion” (ein schweres Öl, das als Kohleersatz verwendet wird) unterzeichnet.
Der Widerstand gegen die V. Republik …
Im März 2001 streikten 52.000 Erdölarbeiter (92% der Beschäftigten in diesem Sektor), sie forderten die gleiche 15%ige Lohnerhöhung, wie sie auf Anordnung Chávez’ den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst gewährt wurde. Da die Löhne der Erdölarbeiter im Vergleich zu anderen Sektoren jedoch bereits extrem hoch sind, hätte eine derartige “Gleichbehandlung” aber eine weitere Verschärfung der Einkommensunterschiede bedeutet.
Die “Bolívarische Arbeiterkraft”, eine der Re­gierungspartei “MVR” nahestehende Ar­beiter­vereinigung, sah in dem Streik den Versuch, die geplante Umstrukturierung der Gewerkschaftsbewegung zu verhindern, wie sie von Chávez vorangetrieben wird.
Auch die Arbeiter in der Eisenhütte von Orinoco, der bedeutendsten im Lande, hatten zum Streik aufgerufen. 6.000 Beschäftigte (90%) der Belegschaft sind nach Angaben des Gewerkschaftsführers Ramon Machuca dem Aufruf gefolgt. Weiteren Zündstoff bieten der Konflikt der Elektriker, die im Südwesten des Landes streiken, und ein Protestmarsch von Senioren, die am Donnerstag den Verkehr im Zentrum der Hauptstadt vorübergehend zum Erliegen brachten.
Es fällt auf, daß die meisten besser verdienenden Arbeiter eher gegen die neue Regierung eingestellt sind, während diese ihre größte Un­terstützung aus den verarmten Schichten, vor allem den Slums um die großen Städte, erhält. Immer noch sind 80% der Bevölkerung verarmt, in der Hauptstadt lebt die Hälfte der 4,2 Millionen Einwohner in Elends­vierteln (barrios).
Aber die gefährlichsten Gegner der Regierung sind die venezo­la­ni­schen Kapitalisten, die Rückendeckung durch die imperialistischen Staaten, vor allem die USA, und deren Medien erhalten, in denen Chávez angegriffen wird, egal was er unternimmt.
… wird militant
Mit 3,1 Millionen Barrel19täglicher Fördermenge ist Venezuela weltweit der zweitgrößte Exporteur von Erdöl und der drittgrößte Lieferant der USA. Nach dem 11.9.2001 forderte Chávez, die USA sollen “Terrorismus nicht mit Terrorismus bekämpfen”. Die Angesprochenen reagierten prompt: Nach Informationen der Washington Post diskutierten vom 5. bis 7.11.2001 das US-Außenministerium, das Pentagon und die Nationale Sicherheitsagentur über eine Lösung des “Problems Venezuela”. Seitdem verbreiten die USA, daß Chávez Terroristen in Kolumbien, Bolivien und Ecuador unterstützt.
Tatsächlich ist ihnen ein Dorn im Auge, daß Chávez sich der FTAA widersetzt, innerhalb der OPEC auch mit Libyen, dem Irak und Iran zusammenarbeitet, um höhere Ölpreise durchzusetzen und sich einfach nicht verhält, wie die USA es von einem Präsidenten eines Trikont-Landes erwarten.
Eine Gruppe von Ex-Militärs, die Chávez ebenfalls feindlich gegenüberstanden, knüpfte die Verbindungen zwischen Militär, Arbeitgebern, rechten Gewerkschaftsführer und den alten Eliten, um die Macht an sich zu reißen.
Chronologie des Putschversuches
Samstag, 6.4.2002
Die Gewerkschaft CTV ruft für den 9.4. zu einem Generalstreik auf. Der Aufruf wird vom Unternehmerverband Fedecámaras unterstützt.
Sonntag, 7.4.
Chávez verkündet die Entlassung von sieben führenden Managern der staatlichen Öl­ge­sell­schaft PDVSA (Petróleos de Venezuela S.A.) wegen deren andauernden Konflikten mit von der Regierung am 16.3. neu eingesetzten Managern. Gleich darauf kündigt er eine 20%ige Anhebung der Mindestlöhne mit 1. Mai an, wogegen der Unternehmerverband sofort protestiert. Militärs besetzen die PDVSA-Anlagen, um die Aufrufer zum Streik zu unterstützen.
