Veranstaltung der „subversiven Kantine“ am 2.7.2006
Streiks in der Türkei
Der Text wurde bei einer Veranstaltung der subversiven Kantine aufgezeichnet und abgetippt. Aus diesem Grund hat er nicht die Form eines Artikels sondern eines mündlichen Vortrags.
‚A’ und ‚B’ sind die Vortragenden, ‚C’ ein „ergänzender Vortragender“, alle anderen Redner-Innen wurden unter ‚F’ subsumiert.
Vortrag
Guten Abend – wir wollen heute über Streiks in der Türkei sprechen. Entstanden ist die Idee zu dieser Veranstaltung, als wir eine Solidaritätsveranstaltung zum Streik der Cola-ArbeiterInnen machen wollten. Der ist allerdings inzwischen längst vorbei. Daraufhin haben wir uns im Internet umgesehen, welche Streiks es in der Türkei gerade gibt. Wir wollen kurz die Struktur der Gewerkschaften und die gesetzliche Lage umreißen, um dann über einzelne Schwerpunkte, wo es Streiks gibt, zu sprechen.
Als Einstieg möchte ich über den Streikbeschluss bei Pirelli, Goodyear und Brisa in İzmit und Adapazarı von insgesamt ca. 3.500 ArbeiterInnen sprechen. Dabei ging es vor allem darum, dass die Unternehmen Arbeitsrechte einschränken wollten: So sollte das Einstellungsgehalt gesenkt werden, der jährliche Urlaub sollte nicht mehr im Sommer, sondern aufs Jahr verteilt genommen werden und Zeitarbeiter sollten unbefristet, statt nur für sechs Monate eingestellt werden können, also insgesamt niedrigere Löhne mit weniger Rechten durchgesetzt werden. Die meisten Forderungen im geplanten Streik richteten sich gegen diese Pläne, offensiv war die Forderung den Arbeitsrhythmus von 6 zu 1, auf 5 zu 2 – also fünf Tage Arbeit, zwei Tage frei – umzustellen. Im Gummiproduktionssektor gab es bereits 1990, 2000, 2002 und 2004 Streikbeschlüsse der Gewerkschaft Lastik-İş Sendikası, die allerdings vom Ministerrat wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheitverboten wurden. Interessant ist an diesem Streik, dass die Unternehmen teilweise sofort mit Standortschließung drohten, z.B. Goodyear. Im Gegenzug erhielten die ArbeiterInnen auch Solidaritätserklärungen von anderen Goodyear-Standorten. Um es kurz zu machen, in der Nacht vor dem endgültigen Streikbeginn kam es zur Einigung, der Streik fand gar nicht erst statt. Derartige Streikdrohungen innerhalb der Verhandlungen stellen einen guten Teil der Streiks dar. In der Türkei gibt es nämlich anders als in Österreich keinen Kollektivvertrag, sondern nur betriebliche und teilweise wie in diesem Fall branchenbezogene Verträge, die jedoch nur für gewerkschaftlich organisierte Betriebe gelten.
Struktur der türkischen Gewerkschaften
Im Unterschied zum ÖGB, der ja fraktionell aufgebaut ist gibt es vier Gewerkschaftsdachverbände, die jeweils Einzelgewerkschaften haben, und eine Interessensvertretung von Staatsbediensteten.
Es gibt vier Dachverbände:
Türk-İş– Bund der türkischen Arbeitergewerkschaften, 1952 gegründet, von US-amerikanischen Gewerkschaften in der Gründungsphase materiell und in organisatorischer Hinsicht unterstützt. Mit 33 Mitgliedsgewerkschaften, d.h. 33 Branchen, und rund 2. Mill. Mitgliedern ist es der größte Gewerkschaftsblock der Türkei und auch der gelbste [staats- bzw. unternehmerkonform, Anm. IV]. In den 1960er und 70er Jahren musste sogar sie sich über den Druck der DİSK, bzw. der ArbeiterInnen ein wenig radikalisieren. Beim Militärputsch 1980 ist sie auf der Seite des Militärs gestanden, der damalige Präsident war Arbeitsminister im Kabinett der Militärregierung.
DİSK(devrimci işçiler sendika konföderasyonu/Bund revolutionärer Arbeitergewerkschaften). Der Name sagt schon: sie möchten gerne radikal sein. DİSK wurde 1967 gegründet und war in den 60er und 70er Jahren auch wirklich revolutionär. Aktuell lebt sie von ihrem früheren Ruf. Sie wurde 1980 verboten und erst 1992 wieder legalisiert. Viele ehemalige AktivistInnen wurden verhaftet oder ermordet. 1997 hatte die DISK 300.000 Mitglieder und war in 26 Wirtschaftszweigen organisiert. In den 70er Jahren waren die staatlichen Fabriken in der Hand der Gewerkschaften, insbesondere wegen der Stärke der DİSK. Ein Beispiel: am 15. und 16. Juni 1970 gab es gegen den Wunsch der Regierung, nur Türk-iş zuzulassen und die DISK abzuschaffen, breiten Widerstand, bei dem die Militanz der ArbeiterInnen die DISK selbst überholte. Es waren Änderungen des Gewerkschaftsgesetzes Nr. 274 und des Streik- und Aussperrungsgesetzes Nr. 275 geplant: eine Gewerkschaft sollte mindestens eine 30% Quote in einer Branche erreichen, um Vertretungsrecht zu haben.
Hak İş– die islamische Gewerkschaft, Zusammenschluss der islamischen Bewegungen in der ArbeitnehmerInnenschaft, wurde 1976 gegründet. 1980 war sie für ein Jahr verboten, 1981 wieder organisiert, 1998 hatte sie 340.000 Mitglieder und 8 Mitgliedsgewerkschaften. Inzwischen hat sie im Textilbereich keinen schlechten Zulauf. Auch die Cola-Arbeiter-Innen, die dann zur DİSK gegangen sind, waren zuvor bei der „frommen“ Gewerkschaft. Insbesondere in den staatlichen Betrieben, wie bei den Waldarbeitern, ist es natürlich uninteressant, zur staatlichen Gewerkschaft zu gehen. Dort konnte die „fromme“ Gewerkschaft eine Zeitlang radikaler agieren, zumal es vor der Wiederlegalisierung der DİSK nur die Türk-İş und die MİSK gab. Jetzt mit der AKP-Regierung ist das anders, jetzt ist die Hak-İş auch näher an der Regierung.
MİSK– gegründet 1970. Sie rekrutierte ihre Mitglieder aus der Jugendorganisation der MHP (nationalistische Aktionspartei) und bekämpfte die Arbeiterbewegung im Umfeld der DİSK und die gesamte Linke. Sie ist in sieben Branchen vertreten und hatte nach eigenen Angaben 1998 insgesamt 7000 Mitglieder, spielt also keine Rolle. Der rechte Flügel ist vor allem im KAMU-Sen, dem Bund der türkischen Beamten, verankert.
KESK– Bund der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, 1995 gegründet, besteht aus 28 Beamtengewerkschaften, 1998 über 400.000 Mitglieder. Sie ist ein Spezialfall, weil sie kein Streik- und Tarifverhandlungsrecht hat, im Gegensatz zu den anderen Dachverbänden. Erst im Jahr 2000 wurde das Verbot aufgehoben, sie haben seitdem das Recht, Tarifgespräche zu führen. Streiks und Tarifverhandlungen bleiben weiterhin verboten, außerdem die Äußerung zu politischen Themen.
Es gibt noch andere, kleine Gewerkschaften innerhalb dieser Dachverbände. Die sind oft von linken Organisationen beeinflusst, sind aber Mitglied von Türk-İş.
Es gab 2006 Anpassungen der Gewerkschaftsgesetze an die EU- Gesetze. Positiv ist daran, dass politisch vorbestrafte ArbeiterInnen Funktionen in der Gewerkschaft annehmen dürfen, weiters ist die notarielle Beglaubigung beim Gewerkschaftseintritt gefallen, die oft Repression und noch öfter Angst vor Repression auslöste. Bis jetzt musste man, um gewerkschaftlicher Vertreter zu sein – denn es gibt in der Türkei ja keine Betriebsräte wie in Österreich – 10 Jahre sozialversichert gearbeitet haben. Aber nur 48% der Arbeitenden sind überhaupt sozialversichert, da kommt man ja kaum jemals auf 10 Jahre.
Ein weiterer Punkt betrifft die Quotenregelung, ab wann eine Gewerkschaft Verhandlungsrecht hat. Die 10%-Quote wurde auf 5% reduziert. Das ist aber gleichzeitig nur Schein, denn zugleich wurden die Branchen von 38 auf 29 reduziert – zahlenmäßig bleibt also alles beim Alten. Die 10% Quote bedeutet: Man hat als Gewerkschaft erst ein Recht, zu verhandeln, wenn 10% der ArbeiterInnen in dieser Branche organisiert sind. Im einzelnen Betrieb müssen 50% in der Gewerkschaft organisiert sein. Das sind Tarifverhandlungen, wobei diese Verhandlungen nur für die organisierten Betriebe gelten. Einfluss auf den Lohn anderer Fabriken in der gleichen Branche haben sie nicht. Türk-İş war jetzt gegen die Aufhebung dieser Quote, sie wollte unbedingt die Quote beibehalten, einfach um selbst im Geschäft bleiben zu können.
Kurz zur wirtschaftlichen Situation in der Türkei
A: Ein Großteil der Streiks in der letzten Zeit richtete sich gegen Privatisierungen. Tekel ist der staatliche Monopolbetrieb - das Wort tekel bedeutet auf türkisch Monopol. Ursprünglich umfasste es Alkohol, Tabak, Salz, noch früher waren auch Tee und Kaffee dabei.
C: Zucker gehörte auch dazu, aber später dann nicht mehr. Viele Fabriken wurden gesperrt.
A: Tekel ist staatlich und wird gerade privatisiert.
B: Dazu muss man wissen, die Privatisierungen haben ein immenses Ausmaß angenommen, vor allem im Jahr 2005. Der Hintergrund ist, dass die Industrialisierung in den 1930er und 40er Jahren durch den Staat erfolgt ist. Es gab damals außer Klein- und Mittelbetrieben keine Privatunternehmer. Und diese Staatsbetriebe hat es auf allen Ebenen gegeben. Begonnen wurde – natürlich – mit der Schwerindustrie.
Es wurde bereits in den 70er Jahren versucht, diese Staatsbetriebe zu privatisieren. Aber endgültig beschlossen bzw. erfolgt ist das erst nach dem Putsch 1980. Da ist dann der Weg beschritten worden, die Staatsbetriebe an Europa anzupassen. 1985 wurde beschlossen, 218 Unternehmen auf die Privatisierungsliste zu setzen. 143 Unternehmen sind privatisiert worden. Diese Zahl stammt aus dem Jahr 2003 und stimmt nicht mehr ganz. Das heißt, die Aktienanteile wurden bereits verkauft.
Bis 2001 betrugen die Einnahmen aus den Privatisierungen 7,3 Mrd. Dollar. Allein im Jahr 2005 sind 20 Mrd. Dollar durch Privatisierungen eingenommen worden. In diesem Jahr ist eben ganz viel in diese Richtung von statten gegangen. Es sollen noch 54 Betriebe verkauft werden.
Anfang Dezember 1985 wurde von der Regierung beschlossen, dass z.B. 51% der Turkish Airlines und 33,5% der Turkish Telekom verkauft werden. Das ist 2005 dann auch geschehen. Turkish Airlines ist noch nicht ganz und gar privatisiert. Es ist so, dass dort umstrukturiert wird. Man hat z.B. 355 Angestellte entlassen, bzw. nicht entlassen, sondern man hat sie in Pension geschickt. Und alles, was frei wird, wird mit AKP-Mitgliedern besetzt. AKP ist die jetzige, die „fromme“ Regierung. So wird versucht, trotz der zukünftigen Privatisierung einen Einfluss durch den Staat aufrecht zu erhalten.