Dienstag, 9.4.
Die Regierung unterbindet die Sendungen von 16 kommerziellen Radios über den Streik. Das kommerzielle Fernsehen betreibt ein Screen-splitting: auf einer Hälfte des Bildschirms wird die offizielle Version der Vorfälle gezeigt, auf der anderen die Sichtweise der TV-Betreiber.
10hDer Streik beginnt. Die Regierung behauptet, er sei fehlgeschlagen.
17h40Der CTV weitet den Streik um 24 Stunden aus.
Mitwoch, 10.4.
Die Regierung versetzt Militärgarnisonen in Alarmbereitschaft. Darauf droht die CTV damit, einen zeitlich unbegrenzten Streik durchzuführen. Der Chef der Nationalgarde, Rafael Bustillo, ersucht das Militär, nicht gegen die Streikenden vorzugehen.
19h15 CTV und Unternehmerverband erklären einen unbefristeten Generalstreik mit dem Ziel, den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen. Verteidigungsminister Rangel fordert einen Dialog und erklärt, daß ein Staatsstreich stattfindet.
Donnerstag, 11.4.
Eine Gruppe von Streikenden besetzt das Hauptquartier der PDVSA in Caracas. CTV und der Präsident des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, rufen dazu auf, zum Präsidentensitz (Miraflores-Palast) zu marschieren, um den Rücktritt von Chávez zu fordern.
14h30 Vor dem Präsidentenpalast kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Schießereien und Konfrontationen zwischen Chávez-Unterstützern und der Opposition, die versucht, zum Palast vorzudringen. Mindestens 12 Menschen werden getötet, über 100 verletzt. Der Generalstaatsanwalt bietet sich an, im Konflikt zu vermitteln. Chávez läßt die kommerziellen TV- und Radiosender schließen, weil sie sich nicht an das Rundfunkgesetz halten.
17h30 Truppen verlassen Fort Tunja in Caracas und sperren mit Panzern die südliche Ausfallstraße von Caracas. Geschäftsleute und Gewerkschaften klagen die Regierung wegen der Toten vor dem Präsidentenpalast an, Scharfschützen hätten aus diesem geschossen. Ca. 10 Generäle der Nationalgarde, angeführt von General Héctor Ramírez verweigern Chávez die Gefolgschaft und verlangen seinen Rücktritt.
Abend Ein Konvoi von Panzern und Lastwagen mit 200 Männern von Fort Tunja zum Präsidentenpalast, um Chávez zu unterstützen. Die Armeeführung protestiert “gegen den Mißbrauch von Zivilisten durch Chávez”. Regierungssprecher ordnen das Massaker der “Bandera Roja” (Rote Fahne) zu, die zu Chávez in Opposition steht. In der Nacht verweigert die politische Polizei DISIP Chávez die Gefolgschaft.
Freitag, 12.4.
1h früh Die Medien verlautbaren, daß Chávez sich den militärischen Aufständischen ergeben hat. Armeekommandant Efraín Vásquez, der Sprecher der Rebellen, bestätigt, daß zwei Militärs mit Chávez darüber verhandeln, die Präsidentschaft niederzulegen. In den Straßen wird der mögliche Rücktritt von Chávez gefeiert. Die Marine schließt sich dem Staatsstreich an. Es wird verkündet, daß der Präsident zurückgetreten sei.
4h Chávez wird wegen des Massakers vom Donnerstag verhaftet und nach Fort Tunja gebracht. Eine Stunde später verkündet der Präsident der Unternehmerverbände Carmona, daß er die Präsidentschaft übernehmen und eine zivil-militärische Übergangsregierung bilden wird.
Nachmittag Der Generalstaatsanwalt sagt, Chávez sei nicht zurückgetreten.
Abend Carmona übernimmt die Präsidentschaft und kündigt eine Rücknahme vieler Reformen und den Erlaß einer Menge Gegenreformen an, sagt, innerhalb eines Jahres werde es Neuwahlen geben und entläßt Minister aus ihren Ämtern. Der Präsident der Nationalversammlung, William Lara, verurteilt die Verfolgung von Chávez-Anhängern und die “Illegalität” der neuen Regierung.
Samstag, 13.4.
Gruppen von Chávez-Unterstützern demonstrieren in Caracas und plündern Geschäfte. General Raul Baudel und eine Fallschirmjägerbrigade in Maracay bekunden ihre Unterstützung für Chávez. Jess Briceo, ein soeben ernannter Minister, gibt zu, daß Chávez nicht zurückgetreten ist. Die Frau des Präsidenten erklärt, dieser sei nicht zurückgetreten, sondern wäre entführt worden und wird gefangen gehalten. Carmona kündigt Änderungen seiner am Vortag angekündigten Gegenreformen an. William Lara sagt, die Nationalversammlung anerkenne die Übergangsregierung nicht.
Abend Anführer von Chávez-Unterstützern erklären im Fernsehen, daß sie Miraflores besetzt halten.
21h52 Der Vizepräsident unter Chávez, Diosdallo Cabello, übernimmt die Präsidentschaft, er wird von Lara vereidigt.
22h12 Carmona verkündet seinen Rücktritt, und anerkennt Cabello.
Nacht zum Sonntag, dem 14.4.
Präsident Chávez kehrt nach Miraflores zurück. In einer Ansprache an die Nation versichert er, daß es keine Repression gegen die Opposition geben werde. Diejenigen, die das Blutvergießen provoziert haben, würden aber nicht ungeschoren davonkommen. Er sagt, er sei nie zurückgetreten und stellt fest, daß er Unterstützung von Staatsoberhäuptern weltweit gehabt habe. In Caracas feiern die Massen seine Rückkehr. Carmona wird unter Arrest gestellt.
Erfahrungen aus einem Putschversuch
Der Putsch gegen Chávez war vorhersehbar. Bereits in seiner Ansprache vor dem venezolanischen Parlament am 30.10.2000 sagte Fidel Castro u.a. zu den Parlamentariern: “Sie sollten keinen Zweifel darüber hegen, daß seine [gemeint ist Chávez] Gegner, sowohl ausländische als auch heimische, versuchen werden, ihn physisch loszuwerden.”20Tage vor dem Putsch erhielt Chávez eine Warnung vom Generalsekretär der OPEC in Wien, Ali Rodriguez. Rodriguez ist Venezolaner, ehemaliger Guerillero und früherer Erdölminister Venezuelas. Er sagte, er habe erfahren, daß einige arabische Länder ein neues Ölembargo gegen die USA wegen deren gegenwärtiger Unterstützung Israels ausrufen wollen. Das könnten die USA nützen, um gegen die Regierung Chávez vorzugehen. Wahrscheinlich würde am 11.4., dem Tag des Generalstreiks, losgeschlagen werden.21Die Regierung wurde also nicht überrascht.
Das Massaker vor dem Miraflores-Palast wurde, wie Beobachter übereinstimmend aussagen, von “Bandera Roja” begangen. Scharfschützen hatten sich auf umliegenden Gebäuden (in 200 Metern Entfernung) postiert und schossen wahllos in die Menge der Chávez-Unterstützer. Dort gab es auch die ersten Toten. Auch die dem (rechtsextremen) Bürgermeister der Hauptstadt unterstellte Stadtpolizei beteiligte sich an der Schießerei und später an der Verfolgung von Chávez-Anhängern.22Ballistische Untersuchungen an den Waffen der Stadtpolizei von Caracas ergaben inzwischen, daß 34 von ihnen während der Ereignisse um den Präsidentenpalast ihre Pistolen einsetzten. Aus welchen Waffen welche Schüsse abgegeben wurden, lässt sich jedoch nicht mehr feststellen, da die tödlichen Kugeln zuvor angeschliffen worden waren, um so eine ballistische Untersuchung zu verhindern. Eine Technik, die laut verschiedenen Men­schen­rechts­organisationen auch in der Vergangenheit von der Polizei eingesetzt wurde. Zugleich zeigt sie aber auch, daß die Zwischenfälle geplant waren.23
Nach den Auseinandersetzungen vor Mira­flores wurde Venezuela von einer Welle der Gewalt überzogen, die den Geschehnissen nach dem 11. September 1973 in Chile entspricht. In der Nacht wurde der Präsident entführt, im Morgengrauen drangen Putschistengruppen in die Häuser von bekannten Chávez-Anhängern ein. Es kursierten Todeslisten. Dutzende Menschen wurden in den frühen Morgenstunden auf die Straßen getrieben, auf Armeelaster geladen und verschleppt. Der Großteil der Parlamentsmitglieder tauchte in den folgenden Stunden unter, denn die verzweifelten Appelle an das Internationale Rote Kreuz blieben ungehört. Schließlich war “die Demokratie in Venezuela wieder eingekehrt”.24
Der Umschwung kam sehr rasch. Bereits am 13.4. strömen Massen aus den armen Vororten von Caracas ins Zentrum, eine Million Menschen ging zur Verteidigung der Regierung auf die Straße. Der Präsidentenpalast war von Demonstranten umzingelt. Was geschah innerhalb des Palastes?