Die Privatisierungen entsprechen den IWF-Auflagen. Wir wissen ja, dass der IWF immer wieder Gelder an die Türkei gegeben hat. Z.B. waren das im Dezember 2000 10 Mrd. US-Dollar. Weitere Auflagen waren die Erhöhung des Rentenalters und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Also alles auf Kosten der ArbeitnehmerInnen. Diesem IWF-Kredit ging der Bankenskandal voraus, der sich von 1997 bis 2001 gezogen hat. 18 Privatbanken hätten wegen Überschuldung den Konkurs erklären müssen, sie haben Riesenliquiditätsprobleme gehabt, und mussten vom Staat unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Sie wurden mit 19 Mrd. Dollar gesponsert, was das Doppelte des Kredites ist, den die Türkei vom IWF erhalten hat. Im Februar 2001 kam es zu einer weiteren Finanzkrise. Deshalb ist die türkische Lira innerhalb eines Jahres um über 40% abgewertet worden. Dadurch mussten in der ersten Jahreshälfte 2001 52.800 Unternehmen in Konkurs gehen.
Im Jahr 2001 kam es aber zu massiven Protesten durch die ArbeiterInnen gegen die Privatisierungen. Da ist dieses Problem wirklich allen bewusst geworden. Am 31.3. 2001 sind die GewerkschafterInnen zu tausenden auf die Straße gegangen, mit den Hauptlosungen „Nein zu den Privatisierungen“ und „IWF, go home“. Im November 2001 ist es dann wieder zu Massenprotesten gekommen, da sind von der Westtürkei bis in den Südosten tausende Leute auf der Straße gewesen. Der Regierung wurde Unterwürfigkeit gegenüber dem IWF vorgeworfen.
Die Auswirkungen (der Privatisierungen) auf die Bevölkerung sind ganz massiv. Beispielsweise sind die Reallöhne extrem gesunken. Die Armut ist für ein Land, das der EU beitreten möchte, auf einem irrsinnig hohen Niveau. Die Türkei besetzt auf der Liste der Länder mit der ungerechtesten Einkommensverteilung Platz 5. Im Westen etwa, in den Marmaris-Gebieten, wo die Wirtschaft, die Industrie angesiedelt ist, verdienen die Menschen durchschnittlich 14.000 US-Dollar jährlich, das entspricht dem EU-Niveau. Im Südosten sind es überhaupt nur noch 600 Dollar jährlich, und im Osten 800 Dollar. Dementsprechend ist das Mindesteinkommen regional unterschiedlich festgelegt. Demgegenüber steigt die Arbeitsproduktivität enorm, auch das Wirtschaftswachstum. Dafür wird die Türkei momentan sehr gelobt. Zwischen Februar 2001 und Dezember 2002 stieg das Wirtschaftswachstum um 20%, aber das bedeutet natürlich auch – die Produktivität ist gestiegen, aber es sind nicht mehr ArbeiterInnen angestellt worden. Sogar der Unternehmerverband, TISK (Türkiye İşveren Sendikalari Konfederasyonu – Konföderation der Arbeitergebersyndikate der Türkei)1, spricht von einer Arbeitslosenrate von 16%. Wie hoch die Arbeitslosigkeit dann tatsächlich ist, kann man sich vorstellen. Die Gewerkschafter sagen, sie übersteigt 20%.
Sogar unter gebildeten Jugendlichen, wobei mit „gebildet“ Jugendliche gemeint sind, die eine Schulausbildung haben, liegt die Arbeitslosigkeit in den Städten bei 30%. Und um zu zeigen, wie die Verarmung in letzter Zeit wirklich aussieht, hier Zahlen von Türk- İş, einer gelben Gewerkschaft: Sie geben an, dass die Armutsgrenze momentan bei 700 Euro für eine vierköpfige Familie liegt. Der schlechtestbezahlte Arbeiter im öffentlichen Dienst verdient nur 240 Euro, und der Mindestlohn liegt bei 175 Euro. Das heißt, dass die Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung zwischen den Leuten, die bisher innerhalb von Familien oder Großfamilien gelebt haben, jetzt kaum mehr möglich sind. Weil wirklich jetzt jedeR damit zu kämpfen hat, überhaupt seine Kleinstfamilie durchzubringen. Sozialversicherungen: es gibt zwar jetzt ein neues Gesetz. Das lassen wir aber weg, weil das den Rahmen sprengen würde. Es ist so, dass etwa die Hälfte der arbeitenden Menschen, die Zahlen liegen zwischen 48% und 51%, nicht versichert ist. Weder gesundheits- noch rentenversichert.
Es gibt 24 Millionen ArbeiterInnen, davon sind die Zahlen sind von den Gewerkschaften – nicht ganz drei Millionen ArbeiterInnen gewerkschaftlich organisiert. Der türkische Staat gibt um einiges höhere Zahlen an.
Bergarbeiterstreik in Zonguldak
Wir beginnen jetzt mit den Streiks, und hier mit dem ältesten Streik, über den wir euch erzählen möchten. Den Bergarbeiterstreik in Zonguldak kennt wahrscheinlich jedeR hier, im Dezember 1990 bis Jänner 1991 hat er stattgefunden. Wir möchten hier einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung geben. Zonguldak ist deswegen wichtig, weil hier das größte Kohlevorkommen des Mittleren Ostens war. Seit dem Jahr 1848 wird hier abgebaut. Ursprünglich wurden die Einnahmen daraus vom Osmanischen Reich nach Mekka gespendet. Dann haben sich englische und französische Firmen dafür interessiert. Seit 1940 ist der Bergbau dort komplett verstaatlicht. Jetzt natürlich nicht mehr, es sind schon sehr große Teile verkauft.
Vor 1936 haben auch Streiks stattgefunden. Die waren zwar illegal, aber sie haben stattgefunden. Im Jahr 1936 sind Streiks verboten und mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr bestraft worden. Die Regierung hat großen Wert darauf gelegt. Vor allem deswegen, weil in dieser Zeit die Förderung der Schwerindustrie begonnen hat, wobei Kohle sehr wichtig war. Um wirklich gute Arbeiter zu haben – es war ein Problem, weil die Leute in Zonguldak sich längere Zeit geweigert haben, unter Tage zu arbeiten – haben die Engländer und Franzosen, aber hauptsächlich die Engländer dieses Problem so gelöst, dass sie Bosnier und Kroaten geholt haben, die diese Arbeit erledigt haben.
Mit der Zeit hat es dann unter der einheimischen Bevölkerung Zwangsrekrutierungen gegeben. Also richtige Zwangsarbeit. 1937, es waren immer noch zu wenig Arbeiter verfügbar, hat man beschlossen, Gefangene in die Bergwerke zu schicken. Angefangen hat man mit 150 Insassen. Man hat das dann das „Minengefängnis in Zonguldak“ genannt. Im Laufe der Jahre haben bis zu 1.600 Gefangene in Zonguldak gearbeitet, wobei ein Tag in der Mine für zwei Tage Strafe gezählt hat. Sie haben also die Hälfte weniger absitzen müssen, wenn sie in den Minen gearbeitet haben. Die wurden bis Mitte der 40er Jahre beschäftigt.
Bis in die 20er Jahre hat es diese Zwangsarbeit gegeben. Das heißt, man hat in den 14 Bezirken alle Männer zwischen 13 und 50 Jahren zusammen getrieben und hauptsächlich unter Tage arbeiten lassen. Immer mit einem Rotationssystem. Weil die Bezahlung dermaßen schlecht war, haben sie nicht davon leben können. Deshalb war es so, dass sie 40 Tage in den Minen gearbeitet haben, und 40 Tage waren sie zu Hause auf ihren Feldern und haben dort ihre Subsistenzwirtschaft betrieben. Das Zwangsarbeitssystem wurde dann aufgehoben. Es sind ziemlich viele Lasen und Kurden eingewandert, die haben diese Arbeit dort erledigt.
Im Laufe des 2. Weltkriegs wurde 1940 wieder ein Zwangsarbeitsgesetz erlassen. Das hat bis 1948 gegolten und man hat alle Männer über 16 Jahren in den Dörfern zusammengefasst und gezwungen, in den Minen zu arbeiten. Wieder mit dem Rotationssystem.2
1942 waren aber auch bereits 12.000 Lasen vom Schwarzen Meer hier beschäftigt. Sie haben hauptsächlich über Tage gearbeitet. Unter Tage also die einheimische Bevölkerung aus Zonguldak und dem Gebiet rundherum, und über Tage Arbeiter von Minderheiten innerhalb der Türkei.
Zwischen 1985 und 1989 sind alle flexiblen Arbeitsplätze zu Dauerarbeitsplätzen geworden, das Rotationssystem ist aufgehoben worden. Aber noch einmal ein wenig zurück: 1946 ist in Zonguldak die Minenarbeitergewerkschaft gegründet worden, von 11 Vorarbeitern, die über Tage gearbeitet haben. Das waren hauptsächlich Lasen und damit Dauerarbeiter. Das Rotationssystem hat ja hauptsächlich die Leute betroffen, die unter Tage gearbeitet haben. Ende 1946 hat diese Gewerkschaft bereits 15.000 Mitglieder gehabt. Zu dieser Zeit war sie die größte Gewerkschaft in der Türkei.
Im März 1965 ist ein wilder Streik ausgebrochen, der sehr heftig verlief. Es ging um die Bezahlung. Die Stadt Zonguldak wurde von Polizei umstellt, 49 Arbeiter verhaftet, zwei Arbeiter wurden getötet. Zwischen 1965 und 1980 gab es mindestens zehn weitere Streiks. Das sind Angaben der Gewerkschaft, es lässt sich nicht eruieren, wie viele es tatsächlich waren. Allerdings darf man die Militanz der Gewerkschaft nicht überbewerten. Ihre Führer, vor allem Arbeiter aus dem Über-Tag-Bereich, haben bei diesen Streiks mit dem Management kollaboriert. U.a. haben sie die Manager beschützt, dafür gesorgt, dass die Pumpen weiter arbeiten, haben an den Demonstrationen nicht teilgenommen und versucht, das Ganze abzuwiegeln.
Warum ist der Streik 1990 entstanden? Die Arbeiter haben zehn Jahre lang ununterbrochen Lohnkürzungen in Kauf nehmen müssen. Damit ist natürlich auch die Militanz gestiegen. Es kam zum Wechsel der Gewerkschaftsführung, wobei die Arbeiter gemeint haben – diejenigen, die im Streik geführt haben – dass zwar gewechselt wurde, aber trotzdem haben sich die Gewerkschaftsführer nicht geändert: „Wir haben uns geändert, die Arbeiter.“ 1990 haben sie dann eine 500%ige Lohnerhöhung wegen des langen Lohnverlustes verlangt. Das wurde anfangs von Türk-İş nicht unterstützt. Auch die Regierung hat erklärt: „Bevor wir euch diese Lohnerhöhung geben, schließen wir eher die Gruben.“ Daraufhin haben am 1.12.1990 28.000 Gewerkschaftsmitglieder einen Tag lang gestreikt. Gleichzeitig haben sie damit begonnen, nach Zonguldak zu marschieren. Zu tausenden sind sie dort einmarschiert, mit Frauen und Kindern. Sie sind aber von Anfang an von der Bevölkerung, aber auch von der Stadtverwaltung unterstützt worden. Z.B. hat die Stadtverwaltung auf die Wasserrechnung der Bergarbeiter verzichtet, Geschäftsleute haben die halben Tageseinnahmen den Grubenarbeitern gegeben. Sie haben dann überhaupt, am 4.12., die Geschäfte zur Unterstützung des Streiks gesperrt. Die Hauptlosung war „Brot, Frieden und Demokratie“. Die Streikenden wurden auch in İzmit unterstützt, dort sind Zehntausende aus Solidarität mitmarschiert. Die australischen Kohle- und Hafenarbeiter haben sie unterstützt, es gab also auch internationale Solidarität.