Hier die Interpretation des Londoner Guardian, der sich auf eine BBC-2-Newsnight-Untersuchung beruft: Nach der Warnung durch Rodriguez stationierte Chávez mehrere hundert Chávez-treue Truppen in einem Geheimkorridor unter Miraflores, dem Präsidentenpalast. Baduel rief dann Herrn Carmona an, um ihm mitzuteilen, daß er mit Truppen wortwörtlich unter seinem Sessel ebenso eine Geisel sei wie Chávez. Er gab Carmona 24 Stunden Zeit, um Chávez lebend zurückzubringen. Ein Entkommen aus Miraflores war für Carmona unmöglich. Das Gebäude war von hunderttausenden demonstrierenden Chávez-Anhängern umzingelt, die, vom sympathisierenden Außenminister alarmiert, aus den Vororten herbeimarschiert waren, aus den ärmsten Vierteln.
Chávez erzählte Newsnight, daß er, nachdem er die Warnung von der OPEC erhalten hatte, gehofft hatte, den Staatsstreich zu verhindern, indem er ein Statement herausgab, in dem er die Bush-Administration beschwichtigte. Er sicherte zu, daß Venezuela weder einem erneuerten Ölembargo beitreten, noch es überhaupt zulassen werde. Aber Chávez hatte sich bereits den Zorn der USA zugezogen, weil er die venezolanische Ölförderung reduziert und die OPEC wiederaufgebaut hatte, was den Ölpreis auf über 20 Dollar nahezu verdoppelte.
Seine Opponenten hatten klargemacht, daß sie sich nicht an die in der OPEC ausgemachten Förderlimits halten würden und seinen Plan, die Einnahmen aus Besteuerung ausländischer Ölfirmen in Venezuela, vor allem des US-Ölgiganten Exxon-Mobil, zu verdoppeln, zurücknehmen würden. Die Panik der US-Regierung wegen der Rufe nach einem Ölembargo, die am 8. und 9. April von Libyen und Irak veröffentlicht wurden, erklären auch, was Venezuela als schlecht verheimlichte und ungeschickte Unterstützung des US-Außenministeriums für den Staatsstreichversuch betrachtet.
Chávez erklärte Newsnight: “Ich habe schriftliche Beweise für das Betreten und Verlassen des Hauptquartiers der Verschwörer durch zwei US-Militärangehörige – ihre Namen, wen sie trafen, was sie sagten – Videobeweise und Fotos.” Letzten Monat berichtete der Guardian, daß ein ehemaliger US-Geheimdienstoffizier behauptet, daß die USA seit nahezu einem Jahr einen Staatsstreich gegen den venezolanischen Präsidenten planen.25
Weitere Hinweise darauf, daß die USA zumindest indirekt den Putsch unterstützten, lassen sich finden
Mindestens zwei hohe Offiziere, die an dem Putsch beteiligt waren, sind Absolventen der US-Militärschule School of the Americas (SOA) – der Oberbefehlshaber der Armee Efrain Vasquez und General Ramirez Poveda.26
Am 16.4. wurde bekannt, daß sich US-Beamte in den Monaten vor dem Putsch mehrmals mit Offizieren der venezolanischen Armee und Oppositionellen getroffen hatten, darunter auch Pedro Carmona. Die New York Times zitierte einen Beamten aus dem Verteidigungsministerium, der u.a. sagte: “Wir haben die Leute nicht dazu entmutigt … Wir haben informelle, subtile Zeichen gesetzt, daß wir diesen Kerl nicht leiden können. Wir haben nicht gesagt ‘Nein, wagt es nicht!’, und wir haben auch nicht offen gesagt ‘Hier habt ihr ein paar Waffen, wir helfen euch, diesen Kerl zu stürzen’.”
Chávez selbst erklärte, daß nur wenige Tage vor seinem Sturz dutzende von vene­zo­la­nischen Militärangehörigen, die für die Botschaften des Landes in Washington, Bogotá und Brasilia arbeiten, ohne irgendwelche Erklärungen nach Caracas zurückkehrten. Er deutete darauf hin, daß diese Militärangehörigen mit der Opposition sympathisierten und daß Chávez sie ins Ausland geschickt hatte, nachdem er 1999 Präsident geworden war. Vorher hatte Chávez gesagt, er wolle untersuchen, warum auf der Gefängnisinsel, auf der ihn das venezolanische Militär festgehalten hatte, ein seinen Angaben nach amerikanisches Flugzeug stand.
US-Regierungssprecher Fleischer erklärte, daß sich Carmona und andere Oppositionelle in den USA mit Otto Reich getroffen hatten, dem von Bush eingesetzten Staatssekretär für die westliche Hemisphäre.27Als sich die Krise verschärfte, diktierte Reich den Ton der US-Politik: Chávez sei “der erste gewesen, der sich nicht an die venezolanische Verfassung gehalten” habe. Der US-Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Noriega, berief eine Notversammlung ein, ein OAS-Diplomat beschrieb diese so: “Wir waren 14 Stunden lang in diesem Raum, und für die meiste Zeit machte Noriega Druck auf die Darstellung, daß es Chávez gewesen sei, der das Problem verursacht habe.”28Außer Kolumbien haben alle OAS-Staaten den Putsch verurteilt, aber Washington hat die neue Regierung anerkannt. Fleischer am Samstag: “Eine zivile Übergangsregierung ist eingerichtet worden …”29
Was will die “Bolívarische Revolution”, was will sie nicht?
Fidel Castro erläuterte in seiner bereits erwähnten Ansprache an das venezolanische Parlament seine Sicht des venezolanischen Systems:
“Unsere Verfassung basiert vor allem auf dem sozialen Eigentum der Produktionsmittel und der Planung der Entwicklung; auf der aktiven, organisierten und massiven Teilnahme aller Menschen an politischen Aktivitäten und der Schaffung einer neuen Gesellschaft; auf der engen Verbundenheit aller Menschen unter der Führung der Partei, die auf die Normen und Prinzipien achtet, aber nicht die Volksvertreter für die staatlichen Ämter nominiert oder wählt, denn das ist eine Aufgabe, die völlig von den Menschen durch ihre Massenorganisationen und die legalen Prozeduren durchgeführt wird.
Die venezolanische Verfassung beruht auf einer marktwirtschaftlichen Ökonomie, in der Privateigentum umfassend garantiert wird. Montesquieus berühmte drei Gewalten, als die Hauptstützen der traditionellen bürgerlichen Demokratie, werden ergänzt durch neue Einrichtungen und die Stärke, die nötig ist, um die Balance in der politischen Führung der Gesellschaft zu gewährleisten. Das Mehrparteiensystem ist ein Basiselement davon. Man müßte also völlig ignorant sein, um irgendeine Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Verfassungen zu entdecken.”