Nachdem die Regierung nicht nachgegeben hat, wurde beschlossen, nach Ankara zu marschieren, und den Generalstreik auszurufen. Das war am 3.1.1991, und am 4.1. haben die Gewerkschaften, die nun den Streik unterstützen mussten, Busse organisiert, die die Arbeiter nach Ankara führen sollten. Die Busse wurden vom Innenminister gestoppt, sie sind also nicht einmal nach Zonguldak hinein gekommen. Darauf haben die Arbeiter beschlossen, die 284 Kilometer nach Ankara zu marschieren. Das war der 37. Streiktag. Und es sind wirklich über 100.000 Menschen durch die Dörfer gezogen. In den Dörfern wurden sie absolut unterstützt. Es sind auch die Familien mitmarschiert, und die Frauen konnten etwa in den Häusern schlafen, die Männer in Schulen und Verwaltungsgebäuden. Sie wurden mit Essen versorgt.
Sie sind natürlich von einem Riesenpolizeiaufgebot begleitet worden, mit Hubschraubern, bis es zu einem Eklat gekommen ist. Davor gab es Sachen, wie, dass der Innenminister mit den Gewerkschaftsführern telefonierte. Die ArbeiterInnen haben sich da gerade in dem Dorf Devrek befunden. Und der Innenminister hat gemeint – und die Gewerkschaftsführer waren damit einverstanden – dass sie die Streikenden aufhalten werden. Und er käme am nächsten Tag hin, um mit den Gewerkschaftern zu verhandeln. Die Gewerkschaften waren damit einverstanden. Sie sind dann in der Früh aufgewacht, konnten aber mit den ArbeiterInnen nichts mehr anfangen. Weil die bereits weg waren. Die Gewerkschaftsführer haben einfach verschlafen.
Die ArbeiterInnen sind also weitermarschiert. Auf der E5 sind sie dann von einem massiven Polizeiaufgebot aufgehalten worden. Sie haben Barrikaden errichtet. Allerdings hatten sie kein Essen, es war furchtbar regnerisch und kalt. Sie haben sich beim Schlafen abgewechselt. Am vierten Tag dieser Barrikade gab es dann einen Angriff durch tausende Polizisten. Denen gelang es, 200 Arbeiter auf die andere Seite der Barrikade zu ziehen. Daraufhin haben die Zonguldaker ArbeiterInnen beschlossen, einen Rückzug in die Stadt Mengen durchzuführen. Weil es sinnlos war, sie konnten nicht weiter marschieren. Den Streik haben sie aber nicht abgebrochen. Der ist nämlich durch den Golfkrieg beendet worden. Den hat die Regierung – er begann am 25.1.1991 – dazu benutzt, den Streik für 40 Tage auszusetzen. Sie hat den Streik aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ ausgesetzt. Am 6.2. wurde dann ein Angebot von einer Lohnerhöhung um 275% gemacht, und das ist dann akzeptiert worden. Man kann also sagen, dass das nicht ein Teilsieg, sondern sehr wohl ein großer Sieg der ArbeiterInnen war. In der Zwischenzeit sind viele der Minen privatisiert. 1995 waren nur noch ca. 20.000 Menschen dort angestellt. Wie viele es heute sind, konnten wir leider nicht herausfinden.
B: Es ist schwierig herauszufinden, wie viele Gruben bereits privatisiert sind. Bei den Kohlegruben ist es etwa die Hälfte, auch Teile von Zonguldak. Verbreitet sind Teilprivatisierungen d.h. die Grube gehört dem Staat, die Kohleförderung selbst ist privatisiert. Die private Firma verkauft die Kohle dann wieder an die staatliche „Türkiye Kömür İşletmeleri“ (Kohleverarbeitungsgesellschaft Türkei). Auch andere Teile der Rohstoffindustrie stehen zur Privatisierung z.B. wurde die Erdölprodutkion Tüpraş im Mai 2006 zu 51% an die Koç-Gruppe verkauft. Auch hier gab es zahlreiche Proteste.
Tekel
Die Privatisierung betrifft nicht nur Gruben, obwohl die ein Segment sind, das sehr stark betroffen ist. Sondern wie oben erwähnt auch Tekel, das staatliche Monopol. Im Jahr 2002 waren dort noch fast 30.000 Menschen beschäftigt, jetzt, 2006, sind es nur noch 17.000.
Ausgelagert wurde im Februar 2004 die Getränkeproduktion, der Raki ist jetzt also nicht mehr von Tekel, sondern von MEY Alkollü İçkiler Sanayii AŞ – eine Aktiengesellschaft, die von der Nurol- Limak- Özaltın-Tütsab Gruppe zu diesem Kauf gegründet wurde und sechs Fabriken (in Kilis, Çanakkale, Alaşehir, Nevşehir, Bilecik und Yozgat) um 292 Mil. US$ übernahm. Im März 2006 kam es wegen Produktionskürzungen zu Kündigungen von 9 ArbeiterInnen in Nevşehir, und 8 in Bilecik, die teilweise kurz vor der Pension standen. Nach Protestaktionen wurden sie nach einem Monat wieder eingestellt.
Ausgelagert wurden bereits im Jänner 2006 drei Salzproduktionsstätten (Kaldırım, Kayacık und Yavşan Tuz İşletmeleri ), zwei weitere sind noch im Besitz von Tekel. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese
drei Produktionsstätten nicht tatsächlich eine einzige sind, und es sich um verschiedene Phasen der Produktion handelt, denn sie sind alle am gleichen Ort. Es ist jedenfalls eine relativ große Produktionsstätte. Zu dem staatlichen Monopol gehört auch die Tabakproduktion, 2002 wurde deren Teilprivatisierung und Verpachtung beschlossen. 2002 ist von Tekel bereits der subventionierte Tabakanbau eingestellt worden. 2003/2004 kamen die Getränke dran, und 2005 stand am Plan, auch die Zigarettenproduktion zu privatisieren. Die Tekel-Anteile an der Zigarrenproduktion wurden im Oktober 2005 um 1,3 Mill. US$ an die Che Tütün ve Tütün Mamulleri Alkollü İçecekler Sanayi [Che Industrie für Tabak, Tabakwaren und alkoholische Getränke] verkauft. Das Gebäude der Generaldirektion in Ankara wurde im Dezember 2005 an die TOBB (Odalar ve Borsalar Birliği – Verband der Kammern und Börsen) verkauft, die dort ihre neue Privatuniversität einrichteten. Für 2006 ist eine 150% Preiserhöhung von Zigaretten geplant und ein entsprechender Konsumrückgang geplant.
In der Türkei gibt es insgesamt sechs Zigarettenfabriken, außerdem besitzt Tekel in Zug, Schweiz, eine Fabrik zu 100%, eine in Nordzypern zu 51%, und ist an der Tabakblattverarbeitung in Kasachstan mit 20% und in Izmir mit 48% beteiligt. Drei von den Fabriken in der Türkei produzieren „amerikanische“ Zigaretten, sie sollen weder privatisiert noch geschlossen werden. Drei produzieren „türkische“ Zigaretten. „Amerikanischer Tabak“ heißt nicht, dass dieser Tabak nicht in der Türkei wächst, sondern das bedeutet, dass es sich um eine amerikanische Tabaksorte mit besonderen Regeln für den Anbau handelt.
Die drei Produktionsstätten, die geschlossen werden sollen, sind Bitlis, Malatya und Adana. In allen drei Städten war es so, dass nicht nur die ArbeiterInnen der Fabriken gegen die Schließung waren, sondern größere Teile der Bevölkerung dagegen waren. Schon deshalb, weil die Zigarettenfabrik in Bitlis die einzige bestehende Fabrik war. Dort intervenierten Abgeordnete der AKP. Adana und Malatya sind stärker industrialisiert. Jedenfalls waren größere Bevölkerungsteile gegen die Schließung und haben deshalb die ArbeiterInnen unterstützt.
Bereits im Winter 2005 begannen in allen drei Städten Aktionen gegen die Umstellung auf einen Einschicht-Betrieb. Am stärksten eskalierte der Kampf gegen die Betriebsschließungen in Adana. Begonnen wurde mit Protestversammlungen, Demonstrationen wurden organisiert, später wurde die Fabrik besetzt.
Für Fabriksbesetzungen gibt es im Türkischen einen interessanten Ausdruck, nämlich „den Arbeitsplatz nicht verlassen“. Die Aktion „den Arbeitsplatz nicht zu verlassen“ haben sie also in der Nacht vom 2. auf den 3.1.2006 durchgeführt und später auch die Aktion „von der Arbeitskraft Gebrauch zu machen“, nämlich von der Produktionsmacht Gebrauch zu machen, d.h. die Arbeit niederzulegen. Die eigene Produktionsmacht beinhaltet ja, dass man auch nicht arbeitet. Nach längerem Hin und Her zwischen Privatisierung und Schließung war dieser Streik, diese Besetzung dann erfolgreich. Das Adana-Werk von Tekel ist nicht geschlossen worden. Allerdings ist die Produktion massiv verringert worden. Vorher gab es drei Schichten, jetzt nur noch eine.
Das war ein nicht sehr langer Prozess. Die Besetzung des Arbeitsplatzes führte zu einer raschen Eskalation, sie begann Anfang Jänner und bereits im März war dann klar: die Fabrik wird nicht geschlossen. Da gab es immer wieder Politikerbesuche in Adana. Bei seinem Besuch in Adana versprach Erdoğan, die Fabrik wird nicht geschlossen. Es war aber klar: Man kann sich auf sein Wort nicht verlassen. Er war am Flughafen am 10.2.2006 direkt mit einer Delegation von Tekel-ArbeiterInnen konfrontiert, die ihn abholten. Bei seinem zweiten Besuch haben die ArbeiterInnen versucht, die Straße zu sperren, was zu Auseinandersetzungen mit der Polizei geführt hatte.
Sowohl bei Fabriksbesetzungen, als auch bei Demonstrationen – Demos führen oft vom Fabriksgelände ins Stadtzentrum oder vom Zentrum zur Fabrik – versuchen die ArbeiterInnen, große Zufahrtsstraßen, wie die Autobahnen, zu blockieren. Das sind meistens die Situationen, in denen es zu brutalen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. Im Fall von Tekel Adana waren auf Seite der ArbeiterInnen zwei Personen danach im Krankenhaus und 82 Personen wurden verletzt. Was sicher zu diesem – halben – Sieg von Tekel geführt hat, war die breite Unterstützung von vielen verschiedenen politischen Gruppen. Es haben sich mehrere Plattformen gegen Privatisierungen in der Region gebildet, eine in der benachbarten Hafenstadt Mersin, eine größere in der Provinz Hatai, in der Adana liegt. Die haben etwa vom Zentrum zur Fabrik Fackelmärsche gemacht und die besetzenden ArbeiterInnen besucht. Nicht zu unterschätzen ist die Solidarität aus den anderen Tekel-Zigarettenfabriken.
Es gab einige Tage, da haben alle sechs Zigarettenfabriken, oder zumindest fünf, von ihrem Recht Gebrauch gemacht, „die Produktionsmacht nicht einzusetzen“. Das bedeutet in der Türkei noch keinen Streik. Von einem Streik wird erst gesprochen, wenn der Streikbeschluss juristisch abgesichert ist, d.h. wenn er bestätigt wird und nicht wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit verboten wird. Dann hängen die ArbeiterInnen ein Plakat „Hier wird gestreikt“ auf die Fabrik. Eine Niederlegung der Arbeit heißt noch nicht Streik, obwohl das für uns das ist, was wir mit Streik verbinden.
Sechs Monate später – November 2006: Nach der Umstellung auf Zigarettenverpackungen aus Karton war die Produktion noch immer nicht richtig angelaufen. Die Belegschaft ist krass reduziert worden – von 700 ArbeiterInnen sind nur mehr 450 beschäftigt, der Rest wurde in andere Produktionsstätten versetzt oder in Pension geschickt.
Die Privatisierung oder Schließung betrifft allerdings nicht nur die ArbeiterInnen in den Fabriken. Im März 2006 erneuert Tekel die Abnahmeverträge mit den Tabakbauern nicht, was ein Chaos verursacht, weil die Tabakbauern nicht wissen, was sie stattdessen ähnlich gewinnversprechend anbauen sollen. In den letzten sechs Jahren ist ihre Zahl bereits von 500.000 auf 285.000 gesunken. Am 20.März 2006 wird von der Privatisierungsbehörde die Schließung von 47 Tekel Direktionen, der Tabakverarbeitungsdirektion und dem Tabakannahmepunkt beschlossen. Das bedeutet, 27.000 TekelarbeiterInnen werden zu sogenannten C4 VerträglerInnen, genannt nach dem Absatz C4 im Privatisierungsgesetz Nr. 657, nach dem Beschäftigte von privatisierten Arbeitsplätzen als befristete ArbeiterInnen von anderen staatlichen Institutionen übernommen werden können, was im besten Fall Lohnkürzungen bedeutet.
SEKA
A: Ich habe erzählt, dass das Jahr 2005 das Jahr der Privatisierungen war. Da hat es im März 2005 einen Kampf von den SEKA-ArbeiterInnen gegeben, das ist eine Papier- und Kartonagefabrik in der Stadt İzmit. Sie steht deswegen in Zusammenhang mit Tekel, weil es sich auch um eine staatliche Fabrik handelt und das Werk ebenfalls privatisiert werden sollte. Da haben 700 Arbeiter 50 Tage lang gestreikt. Weil sie das Streikzelt wegen der Polizei räumen mussten, sind sie in die Fabrik hinein gegangen und haben sich in der Werkstätte verbarrikadiert. Daraufhin haben die Tekel-ArbeiterInnen aus Solidarität ihre Betriebe besetzt. SEKA war sozusagen der Beginn. Daraufhin haben aus Solidarität StudentInnen, BäuerInnen demonstriert. Die SEKA-ArbeiterInnen haben ebenfalls einen Teilsieg errungen. Die Privatisierung ist nach diesem Streik zurückgenommen worden.
B: Die Fabrik ist der Gemeinde übergeben worden.
A: Genau, sie ist der Gemeinde übergeben worden, und das Werk wurde geschlossen. Also von einem richtigen Sieg kann man nicht sprechen. Von den 700 ArbeiterInnen sind 100 in Pension geschickt worden, aber die 600 anderen wissen bis jetzt nicht, ob die Produktion weiter geht oder nicht.
Die Häfen
B: Ich spreche jetzt weiter über Tekel, warum dieser Kampf auf so viel Solidarität aus der Bevölkerung aufbauen konnte. Ein Jahr zuvor, im Jahr 2005, sind sechs Häfen in der Türkei auf dem Privatisierungsprogramm gestanden. Sechs andere Häfen wurden bereits in den 90er Jahren privatisiert: 1997 wurden die Häfen von Tekirdağ, Rize, Ordu, Sinop, Giresun und Hopa, die der staatlichen Schifffahrtsgesellschaft gehörten, verpachtet. 1998 wurde der Hafen von Antalya, 2000 dann die Häfen von Marmaris und Alanya und 2003 Çeşme, Kuşadası, Trabzon und Dikili (bei İzmir) privatisiert.3
Diese ersten Privatisierungen haben nicht gut funktioniert. Da haben sich vor allem türkische Unternehmer eingekauft, die teilweise nur die erste Kaufrate aufbringen konnten. Oder die die Sicherheit des Hafens nicht mehr gewährleisten konnten, wie z.B. beim Hafen von Hopa am Schwarzen Meer, ein kleiner Hafen in der Nähe der Grenze zu Georgien. Den hat der Mann von Tansu Ciller gekauft, und der hatte gleichzeitig ein Verfahren wegen Drogenhandels am Laufen. Ein Teil dieser Häfen gehört jetzt Banken, weil die Unternehmer nicht zahlen konnten, z.B. der in Antalya. Die sechs Häfen von 2005 wären größere gewesen: İzmir, İskenderun, Mersin, Samsun und die zwei kleineren Bandırma und Derince. Es handelt sich eigentlich um Verpachtungen auf 30 Jahre. Wobei zu sagen ist, dass auch in den noch staatlichen Häfen nicht alle Arbeiten von einem oder mehreren staatlichen Unternehmen gemacht werden. Es sind bereits viele Dienstleistungen ausgelagert, die Häfen sind Zentren verschiedenster Subunternehmen. Das bewirkt starke Unterschiede zwischen fix Angestellten und denjenigen, die für Subunternehmen arbeiten.
Gegen die Privatisierung des Hafens von Mersin gab es sehr starken Widerstand. Die HafenarbeiterInnen haben im Juli 2005 ursprünglich den Hafen für zehn Tage besetzt, also ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Daraus wurden insgesamt 76 Tage, über den August hinaus. Zugleich hatte die Gewerkschaft einen Antrag an die Hafenbehörde zur Aufhebung der Privatisierung des Mersiner Hafens aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ gestellt. Es ist zu bedenken, dass damit das gleiche Spiel zurückgespielt wird: einerseits kann die Regierung Streiks wegen Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ verbieten, anderseits argumentierte die Gewerkschaft hier ebenfalls mit dem Verlust der „nationalen Sicherheit“. Die Besetzung wurde abgebrochen, nachdem die Privatisierung des Hafens von Mersin einstweilen eingestellt wurde. Allerdings stand der Hafen von Mersin 2006 wieder auf der Privatisierungsliste der Privatisierungsbehörde, die im Internet einsehbar ist und alle geplanten Privatisierungen enthält.4Das war sicher ein Grund, warum die ArbeiterInnen von Tekel Adana bereits auf eine Anti-Privatisierungsplattform zurückgreifen konnten und so massive Unterstützung erhielten. Das ist nicht immer so. Mersin ist mehr oder weniger der Hafen von Adana, ca. 30 Kilometer entfernt. Adana ist die alte Stadt, die liegt nicht direkt am Meer, und Mersin ist die neuere Stadt.
Privatisierung der Gemeindebediensteten
Ich bleibe in dieser Region. Im Zuge der Privatisierung geht es bis zu den städtischen Autobusunternehmen und dem Reinigungsdienst. Im November 2005 gab es einen Beschluss zur Verschlankung und Standardisierung der Gemeinden und der von ihnen abhängigen Betriebe. Verschlankung der Gemeinden bedeutet vor allem Auslagerung, dabei geht es nicht so sehr darum, weniger Geld auszugeben, sondern darum, Personal einzusparen. Die Vorgaben sind relativ streng: In den „schlanken Gemeinden“ soll es nur noch 2/3 des bisherigen Personals geben.
Ein Bereich, an dem relativ leicht ausgelagert werden kann, und der in der Türkei weit verbreitet ist, ist die Straßenreinigung. In Adana wurde sie an ein Subunternehmen Miray Temizlik ausgelagert. Das ist ein weiterer Bereich der aktuellen Streiks in der Türkei:
Streiks in Subunternehmen.
Es war lange Zeit so, dass nicht klar war, wie eine gewerkschaftliche Organisierung in Subunternehmen aussehen kann. Einzelne Gewerkschaften reagier(t)en auf verschiedene Weise in dieser Frage. Manche weigerten sich, ArbeiterInnen von Subunternehmen zu organisieren. Aber das hat sich, auch im Krankenhausbereich, inzwischen geändert. Es gibt bereits Erfolge insofern, als sich Personen, die in Subunternehmen arbeiten, organisieren.
Die ReinigungsarbeiterInnen von Seyhan, Adana sind ein typischer Fall. Im Zuge der Privatisierungen mussten sie mehr Tage arbeiten, der Arbeitstag von 7.00 -19.00 (!) war streng durchorganisiert, sie hatten keine bezahlten Urlaube mehr. Solange sie bei der Gemeinde angestellt waren, konnten sie Teepausen, Zigarettenpausen machen, die ja jeder Mensch machen muss. Beim Subunternehmen durften sie keine Pausen mehr machen. Sie erhielten niedrige Löhne, bekamen diese spät ausbezahlt, und sie sind draufgekommen, dass sie zum Großteil nicht krankenversichert waren.
Daraufhin haben sie protestiert und gestreikt. Ansprechpartner war für sie war der Bürgermeister, der die Auslagerung durchgeführt hat. Inzwischen wurden aber 400 ArbeiterInnen entlassen, nachdem sie neue ArbeiterInnen angelernt hatten. Sie haben drei Monate lang Aktionen gemacht, die sie dann mangels Unterstützung einstellten. Im Sommer 2006 machten sie einmal in der Woche eine fixe Protestaktion – die „Mittwochaktion“. Ähnlich geht es den Reinigungsarbeitern in Balıkesir, in der Gemeinde Susurluk. Sie erhielten von Umutay Şirketi ihre Löhne nicht ausgezahlt – und beschlossen den Markt bis zur Auszahlung nicht zu putzen. 32 ArbeiterInnen waren daran beteiligt. Auch hier waren sie eigentlich out-gesourcet, benutzen aber weiterhin Gemeindefahrzeuge und Geräte.
Subunternehmen gibt es natürlich auch im privaten Bereich, wie bei Coca Cola.
Coca Cola
A: Der Streik bei Coca Cola, zu dem wir jetzt kommen, hat einen anderen Hintergrund, es handelt sich ja um ein Privatunternehmen. Im Mai 2005 hat dort ein Arbeitskampf begonnen, weil die Firma Gewerkschaftsmitglieder entließ. Das betrifft ein Subunternehmen von Coca Cola, die Auslieferungszentrale. Es gibt zwei solche Zentralen, in Dudulu und in Yeni Bosna in Istanbul. Bis 2000 waren die ArbeiterInnen dort bei Coca Cola beschäftigt, und gewerkschaftlich organisiert. 2000 wurden sie ausgegliedert. Es wird behauptet, dass dieses Subunternehmen nicht zu Coca Cola gehört, sie verwenden aber dieselben Autos, dieselben Uniformen, sogar dieselben Manager. Die Gewerkschaft ist auf Grund der Ausgliederung eliminiert worden, der Lohn betrug nur noch ein Drittel dessen, was sie zuvor bekommen hatten.