Trotzdem drückte der cubanische Regierungschef seine Solidarität und Verbundenheit mit Chávez aus:
“Wir teilen das gemeinsame Bewußtsein der Notwendigkeit, die lateinamerikanischen und karibischen Nationen zu vereinen, und für eine ökonomische Weltordnung zu kämpfen, die allen Völkern mehr Gerechtigkeit bringt. (…) Die Gemeinsamkeit der Vorstellungen beider Länder in der internationalen politischen Arena wird sehr gut ausgedrückt in ihrer Zurückweisung der neoliberalen Politik und ihrem Willen, für ökonomische Entwicklung und soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.”30
Wenn er nicht einfach ein demagogischer Populist ist, so versucht Chávez offensichtlich – nicht als erster – die Quadratur des Kreises: mit bürgerlich-demokratischen Mitteln eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Dieses Experiment ist 1973 in Chile gescheitert. Inzwischen wurden bereits neue Putschpläne gegen die venezolanische Regierung bekannt und die Reaktion rüstet weiter auf:
In den venezolanischen Grenzregionen zu Kolumbien Táchira, Apure und Zulia sollen nach eigenen Angaben paramilitärische Gruppen der “Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Venezuelas”, AUV, aktiv sein. In einem Ende Juli in den venezolanischen Medien verbreiteten Video verkündete ein vermummter “Comandante Antonio”, 2.200 Bewaffnete stünden bereit, um Venezuela vor der kolumbianischen Guerilla und dem Kommunismus zu “schützen”. Die Organisation bestehe zum Großteil aus Militärs und Ex-Militärs, deren Intention es sei, das politische Panorama Venezuelas zu verändern, in dem heute “die Narco-Guerilla-Regierung von Chávez” die Macht innehabe. Daher wurde auch Chávez zum “militärischen Ziel erklärt”. So versicherte Carlos Castaño, Führer der rechtsradikalen kolumbianischen Paramilitärs, die etwa 70% des dortigen Drogenhandels kontrollieren, in einem Interview, es bestünden gute Beziehungen zu den venezolanischen Paramilitärs.31
Auch auf juristischer Ebene hat die Opposition einiges unter Kontrolle. Der Oberste Gerichtshof lehnte im Sommer 2002 mit 11 von 20 Stimmen ein Strafverfahren gegen in den Putschversuch vom April verwickelte Offiziere ab. Dagegen mobilisierte die “bolivarische Kraft” (FBT), eine regierungstreue Arbeiterorganisation, zu Großdemonstrationen und einem “nationalen Streik”.
Ob die FBT dasselbe sind wie die “bolivarischen Zirkel”, wissen wir nicht. Diese Sypathisantengruppen entstanden kurz nach den Wahlen 1998. Sie entsprachen der Philosophie von Chávez bezüglich gesellschaftlicher Zusammenarbeit und dem “Empowerment” der Armen. Laut Chávez werden die Zirkel mit 140 Millionen Dollar von der Regierung unterstützt. Zu diesen Zirkeln gehören etwa Frauen, die sich um die Resozialisierung von Häftlingen und um Alphabetisierung kümmern und die in den Armenvierteln arbeiten.
Andere Gruppen der Zirkel traten während der Putschtage auf der Straße auf. Ninoska Lazo, 57 Jahre alte Anwältin, war unter den Motorradfahrern, die am Nachmittag des 13. April zusammenkamen und vor einem kommerziellen Fernsehsender Steine warfen, der die Massendemonstrationen für Chávez an diesem Tag einfach ignoriert hatte. “Sie verbreiteten den ganzen Tag Lügen”, sagt sie über den Sender. “Wir sind dort hingefahren, um ihnen unsere Wahrheit zu sagen.” Nach Schätzungen gibt es in ganz Venezuela etwa 30.000 ausgebildete Mitglieder der Bolívarischen Zirkel. Ihre Rolle ist Teil einer intensiven Debatte darüber, wie das Land regieren.32
“Wer nicht für uns ist, ist gegen uns”, hat US-Präsident Bush nach dem 11.9.2001 erklärt. Und die derzeitige venezolanische Regierung ist laut Bush offensichtlich “gegen uns”. Auch wenn diese Regierung eine im bürgerlich-demokratischen Rahmen ist, verdient sie unsere Unterstützung gegen alle Angriffe, die von der venezolanischen oder internationalen Reaktion geführt werden. Für das venezolanische Volk stellt sie nach Jahrzehnten der AD-COPEI-Herrschaft die Möglichkeit dar, sich zu organisieren und sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen.
Anmerkungen
1 Juditz Schultz, Präsidentielle Demokratie in Lateinamerika. Eine Untersuchung der präsidentiellen Regierungssysteme von Costa Rica und Venezuela. Frankfurt/Main, 2000.