Im Mai 2005 sind in der Auslieferungszentrale in Dudulu fünf GewerkschaftsführerInnen entlassen worden. Aber nicht mit dem Argument, dass sie GewerkschafterInnen sind, sondern weil sie angeblich schlecht gearbeitet hätten. Das war natürlich eine Erfindung, es waren Leute betroffen, die seit 9 Jahren dort gearbeitet haben. Es sind dann ArbeiterInnen zur Zentrale gegangen und wollten wissen, wieso es diese Entlassungen gegeben hatte. Und da ist ihnen dann ganz offen gesagt worden, dass Coca Cola keine gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen beschäftigen möchte. Daraufhin sind am nächsten Tag gleich 50 weitere Gewerkschaftsmitglieder gekündigt worden. Diese 55 haben ein Streikzelt – eher eine Streikplane – vor dem Werk errichtet und waren Tag und Nacht dort anwesend. Ende Mai sind 50 weitere GewerkschaftsmitgliederInnen in Yeni Bosna entlassen worden. Das Subunternehmen, es heißt Trakya Nakliyat, hat gemeint, dass sie von Coca Cola dazu gezwungen worden seien, weil sonst ihr Vertrag mit Coca Cola gekündigt worden wäre. Das ist aber Blödsinn, es ist ja dasselbe Unternehmen. Aber auch in Yeni Bosna hat es vor den Entlassungen bereits Druck auf Gewerkschaftsmitglieder gegeben. Die haben dann ebenfalls ein Streikzelt vor der Zentrale in Yeni Bosna errichtet. Sie sind öfters von der Polizei angegriffen worden. Am 20.7.2005 ist dann das Ganze total eskaliert.
In Dudulu gab es wieder Verhandlungen mit der Gewerkschaft DİSK und der Unternehmensführung. Dabei sind um 6 Uhr früh 150 ArbeiterInnen mit Familienangehörigen – es waren auch Frauen und Kinder anwesend – in das Gelände von Dudulu hineinmarschiert und haben ihre Wiedereinstellung verlangt. Um 18 Uhr – die ganze Zeit sind Gespräche mit der Gewerkschaft gelaufen – haben die DİSK-VerhandlerInnen geglaubt, dass sie gerade eine Einigung mit dem Management erzielen können. Das war aber nicht so. Es sind ganz plötzlich 1.000 Polizisten aufmarschiert. Ich betone nochmals: es sind bloß 150 ArbeiterInnen, darunter Frauen und Kinder, anwesend gewesen. Und die Polizisten haben sofort, ohne Vorwarnung, Tränengasbomben in die kleine Menge geworfen.
Die ArbeiterInnen waren damit beschäftigt, ihre Familienangehörigen zu finden, und die Polizei ist sofort auf sie gestürzt, hat die Leute an Haaren, Händen und Beinen geschnappt. Aber nicht nur Männer, auch Kinder waren darunter, als sie die Leute mit Schlagstockeinsatz in die Busse verfrachteten. Es ist zu massiven Verletzungen gekommen und 92 Menschen sind verhaftet worden, darunter auch der Gewerkschaftsanwalt, der Präsident und ein Exekutivkomiteemitglied dieser Gewerkschaft. Die GewerkschafterInnen waren von der DİSK, die Untergewerkschaft heißt Nakliyat-İş [Transport-Arbeit]. Die sind auch festgenommen worden. Am selben Tag sind zwar 65 Menschen wieder aus dem Gefängnis entlassen worden, aber die GewerkschaftsführerInnen hat man mehrere Tage festgehalten. Coca Cola hat sich natürlich abgeputzt: „Wir haben mit diesem Trakya Nakliyat überhaupt nichts zu tun. Wir haben von nichts gewusst.“ Aber es ist ganz klar: Wenn 1.000 Polizisten auf ein Firmengelände kommen, dann hat die Firma die Polizei gerufen.
Am 29.10. haben sie doch ein Abkommen unterzeichnet, mit dem sie den Streik abgebrochen haben. Sie haben eine Abfertigung von 18 Monatsgehältern bekommen. Sie haben 160 Tage lang durchgehalten, haben sich ausgehungert. Während der Streiktage ist es nicht nur zu Streikzelten, Protestmärschen, Aufklärung der Bevölkerung und den Forderungen nach Wiedereinstellung gekommen. Man hat auch eine Kampagne organisiert „trink nicht Coca Cola“. Coca Cola veranstaltet Rockkonzerte, und es wurde versucht, dieses Konzert zu stören, sie sind aber nicht hingekommen. Aber sie haben sich lustige Störaktionen einfallen lassen und haben in den USA eine Klage wegen des Übergriffs vom 20.7.05 eingereicht. So sieht derzeit der Stand aus.
B: Also sie haben wenigstens eine Abfertigung bekommen. Die ReinigungsarbeiterInnen haben gar nichts gekriegt. Was aber bei beiden Streiks oder Widerstandsformen ähnlich ist, das ist, dass beide Betriebe ausgelagert waren, aber die ArbeiterInnen sich nicht an das Subunternehmen wenden, sondern an den früheren Arbeitgeber. Sowohl die PutzarbeiterInnen wenden sich nie an den Chef von Miray Temizlik, sondern prinzipiell an den Bürgermeister. Ihre Aktionen sind an den Bürgermeister gerichtet und nicht an den Subunternehmer. Ähnlich wie bei Coca-Cola putzten sie weiterhin mit den Geräten der Gemeinde und nicht etwa mit neuen Geräten des Subunternehmens.
Die Werften
Ähnlich ist es bei den Werften. In einer Werft in der Nähe von Istanbul, Tuzla, das ist ein großes Werftgelände mit verschiedenen Werften darauf, dort lief Juni 2006 ein Streik. Am Freitag, den 30.6.06 war eine Solidaritätskundgebung in Istanbul für die bei diesem Streik Verhafteten. Da ging es darum, dass bei einer der Werften DESAN, 55 LeiharbeiterInnen von einem Subunternehmen arbeiteten und zwei Monate lang ihren Lohn nicht erhalten haben. Sie haben dann Lohnforderungen gestellt. Interessanterweise haben sie ihre Lohnforderungen angesichts der vielen Arbeitsunfälle in dieser Werft damit verbunden, die 35-Stunden-Woche zu fordern. Das finde ich sehr interessant. Denn in der Türkei ist eigentlich die 48-Stunden-Woche üblich, und ein 7-Stunden-Tag ist völlig gegen das, was einem als ArbeiterIn geboten wird. Sie forderten 2 freie Tage pro Woche. Es war also eine Forderung nach viel besseren Verhältnissen als die gerade bestehenden. Außerdem haben sie die ausstehende Lohnauszahlung gefordert, weiters pünktliche Lohnzahlungen, eine Urlaubsregelung, Sozialversicherung, Abfertigungen, gesunde Unterkünfte für „FremdarbeiterInnen“, Regelungen gegen Leiharbeit und gegen Out-sourcing. Der Protest dieser 55 LeiharbeiterInnen hat Ende Mai 2006 begonnen und hat sich ziemlich schnell radikalisiert. Sie haben Demozüge auf dem Werftgelände zur Werft gemacht, weshalb sie auch von vielen anderen Arbeitern gesehen wurden.
Der Werftbesitzer hat sie immer wieder von der Polizei räumen lassen. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei am Werftgelände haben die Situation eskaliert. Es gab Tage, an denen sogar die Bahnstation in der Nähe dieses Werftgeländes von der Polizei gesichert war und alle WerftarbeiterInnen des Geländes perlustriert worden sind, ca. 5.000 Menschen, nicht nur die der DESAN-Werft. Sie haben einmal eine Konfrontation zwischen dem Subunternehmer und dem eigentlichen Unternehmer herbeigeführt. Denn der Subunternehmer hat behauptet, er hätte noch kein Geld bekommen, darum könne er die Arbeiter nicht auszahlen. Also anfangs haben sie sich noch an den Subunternehmer gewendet. Der eigentliche Unternehmer hat behauptet: „Wir haben schon längst bezahlt, das ist nicht unser Problem“. Bei der Konfrontation hat sich dann herausgestellt, dass nur teilweise bezahlt worden war. Der Unternehmer übergab dem Subunternehmer dort das Geld. Das Geld reichte aber nicht aus, um die ArbeiterInnen auszubezahlen.
Damit waren die ArbeiterInnen nicht einverstanden. Sie wollten alles. Das habe ich sehr interessant gefunden, sich nicht mit weniger zufrieden zu geben, obwohl auf dem Spiel stand, vielleicht gar nichts zu kriegen. Ca. 2 Wochen nach Beginn dieser Auseinandersetzungen besetzten die ArbeiterInnen das Schiff, das sie gebaut hatten. Es konnte einen Tag lang besetzt gehalten werden. Am Abend kam die Polizei und die Werft wurde geschlossen. Von Beginn an kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Beispielsweise kam der Gewerkschaftsvertreter einmal mit einer schlimmen Kopfverletzung ins Krankenhaus. Am 20.6.2006 wurde er gemeinsam mit dem Bildungsbeauftragten der Gewerkschaft und 33 AbeiterInnen verhaftet, beide Gewerkschafter blieben über fünf Wochen bis zur ersten Verhandlung am 20.7.2006 in Haft. Am 21.6. heizte ein tödlicher Arbeitsunfall die Situation im Werftgelände weiterhin an. Laut dem Verein für Menschenrechte İHD waren in den vergangenen Monaten auf dem Werkgebiet 13 ArbeiterInnen, fünf davon innerhalb der letzten 50 Tage bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen.
An diesem Streik fällt die schnelle Eskalation innerhalb von ein bis zwei Wochen auf. Die Unternehmerseite reagiert mit Polizeieinsätzen. Zugleich haben die ArbeiterInnen relativ starke Unterstützung innerhalb der WerftarbeiterInnen – die hohe Anzahl der Arbeitsunfälle, teilweise sogar mit tödlichem Ausgang trägt sicherlich zur Solidarität unter den ArbeiterInnen bei. Im August 2006 wurden sieben ArbeiterInnen bei einer Gasexplosion schwer verletzt, die darauffolgende Protestkundgebung wurde von der Polizei mit Tränengas aufgelöst und acht weitere Gewerkschaftsaktivisten wurden verhaftet.
Außerdem unterstützten politische Gruppen den Arbeitskampf, z.B. fand am13.6. eine Solidaritätskundgebungen von politischen Parteien zur Freilasssung der Gefangenen beim Galatasaray Postamt im Stadtzentrum statt.
Textilsektor
Subunternehmen sind auch im Textilbereich stark verbreitet und hier gibt es zahlreiche Streiks. Der Textilsektor in der Türkei nimmt in den letzten Jahren ab, er macht 28% des Exports, 30% der Beschäftigten, 21% der industriellen Produktion aus. Schätzungen gehen von Beschäftigten zwischen 2- 3 Millionen aus, davon sind allerdings nur 550 – 750.000 versichert, alle anderen arbeiten also schwarz. In den letzten beiden Jahren wurden ca. 19.000 Werkstätten geschlossen, dabei gingen ungefähr 1 Million Arbeitsplätze verloren. 180.000 Klein- und Mittelbetriebe sind in diesem Sektor, im Jänner/Februar 2006 kam es wieder zu 200.000 Kündigungen. Es wird von der Textilkrise gesprochen, begründet wird sie mit der Konkurrenz aus China. Die türkischen Unternehmen selbst lagern nach Zentralasien aus. Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechtern sich dementsprechend.
Zu den Streiks: Die Beobachtungen entsprechen dem Prinzip „weniger Produktionsmacht – weniger Macht beim Arbeitskampf“. Die Kämpfe gehen selten gut aus. Ein bekannter Streik war bei Serna-Seral Tekstil. Wegen gewerkschaftlicher Organisierung wurde ein Teil der ArbeiterInnen entlassen. Bis zur Bestätigung des Streikbeschlusses wurden laufend weitere KollegInnen entlassen. Sie bauten das Streikzelt auf und bestreikten die Fabrik acht Monate lang. Alle 71 ArbeiterInnen, die den Streik begannen, beendeten ihn erfolgreich. Am 247. Streiktag war der Tarifvertrag für zwei Jahre mit dem Unternehmen ausgehandelt: im 1. Jahr 12% Lohnerhöhung, im 2. Jahr 10%, außerdem 1250 TL pro ArbeiterIn.
Real geendet hat es aber so, dass sie einen Monat bezahlten Urlaub bekamen und die, die ungerechtfertigt entlassen worden waren, ihren Lohn erhielten. Dann wurde die Fabrik geschlossen. Also nur ein halber Sieg, denn die Fabrik ist jetzt weg und es ist schwer zu sagen, ob sie woanders wieder aufmachen wird, oder ob das Unternehmen wirklich pleite ist, denn Textilunternehmen sind relativ flexibel.
Andererseits ist es natürlich ein Sieg, nach acht Monaten zu erreichen, wofür man/frau gekämpft hat. Diese Erfahrung zu machen, einen achtmonatigen Streik durchzuführen, bis zum Schluß gemeinsam zu streiken, allen An- und Übergriffen Stand zu halten, ist ein Sieg. Wenn man ihre Berichte liest, sind sie sehr euphorisch und kämpferisch: „Diesen Kampf werden wir in der nächsten Fabrik wieder führen“.
Eğitim-Sen
A: Ich gebe jetzt einen kurzen Einblick in die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, die bereits in den 70er Jahren sehr wichtig war. Ich greife im Speziellen die LehrerInnen heraus, weil deren Gewerkschaft seit kurzem überhaupt verboten ist. Sie nennt sich Eğitim Sen [Unterrichtsgewerkschaft] und gehört zum Dachverband der KESK, der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten.
1980 war der Militärputsch, in den 70er Jahren hatte die ArbeiterInnenbewegung eine hohe Konzentration und es bestand die Möglichkeit, dass es zu einer Revolution komme. Die LehrerInnen waren massiv dabei. LehrerInnen bzw. überhaupt die öffentlich Bediensteten, die Beamten durften und dürfen sich nicht organisieren. Sie hatten weder Streikrecht noch Tarifrecht. Das war auch in den 70er Jahren so. Sie haben sich damit beholfen, dass sie Vereine gegründet haben. Der in den 70er Jahren wichtigste Verein war TÖB-DER [Türkiye Öğretmenler Birliği ve Dayanışma Derneği – der Einheits- und Solidaritätsverein der LehrerInnen Türkei], der bereits im Jahr 1977 140.000 Mitglieder hatte. Die verschiedensten linken Gruppierungen waren da drinnen und haben sich am Kampf gegen die Regierung, gegen die Rechten beteiligt.
Es ist zu etlichen Morden an Mitgliedern gekommen, sogar der Gewerkschaftsführer dieser Zeit ist erschossen worden. TÖB-DER wurde mit dem Militärputsch 1980 ebenfalls geschlossen. In den 80er Jahren hatten die LehrerInnen immer noch nicht das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen. 1988 wurde wieder ein LehrerInnenverein gegründet. Und erst 1990 wurde dann Eğitim Sen, die LehrerInnengewerkschaft, gegründet. 2005 hatten sie bereits 210.000 Mitglieder, und damit sind sie die größte Gewerkschaft innerhalb der KESK, (Kamu Emekçileri Sendikaları Federasyonu), der Föderation der Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten.
Sie haben sich u.a. auch mit den SEKA-ArbeiterInnen, von denen ich bereits erzählt habe, solidarisiert, indem sie dort anwesend waren. Der aktuelle Verbotsgrund ist, dass in ihrer Satzung die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht, also auch dem Kurdischen, steht. Das hat die Staatsanwaltschaft dazu verwendet, 2004 den LehrerInnenverein Eğitim Sen wegen kurdischem Separatismus anzuklagen und sein Verbot zu verlangen.
Es ist zu betonen, dass der angebliche kurdische Separatismus nur ein Aufhänger ist. Es geht eher darum, dass die LehrerInnen mit ihren Forderungen sehr radikal sind. Dabei geht es um die Privatisierung der Schulbildung, die gerade in Angriff genommen wird. Aber sie treten auch gegen das neue Anti-Terror-Gesetz massiv auf. Im Mai 2006 organisierten sie einen Dreitagesmarsch nach Ankara von drei Städten aus: Zu Tausenden sind sie von Istanbul, von Izmir und von Şanlı Urfa wegmarschiert. In Ankara wurden sie dann behindert und festgenommen. Dabei kam es zu Polizeiübergriffen. Eine neue Methode, um die aktiven LehrerInnen einzuschüchtern, besteht darin, dass es zu häufigen Strafversetzungen kommt.
Hunderte Leute werden und wurden von West nach Ost versetzt, in Gebiete, in denen es überhaupt keine Gewerkschaft gibt. Seit 2000, seit der AKP-Regierung, gibt es ca. 2.000 Versetzungen. Seit 25.5.2005 ist Eğitim Sen offiziell aufgelöst.
Welche Streiks sind wie erfolgreich?
B: Wir haben diese Aufzählung vor allem unter dem Aspekt gemacht, welche Streiks erfolgreich sind. Erfolgreich sind einerseits Verhinderungen von Privatisierungen. Die werden oft breit unterstützt. Einige der Streiks in der Türkei werden von politischen Organisationen unterstützt. Die Unterstützung besteht nicht immer vor Ort, sondern es gibt auch Solidaritätsaktionen an anderen Orten. Tekel Adana ist ein gutes Beispiel. Da fanden Solidaritätsaktionen an anderen Orten, an denen auch ein Tekel- Betrieb vorhanden ist, statt. Besonders an solchen, die auch geschlossen werden sollen. Das stärkt auch den dortigen Widerstand. Wenn man solche Soli-Aktionen woanders sieht, wird man auch selbst mutiger.
Ich habe in den letzten Monaten viele Kurzmeldungen auf türkisch zu Streiks gelesen. Vor allem die Vielfältigkeit der Aktionen hat mir gut gefallen. Oft beginnt es mit kleinen Aktionen, die Arbeiten werden für zwei Stunden am Tag, oder für zwei Tage niedergelegt. Das wird dann ausgeweitet. Dann gibt es Sitzstreiks, Hungerstreiks. Das kommt aus der Geschichte der türkischen Gewerkschaften, die lange verboten waren. Im osmanischen Reich gab es zwar bereits Vorformen von Gewerkschaften, aber unter den Jungtürken (1909) waren sie bereits verboten. In der türkischen Republik (ab 1923) dann sowieso. Erst 1947 sind dann Gewerkschaften erlaubt worden, allerdings ohne Streik- und ohne Kollektivverhandlungsrecht. Erst 1963 hat es ein Gesetz gegeben, das Gewerkschaften inklusive Streikrecht ermöglicht hat. Denn eine Gewerkschaft ohne Streikrecht hat keine Macht.
In der Zeit, in der es kein Streiksrecht gab, gab es aber natürlich trotzdem bereits Streiks. Und es musste auf andere Formen zurückgegriffen werden. Z.B. haben die Straßenbahner den Bartwachsstreik durchgeführt: Sie haben sich einfach nicht rasiert und waren damit auffällig im Stadtbild von Istanbul in den Anfangszeiten des Kemalismus, als Schnurrbärte den traditionellen Vollbart ablösten. Zugleich hat man gleich gesehen, welche Straßenbahner da mitmachen.
A: Oder kollektiv: Wenn man die Arbeit nicht niederlegen konnte, ist man kollektiv zu den Ärzten gegangen, zu hunderten. Und hat auf diese Art den Streik durchgeführt.
B: Demos finden oft spontan statt, und in den Industriezonen. Oft ist neben einer Stadt eine Industriezone, ob gefördert oder nicht, nach Region unterschiedlich. Geförderte Industriezonen gibt es vor allem in Kurdistan, und da ist kein großer Ansturm darauf. Die liegen oft brach. Von Unternehmerseite wird das mit unregelmäßigen Arbeitszeiten der Bevölkerung aus der Umgebung, die großteils von Subsistenzwirtschaft lebt, begründet. Wenn man in der Industriezone eine Demonstration macht, sehen das natürlich viele andere ArbeiterInnen. Oder es gibt Demos von der Stadt in die Industriezone.
A: Oder von der Industriezone zu den Regierungszentren, das ist im Verlauf der AKP-Regierung oft passiert. Dass man dort protestiert und Erdoğan darauf hinweist, was er vor Regierungsantritt nicht alles versprochen hätte. Es wurde überhaupt nichts von dem realisiert, was er versprochen hat.
B: Ein weiterer Schritt sind die beschriebenen Aktionen, den Arbeitsplatz nicht zu verlassen. Das sind eigentlich Fabriksbesetzungen. Das ist in letzter Zeit sehr häufig geschehen, dass die Arbeiter ihren Arbeitsplatz oder das, was sie gebaut haben, besetzt haben.
A: Der Ausgangspunkt war oft, dass zuerst Streikzelte vor den Fabriken errichtet wurden. Und wenn die von der Polizei angegriffen wurden –und das Polizeiaufgebot war oft sehr enorm –, hat man sich zu Militanz durchgerungen und ist in die Fabrik gegangen, aus dem Streikzelt heraus. Und nicht nach Hause.
B: Ein Beispiel, das ich gelesen habe – beim Erdgasvertrieb in Ankara wollte die Unternehmensführung sich mit den Gewerkschaftern nicht über die anstehenden Lohnerhöhungen unterhalten. Da haben die einfach in der Kantine nicht gegessen, sondern stattdessen mit den Tellern und dem Besteck einen irren Lärm gemacht, sodass sie gefragt werden mussten, was hier eigentlich los ist. Das geht also von kleinen Aktionen bis zu großen, wo sehr viele teilnehmen müssen, wie z.B. um eine Autobahn zu blockieren oder um den Arbeitsplatz nicht zu verlassen.
A: Warum sieht man auf den Fotos fast nur Männer? Wir haben darüber auch gerätselt. Wir erklären es uns damit, dass in vielen Betrieben Widerstand sehr wohl von Männern ausgeht, und dass die Frauen weniger fotografiert werden. Bei fast allen Streiks, bei den größeren, sind auch die Frauen und Kinder anwesend und machen mit. Auch bei den Coca-Cola-ArbeiterInnen, waren Frauen dabei.
B: Besonders bei den Textil- und Tabakarbeiterinnen.
C: Der Frauenanteil am Arbeitsplatz ist immer noch gering. Traditionellerweise sollen sich Frauen nicht fotografieren lassen.
B: Interessante Fotomotive sind Streikende verschiedener Betriebe, die sich gegenseitig besuchen. Da gibt es ein Foto, wo die MIKA und die Serna-TextilarbeiterInnen einander besuchen. Auf der einen Seite stehen mehr Frauen, auf der anderen eher Männer.
A: Bei den Gewerkschaften ist es so, dass nur bei Eğitim Sen, bei der LehrerInnengewerkschaft, immer wieder eine Frau im Präsidium sitzt. Sonst sind es durchgehend Männer. Aber das ist bei uns auch nicht anders.
C: Die LehrerInnengewerkschaften sind meist Revolutionäre. Da sieht das Bild anders aus.
Diskussion
A: Die MISK hat z.B. im Juni 1967 eine schreckliche Rolle gespielt sind, da sind etwa Hunderttausende auf die Straße gegangen in Istanbul, weil die Regierung das Gewerkschaftsrecht einschränken wollte. Dagegen hat es Proteste gegeben. Da hat die MİSK auf Seiten der Regierung eingegriffen und viele Menschen verletzt.
C: Ein tschechischer Filmemacher, der damals in der Türkei war, hat einen Film darüber gemacht. 500.000 waren damals am 1. Mai auf der Straße.