2 Areion online, www.urbanplus.tintagel .net/venezuelac.html
3, 5, 7 Areion
4, 6, 8 Schultz
9 Um eine Vorstellung von “caudillismo” zu geben: Gómez schaffte es, einen persönlichen Besitz von mehreren hundert Millionen US-Dollar anzuhäufen. Er wurde größter Landbesitzer, 30% des venezolanischen Schlachtviehs kam von seinen Farmen. Darüber hinaus wurde er durch selbst gewährte Monopole zum größten Industriellen des Landes. Durch Vergabe von Ölkonzessionen schaffte er sich eine Klientel von Günstlingen, die direkt von ihm abhängig waren.
10 Auf die diversen Standard Oil-Firmen, die nach der offiziellen Zerschlagung des Konzerns (“Anti-Trust-Gesetze”) entstanden, wird hier nicht eingegangen, wir betrachten die Standard Oil immer noch als einen Interessenspol der Rockefeller-Familie. Siehe auch “Eine kleine Geschichte des Erdöls” in Info-Verteiler Nr.47, 12/1995
11 Wolfgang Hein, Weltmarktabhängigkeit und Entwicklung in einem Ölland: Das Beispiel Venezuela (1958 – 1978). Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Band 31.
12 Hein
13 Hein
14 Schultz
15 “Bolivarisch” oder “bolivarianisch”? In den Quellen, die diesem Artikel zugrunde liegen, wird mal dieser, mal jener Ausdruck verwendet. Wir schreiben hier immer “bolivarisch”, um keine Mißverständnisse anhand unterschiedlicher Schreibweisen aufkommen zu lassen.
16 ILA, 18.1.1999 (www.ila-web.de/artikel/254kreuzzeuge.htm
17 ILA – Institut für Ibero-Amerika, Nr. 20, 31.10.2000
18 Ein Kernpunkt wird dabei aller Voraussicht nach die Modernisierung und Reaktivierung der seinerzeit von der Sowjetunion errichteten und inzwischen faktisch brachliegenden Öl-Raffinerie von Cienfuegos sein. Sollte das gelingen, dürfte nicht nur die Energieversorgung der Insel auf eine in hohem Maße autarke Weise gesichert sein. Cuba könnte dann sogar als Exporteur für Erdölprodukte auf den regionalen Markt gehen. (…) Um langfristig an Ressourcen zu gelangen, erwägt Petrobas (brasilianische Ölfirma), die Erschließung von Ölvorkommen in cubanischen Küstengewässern energischer als bisher voranzutreiben. Ein Geschäft, bei dem Cuba “Risikoverträge” anbietet – das bedeutet: Erkundung und Förderung sind nur innerhalb eines Joint Ventures mit einheimischen Firmen möglich, was bisher immerhin von schwedischen, britischen und französischen Gesellschaften akzeptiert wurde. Allerdings fördern die Bohrinseln vor Cienfuegos vor allem schweres und schwefelhaltiges Öl, bei dem sowohl bei Eigenverbrauch wie Export eine aufwendige Raffinierung unverzichtbar ist. Sollten die Anlagen von Cienfuegos dafür – auch dank venezolanischer Investititionen – wieder verfügbar sein, könnte Cuba seinen Energiehaushalt merklich entspannen.
19 Das sind 492.900 Tonnen
20 International Action Center, 39 West 14th Street, Room 206, New York, NY 10011, email: iacenter@iacenter.org, web: www.iacenter.org
21 The Guardian (London), 13.5.2002
22 Aufforderung der 42. Fallschirmjägerbrigade: “Der Terror der Hauptstadtpolizei ist sofort einzustellen.”
23 http www labournet de internationales
24 Junge Welt (16. Februar 2002)
25 The Guardian (London), 13.5.2002
26 trend online zeitung, www.trend.partisan. net (gespiegelt von www.linksruck.de/zeitung/aktuell/128venezuela.htm, weiter: Seit 1946 betreibt die US-Armee an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Namen eine Schule, an der lateinamerikanische Militärs für den Kampf gegen die Zivilbevölkerung ausgebildet werden. Unterrichtsfächer an der SOA heißen unter anderem: Aufstandsbekämpfung und Kommando-Operationen. Der Unterricht findet ausschließlich in spanischer Sprache statt. Viele der bisher 60.000 Absolventen haben Militärputsche angeführt, an ihnen teilgenommen oder Massaker verübt. Auf das Konto von SOA-Absolventen gehen unter anderem der Mord an Erzbischof Romero und das Massaker von El Mozote, bei dem 900 Menschen umkamen – beides in El Salvador. Mindestens elf Diktatoren von lateinamerikanischen Staaten bildete die US-Regierung an der SOA aus – beispielsweise den panamaischen Militärherrscher Noriega. Auch Mitglieder der argentinischen Militärjunta von 1976 kamen von der SOA.