B: Wenn man die Streikberichte liest, krankt es nicht an der fehlenden Militanz der einzelnen Gewerkschafter, sondern es liegt eher an oben. Die Bürokratenschicht ist die, die sich abspricht, nicht der Mann, der in einem Industrieviertel als Gewerkschaftsvertreter sitzt.
F: Wie sind die Kontakte zwischen den verschiedenen Gewerkschaften? Arbeiten die zusammen? Wie ist der Kontakt zwischen den ArbeiterInnen hinsichtlich Geschlecht, Nationalität und Religion? Welchen Einfluß haben die staatlichen und die linken Parteien auf die Gewerkschaften?
B: Zu deiner zweiten Frage kann ich nicht viel sagen, obwohl ich sie sehr interessant finde. Bereichsmäßig ist das verschieden. Bei den Textilbetrieben verstehen sich die verschiedenen Vertreter eher gut. Im Februar 2006, haben sie angesichts der heraufbeschworenen Textilkrise einen Textilgipfel mit Regierung und Unternehmensvertretungen organisiert. Sie hatten zwar durchaus unterschiedliche Positionen, aber immerhin haben sie gemeinsam festgestellt, dass die Krise auf die Arbeiter abgewälzt wird. Türk- İş hat das natürlich am wenigsten vertreten. Dagegen war der Vertreter von Hak-İş direkter, er hat die Unternehmer damit konfrontiert, dass sie ja selbst auslagern.
Sonst kommt es natürlich auch zu Konkurrenzsituationen, von denen manche eindeutig herbeigeführt sind. Ich habe über einen Streik bei dem Cargo-Unternehmen Antaş gelesen. Die ArbeiterInnen wollten bereits 2003 einmal streiken, das war wieder ein Streik, der „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ verboten worden ist. Nach 2 ½ Jahren, im April 2006, wollten sie wieder streiken, da hat aber dieser Cargo-Unternehmer bereits die Tochterfirma Rıza İldem gegründet gehabt, die gewerkschaftlich organisiert war, und zwar bei einer anderen Gewerkschaft. Da waren dann sozusagen die Streikbrecher von einer anderen Gewerkschaft. Es ist dann zu einem Eklat gekommen und viele verschiedene Gewerkschaftsvertreter mussten hinkommen, um den Streit zu schlichten. Zu solchen Situationen kann es schon kommen.
Bei staatlichen Betrieben, wie bei den Waldarbeitern – die Wälder sind großteils staatlich – gibt es auch Konkurrenzsituationen, hier zwischen Hak-İş und Türk-İş. Ich habe über einen Fall gelesen, da wollten sie, dass die Gemeindearbeiter, die inzwischen ausgelagert sind von einer zur anderen Gewerkschaft übertreten – allerdings innerhalb eines Gewerkschaftsdachverbandes. Obwohl nicht klar war, warum.
Zur Frage des Geschlechterverhältnisses, da weiß ich wenig darüber, wie das ist. Das wird wahrscheinlich in verschiedenen Arbeitssituationen unterschiedlich sein. Aber meinst du in den Fabriken, oder in der Gewerkschaft? Die meisten Gewerkschafter, über die ich gelesen habe – außer Eğitim Sen – sind Männer. Ich habe nur sehr wenig von weiblichen Gewerkschafterinnen gelesen.
A: Ende der 80er Jahre gab es bei Migros einen Streik, da war eine Frau führend. Das war eine Revolutionärin – um zur dritten Frage zu kommen – die sehr wohl politisch organisiert ist.
B: Ich habe im Internet nicht so viel von den Gewerkschaften selbst gelesen, sondern Streikberichte von politischen Gruppierungen. In der Gewerkschaftslektüre wird das so abgehandelt: Der Widerspruch Kurden – Türken ist eigentlich kein Problem unter den ArbeiterInnen, sondern wird als Spaltungsinstrument eingesetzt. Die GewerkschafterInnen in der Auseinandersetzung mit der Regierung beim Textilgipfel stellen fest: das ist nicht das Problem der ArbeiterInnen, sondern es wird darauf reduziert, um die Gewerkschaftsarbeit durch dieses gegeneinander Ausspielen zu erschweren.
A: Beim Zonguldak-Streik – ich habe das erwähnt – hat die Regierung versucht, verschiedene Ethnien in der Türkei zu spalten. Indem über Tage hauptsächlich Minderheiten angestellt waren, und unter Tage die türkische Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern. Das ist ihnen aber auch nicht gelungen. Große Teile der Gewerkschaftsführung der ersten Gewerkschaften, die dort gegründet wurden, waren Angehörige von Minderheiten, vor allem Lasen, aber das hat sich absolut vermischt.
B: Ich habe in einer Studie, bei der 1.200 Personen befragt worden sind, gelesen, was sie am schwierigsten in der Türkei fänden. Ganz wenige sagen „das Kurdenproblem“. Die meisten sagen „zu wenig Geld, die Armut, die Arbeitslosigkeit ist das größte Problem“. Das sagen 70 oder 80 Prozent, und vielleicht zwei Prozent sagen „Kurden – Türken“. Ich fand es interessant, dass das so unwichtig ist.
F: Was unterscheidet kämpferische und revolutionäre Gewerkschaften? Kann man überhaupt innerhalb der türkischen Arbeiterklasse die Unabhängigkeit der Gewerkschaften erreichen? Meiner Meinung nach dürfen die Linken in der Gewerkschaft sein, aber die Rechten nicht. Weil sie gehören eindeutig nicht zur Klasse, sind ausgeschlossen. Wie kann man also eine Diskussion über unabhängige Gewerkschaften in der Türkei führen? Dass in der Führung von Gewerkschaften keine Kemalisten oder Religiöse stehen.
Eine weitere Frage zu Zonguldak wegen der Forderung nach 500% Lohnerhöhung. Nach wirtschaftlichen Aspekten ist es unmöglich, dass eine Firma 275% Lohnerhöhung zugesteht, wie diese es gemacht hat. Außer die Firma vereinbart mit dem Staat, dass die Inflationsrate steigt.
B: Das war eine staatliche Firma.
A: Und sie haben 10 Jahre lang Lohnverluste gehabt.
F: Damals gab es ständige Inflation in der Türkei. Wie war das danach?
A: Von den 1980er Jahren bis in die 2000er Jahre ist die Inflation ständig angestiegen. Und jetzt hat sie sich – aufgrund der Privatisierungen – für die Unternehmer stabilisiert. Es ist sogar ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. 2001 wurde die Lira um 44% abgewertet. Und man hat irrsinnig viele Auslandsschulden angehäuft.
B: Seit drei Jahren ist die Lira locker an den Dollar gebunden – wogegen sich die Textilunternehmer aussprechen und ihrerseits von der Regierung die Aufhebung forderten.
F: Dann gibt es noch das Problem der Arbeiteraristokratie. Und zur Frage der revolutionären Gewerkschaft sagen wir, dass eine revolutionäre Gewerkschaft in einer derartigen Situation die Machtfrage stellen muss. Das unterscheidet sie – ein revolutionäres Programm, aber keine revolutionäre Führung.
Wichtig ist mir noch die Frage der Frauen, der Arbeiterinnen in der Türkei. Wir, die Kurden, sagen, das erste Problem in der Türkei sind feudale Verhältnisse, die immer noch stark sind. Das muss bekämpft werden, innerhalb der Arbeiterklasse. Frauen können sich immer noch schlecht organisieren.
Das zweite ist die Ökonomie innerhalb der Arbeiterklasse, die Stadt-Dorf-Ökonomie. In der Türkei ist es nicht so wie in Europa. Ein Arbeiter arbeitet, aber sein Einkommen reicht nicht für das Überleben seiner Familie. Deshalb sagen wir Dorf-Stadt-Ökonomie, sie sind vom Dorf abhängig. Und da greifen die Frauen ein.
B: In dieser zitierten Studie wurde gefragt „wer bringt wie viel vom Dorf mit?“ Und erstaunlicherweise kam dabei heraus, dass die Sozialversicherten und Organisierten sich am meisten vom Dorf mitbringen können. Weil sie ins Dorf fahren können. Die anderen haben oft gar keinen Urlaub und keine Möglichkeiten, für Nachschub zu sorgen. Die Familien sind auch oft zu verarmt, um sie zu unterstützen. Ich fand das interessant, denn man denkt sich, je ärmer, desto mehr Dorf. Aber die Netzwerke sind dann schwerer aufrecht zu erhalten. Es gibt in der Türkei Arbeitsverhältnisse mit einer 7-Tage-Woche und 10-Stunden-Tag. Da kann man nicht mehr ins Dorf fahren.
F: Da kommen auch die Verwandten vom Dorf in die Stadt.
F: Ich zweifle, dass die Dorfökonomie in der Türkei noch immer eine so große Rolle spielt.
A: Ja, sie löst sich auf. Sie spielt zwar noch eine Rolle, löst sich aber auf.
F: Wie sieht es denn in Dienstleistungssektoren aus, diese Leute, die saisonmässig arbeiten, im Tourismus und so. Gibt es da Organisationen? Oder bei ErntehelferInnen?
B: Im Tourismus haben wir nur einen Streik in einem Hotel in Izmir, im Hilton, gefunden, im Jahr 2005. Es sind SaisonarbeiterInnen, die organisieren sich dazwischen nicht. Es gibt wohl einen „Tourismus-Iş“. Wer allerdings auf den Tourismus rekurriert, sind die Gemeindebediensten von Antalya in den neu anstehenden Lohnverhandlungen, d.h. sie drohen die Lohnverhandlungen inklusive Streiks in die Tourismussaison hineinzuziehen.
Die FeldarbeiterInnen sind nicht sozialversichert. In der Studie heißt es, dass es starke Spaltungen zwischen den ArbeiterInnen gibt. Die gewerkschaftliche Organisierung ist vor allem in den Industriebetrieben stark. Auch in den 60er und 70er Jahren war sie dort stark, und auf den großen Baustellen. Der Unterschied zu dieser Zeit ist, dass jetzt mehr out-gesourcet ist. Aber das war in Zonguldak auch schon ähnlich: verschiedene ArbeiterInnen mit unterschiedlichen Verträgen am selben Ort.
Die Arbeitgeber selbst schlagen in diesen Fällen den ArbeiterInnen vor, sich gewerkschaftlich zu organisieren – die Stammbelegschaft. Um besser spalten zu können.
F: In der Landarbeit spielen die Kemalisten eine große Rolle. Sie versuchen, die kurdische Frage zu politisieren. Um von der Klassenfrage abzulenken. Die linken ArbeiterInnen versuchen, das zu ändern, aber die sind leider zur Zeit in der Türkei schwach – nicht nur in der Türkei.
C: Von welchem Gebiet sprichst du?
F: In Kurdistan gibt es diese Landarbeiter, die am Dorf leben. Aber dort wird viel Land von den Imperialisten aufgekauft, und dort arbeiten diese Leute dann. Am Schwarzen Meer und um Adana ist es ähnlich. Dort gibt es auch viele LandarbeiterInnen.
B: Ich erzähle jetzt noch von einem Streik in Kurdistan, das war im Juni 2006. Dort gibt es die Stadt Bağıvar, eine kleine Stadt. Dort gibt es mittlerweile 12 Ziegelfabriken, mit 7-Tage-Woche, 10-Stunden-Tag, keine Gesundheitsvorkehrungen, kein bezahlter Urlaub, sondern unbezahlt ein bis zwei Monate frei. Und vor 14 Tagen haben sich die ArbeiterInnen von 10 dieser 12 Ziegelfabriken zusammengeschlossen und einen Streik organisiert. Sie wollten 50% Lohnerhöhung. Das heißt schon, sie sind irre unterbezahlt. In einer Fabrik haben sie sich dann auf 35% Lohnerhöhung geeinigt, und die anderen Fabriken haben nachgezogen. Aber dort ist fast niemand sozialversichert und überhaupt niemand ist gewerkschaftlich organisiert.
Das ist also ein Streik jenseits jeder Gewerkschaft, weil dort gab es überhaupt keine Gewerkschaft. Ich glaube, diese Stadt wurde über die Absiedlungen durch den Gap – diesen großen Staudamm – größer. Und es ist keine Gewerkschaft nachgezogen. Jetzt natürlich schon, aber erst, nachdem sie diesen Streik selbst organisiert haben. Die Männer arbeiten für die Ziegelpatrone, die Frauen auf den Feldern als Tagelöhnerinnen, teilweise sind sie schon 10-15 Jahre dort.
F: Also es gibt verschiedene Gewerkschaften, aber es hat mir so geklungen, als wären die ArbeiterInnen und die Gewerkschaften eins, als gäbe es da keine Konflikte.
B: Ja, dieser Teil ist ausgelassen worden.
F: Aber wisst ihr über wilde Streiks, oder wo die Gewerkschaft nachzieht, um zu bremsen? Ich denke ja, die Funktion von Gewerkschaften ist mehr integrativ als revolutionär. Es kommt öfter vor, dass ArbeiterInnen streiken, und die Gewerkschaften zu verhandeln beginnen. Und dann von der Gewerkschaft Angebote angenommen werden, die die ArbeiterInnen noch nicht annehmen würden.
B: Z.B. bei diesem Autoreifenunternehmen, die haben Pirelli, Sabanci und Goodyear vertreten. Und da war es so, dass nur die Arbeiter von Goodyear mit dem Abkommen zufrieden waren. Alle anderen hätten lieber gestreikt, als diesen Vertrag abzuschließen. Die ArbeiterInnen von Goodyear wurden derart von ihrem Unternehmen bedroht, indem Goodyear eine Kampagne gemacht hat, dass sie die Produktion nach weiß ich wohin verlegen könnte und alle entlassen werden. Da gab es eine starke Auseinandersetzung. Die haben dann nicht mehr mit dem Gewerkschafter gesprochen danach, sondern haben das öffentlich gemacht. Als der Gewerkschafter gekommen ist und das Ergebnis mitgeteilt hat, sind sie weggegangen.
Beim Tabak: Von Tekel aus werden noch weitere Tabakverarbeitungen geschlossen. Darunter sind welche, da möchte die Gewerkschaft überhaupt nichts dagegen unternehmen, sondern unterstützt die Privatisierungspolitik der Regierung, z.B. bei der Tabakverarbeitung Balatçık Tekel, in der vor allem Frauen als SaisonarbeiterInnen arbeiten – ca. 600 zu 1.000 Fixangestellten. Früher arbeiteten sie elf Monate, in den letzten Jahren nur mehr sechs und heuer sollten sie nur mehr 35 Tage arbeiten – oder C4 Vertagbedingungen akzeptieren. Da funktionierte das dann so, dass die Arbeiterinnen – das betrifft vor allem Frauen – einmal in der Woche ins Gewerkschaftsbüro kamen und dort eine Auseinandersetzung hatten. Oft ist es so, dass die ArbeiterInnen die Gewerkschaft richtig treten müssen. Sie kommen dann geschlossen ins Gewerkschaftsbüro, und gehen nicht mehr weg.
Zu der Geschichte mit der Kantine: Die haben auch eine Auseinandersetzung mit dem für sie zuständigen Gewerkschafter gehabt. Die Gewerkschafter, die nicht wollen, berufen sich stark auf die Bürokratie. Aber ich glaube, es gibt wirklich viele Hindernisse in dieser Bürokratie. Dann gibt es diejenigen GewerkschafterInnen, die keinen Streik führen wollen, die die ArbeiterInnen wieder wegschicken, schlecht behandeln.
F: Aber wenn Streiks begonnen werden, dann werden erst die Gewerkschafter überzeugt, oder beginnt man einfach mit dem Streik?
A: Wenn etwas Großes im Gang ist, dann hängt sich die Gewerkschaft sowieso hinein.
B: Ich glaube, der Widerstand beginnt meist in der Arbeit. Das sind oft keine Streiks. Selbst wenn es eine Arbeitsniederlegung ist, ist das ja in der Türkei noch kein Streik. Wilde Streiks in diesem Sinn kenne ich nicht, außer bei den Ziegelwerken Tula. Denen laufen die Gewerkschafter jetzt auch hinterher. Und sie werden sie auch einkochen.
A: Migros, ein Handelsunternehmen: Da kam es in den 90er Jahren in einer Fabrik zu einem Streik. Da war eine Frau als Streikführerin dabei. Dort kam es so weit, dass die einen Streik ausgerufen haben und die Gewerkschaft absolut nicht damit einverstanden war, den Streik verhindern wollte. Aber sie hat es, mit anderen zusammen, geschafft, dass sogar die Bezirksstelle der Gewerkschaft abgeschafft wurde und sie diese Funktion übernommen haben. Sie haben sozusagen die Gewerkschaft auf unterer Ebene aus den Angeln gehoben.
Bei den SEKA-ArbeiterInnen 2005, ich habe davon erzählt, dort ist es um Privatisierung gegangen, bis zur Betriebsbesetzung. Dort waren Linke dabei, die das organisiert haben. Die waren mit dem, was die Gewerkschaft ausgehandelt hat, überhaupt nicht einverstanden – dass zwar die Privatisierung aufgehoben worden ist, aber die Fabrik stillgelegt werden sollte. Die haben dazu aufgerufen, dass man weitermacht. Aber da haben die anderen ArbeiterInnen nicht mehr mitgemacht.
In den 60er und 70er Jahren hat es wilde Streiks zuhauf gegeben. Aber das war eine ganz andere Situation.
F: Gibt es Streikkassen bei den Gewerkschaften? Weil ich denke, damit sind sie ökonomisch wirklich bedeutend. Wenn acht Monate gestreikt wird, dann ist das ja existenziell bedrohlich. Wie wird das finanziert?
B: In Mersin beim Hafen haben unter anderem die Kleinhändler gespendet. Aber es gibt eine Art Streikkassa. Ich habe von Auszahlungen durch die Gewerkschaft gelesen.
F: Sie sammeln auch.
A: Während eine Aktion stattfindet, wird gesammelt.
F: In der Türkei spielen bei Streiks ökonomisch und politisch Streikkomitees die hauptsächliche Rolle. Wenn es bewusste ArbeiterInnen gibt – bei einem deutschen Betrieb wurde(n die Informationen über den Arbeitskampf) bis nach Deutschland gebracht. Dann sind die Forderungen auch mehr politisch. Die Streikkomitees versuchen immer, den Streik zu den Massen zu tragen, und sie werden von den Massen unterstützt.
In Mersin gibt es Metallfabriken. Dort gab es einen Streik. Und einer von dem Streikkomitee bringt die Informationen unter die Leute. Und die haben Geld gespendet. Sie haben es ihm als Reisegeld gegeben. Darauf hat er gesagt: „Super, wir können einen Tag länger streiken!“ Die bewussten Arbeiter versuchen immer wieder, auf diese Weise Geld von den Leuten zu bekommen. Und zu vermitteln, was damit passiert. Ganz selten unterstützt der Streikfonds der Gewerkschaft einen Streik. Dazu braucht es einen Beschluss weit oben. Die versuchen aber, zu verhindern, dass das Streikkomitee bei den Verhandlungen dabei ist. Sie verhandeln immer hinter verschlossenen Türen. Die ArbeiterInnen vertrauen diesen Gewerkschaftern nicht, sondern den Komitees.
F: In den imperialistischen Betrieben in der Türkei – Betriebe mit ausländischem Kapital – möchte die Gewerkschaft nicht streiken. Dort halten sie zurück.
A: Coca Cola ist dafür ein Beispiel.
B: Im Textilbereich sind sie nicht stark organisiert. Da gibt es auch internationale Betriebe. Und die werfen die Leute bei gewerkschaftlicher Organisierung einfach raus. Andererseits organisieren sich die meisten Menschen erst, wenn sie etwas wollen, Forderungen haben. Weil das Risiko besteht, dass man den Job verliert.
A: Was sich die ArbeiterInnen von den Gewerkschaftern erwarten: Ich habe eine Sozialstudie gelesen. Da sind 1.000 LehrerInnen in Ankara befragt worden, erstmal zu Töb-Der (der LehrerInnen-Solidaritäts-Verein), der in den 70er Jahren viel gekämpft hat. Da haben viele gesagt, dass das die Rolle der Gewerkschaft überschreitet. Eine Gewerkschaft soll Lohnverhandlungen führen, schauen, dass es in den Betrieben funktioniert, Schulungen organisieren und so weiter. Aber 30% haben gemeint, es war schon o.k., was Töb-Der gemacht hat. Und 5% haben gemeint, die Militanz von Töb-Der war immer noch zu wenig. Das Bewusstsein der türkischen Arbeitnehmer ist wohl ein wenig anders als hierzulande.
B: Bei der Studie, von der ich zuerst gesprochen habe, waren vor allem die Bereiche Petrochemie – da gibt es viele ausländische Unternehmen – deren Vertrauen in die Gewerkschaft ist sehr gering. Die haben zwar einen höheren Organisierungsgrad, aber wenig Vertrauen. Ebenso bei Minen. Aber in Sektoren mit geringem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad, wie in der Textil- und Lebensmittelproduktion, ist das Vertrauen sehr hoch.
F: Das ausländische Kapital, vor allem aus der EU, kauft die Gewerkschaften, um Arbeitsfrieden zu haben. Sie geben ihnen Geld.
Fußnoten
1Existiert seit 1961, dh. erst nach der ersten "nachkemalistischen" Verfassung. www.tisk.org.tr. Mittlerweile existiert ein zweiter, sich als muslimisch deklariert.
2 In dieser Zeit gab es außerdem einen unbefristeten Militärdienst ohne Waffe für nicht-muslimische Minderheitenangehörige, die vornehmlich im Ausbau der Infrastruktur wie Straßenbau und Schienenwartung eingesetzt wurden – also auch Zwangsarbeit.
3 Die Werften im Goldenen Horn wurden für drei Jahre der Istanbuler Stadtgemeinde übergeben, zur Diskussion stehen die Istanbuler Schiffslinien, eine Übergabe an die Gemeinde würde die Gefährdung von ca. 700Arbeitsplätzen bedeuten. Dagegen gab es massive Proteste, wie Hupen mit den Schiffshörnern.
4 http://www.oib.gov.tr/
Quellen:
www.evrensel.net, www.sendika.org, www.sendikanet.org, www.ozgurradyo.com, www.sosyalistisci.org, www.marksist.com/iscihareketi, www.halkinsesi-tv.com, www.kizilbayrak.de, www.mucadelebirligi.com, behindthelabel.org, www.marksisttutum.org, www.disk.org.tr
Kahveci, Erol, Work And Occupation In Modern Turkey, 1996
Oya Baydar Gewerkschaften in der Türkei - Historische Entwicklung,
Organisationsstrukturen und rechtliche Rahmenbedingungen, Friedrich- Ebert-Vakfi; www.festr.org/de/d-ar.asp
Ayşe Buğra Fikret Adaman, Ahmet İnsel, Çalışma Hayatındaki Yeni Gelişmeler ve Türkiye’de Sendikaların Değişen Rolü; www.spf.boun.edu.tr/docs/sendika_rapor[1].pdf