27 Bush nominierte Otto Reich, den ehemaligen Botschafter in Venezuela, zum stellvertretenden Staatssekretär für die westliche Hemisphäre. Als anticastristischer Cubaner-Amerikaner war Reich ebenfalls eine Schlüsselfigur im Contra-Krieg. 1983 wählte der CIA-Spezialist Walter Raymond Reich für das Amt des Vorstehers im Büro für öffentliche Diplomatie (Office of Public Diplomacy) aus. Reichs Büro war direkt Raymond und Oliver North im Weißen Haus unterstellt. Ein Bericht des General Accounting Office zeigte, daß Reichs Büro des öfteren Verträge mit anderen Mitgliedern von Norths Netzwerk abschloß, darunter mit welchen, die mit der illegalen Geldbeschaffung für Waffenkäufe zu tun hatten. Was wichtiger ist, ein Bericht des Chefkontrolleurs kam zum Schluß, daß Reichs Büro sich “in verbotener, verdeckter Propagandaaktivitäten, die darauf abzielten, die Medien und die Öffentlichkeit zu beeinflussen”, geübt hatte.
Reich beschäftigte sich mit “weißer Propaganda”, er war verantwortlich dafür, daß Artikel in der Presse plaziert wurden, und daß die Zeitungen und das Fernsehen beeinflußt wurden. In seinen Versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, verwendete Reich “überzeugende Mitteilungen”, wenn die Nachrichten nicht zugunsten der Reagan-Adminstration ausfielen. “All Things Considered” von National Public Radio untersuchte Menschenrechtsverletzungen der Contras. Laut The Nation “verlangte Reich ein Treffen mit deren Redakteuren, Produzenten und Berichterstattern, bei dem er sie informierte, daß sein Büro alle ihre Programme ‘überwache’ und daß er NPR den Contras und der US-Politik gegenüber für voreingenommen betrachte”.
Reich war auch Partner in der Brock Group, einer Lobbying-Firma gegenüber dem Justizministerium. Reich beriet das Büro von Jesse Helms beim Entwurf des Helms-Burton-Gesetzes 1996, das das Embargo gegen Cuba verschärfte. Reichs eigene Lobbying-Firma, RMA International, hatte 600.000 Dollar von Bacardi erhalten, weil diese Firma die Restriktionen gegenüber Cuba aufrecht erhalten wollte. Eine andere Organisation von Reich, das American-Cuba Business Council, hatte über 520.000 Dollar erhalten für ihre anti-castristische Arbeit, die die Ziele des Helms-Burton-Gesetzes unterstützte.
Reichs einziger diplomatischer Hintergrund war sein Amt als Botschafter in Venezuela 1986. Unter den venezolanischen Führern sehr unpopulär, war Reich verantwortlich für den Fall des Terroristen Orlando Bosch, der in Caracas inhaftiert war wegen des Vorwurfs, Drahtzieher des Bombenanschlags auf ein cubanisches Passagierflugzeug 1976 gewesen zu sein, bei dem 73 Menschen ums Leben kamen. Jahre nachdem er verurteilt worden war, entließ ein venezolanisches Gericht 1987 Bosch, und Reich schrieb einen Brief ans US-Außenministerium, in dem er eine Einreiseerlaubnis für Bosch in die USA forderte. Bosch reiste schließlich illegal in die USA ein und laut Justizministerium wurde er festgenommen wegen des Vorwurfs des gewalttätigen Terrorismus und mit der Ausweisung bedroht. (The Nation, 7.5.2001)
28 at.indymedia.org/print.php3?article_id=9747
29 jphuck@earthlink.net
30 International Action Center
31 www.labournet.de/internationales
32 www.npla.de/cgi-bin/search