Spiegel online, 27.3.2003, Le Monde, 12.4.2003, www.dissidentvoice.org/Articles4/Rai_Aid-Crisis.htm, www.pbs.org/newshour, www.time.com/time/covers/11010 30414/wsimon.html. Zusammenstellung und Übersetzung: Info-Verteiler, 04/2003
Helden
„Unsere Aufgabe ist es jetzt zu töten“, sagt Oberstleutnant B.P. McCoy von der 3. Batterie des 4. Regiments der Marine-Infanteristen. Laurent Van der Stockt ist Fotograf und begleitete als „embedded Journalist“ die Truppe von McCoy. Die Marines sind im allgemeinen weniger privilegiert als die Armee. Sie werden für die Drecksarbeit ausgebildet, die weniger ehrenvollen Jobs. Sie haben die ältesten Panzer und die am wenigsten modernen M-16-Gewehre. Sie selbst übersetzen „USMC“ (United States Marine Corps) mit „United Stated Misgodded Children“, d.h. die vergessenen Kinder der USA, von Gott vergessen.
Ihr Motto ist „Aufspüren und Töten“. Der Spitzname der „Kilo“-Einheit lautet „Kilo-Killer“. Die Worte „Fleischfresser“ oder „blinder Killer“ stehen auf ihren Panzern. McCoy konnte mit einem „schäm-dich!“-Lächeln auf seinem Gesicht einen Scharfschützen anschnauzen, der ihm soeben berichtet hatte: „Ich habe acht erwischt, Sir, aber nur fünf“. Das hieß: „Ich habe auf acht geschossen, aber nur fünf von ihnen sind tot“.
Die irakische Armee war wie ein Geist. Sie existierte kaum. Während drei Wochen sah ich als einziges gegnerisches Feuer einige wenige Kurzstreckenraketen und ein paar Schüsse. Ich sah desertierte Truppenteile, einen toten irakischen Soldaten neben einem Stück Brot und einiger alter Ausrüstung. Nichts, das den Eindruck erwecken hätte können, hier sei eine echte Konfrontation im Gang, nichts vergleichbar zu den massiven Mitteln, die den Amerikanern zur Verfügung standen.
Am 6. April erreichten wir die Vororte von Bagdad an einer strategischen Brücke, die die Amerikaner „die Bagdad-Autobahn-Brücke“ nannten. Hier gab es viel größere Wohnviertel. Die amerikanischen Scharfschützen erhielten den Auftrag, alles zu töten, was in ihre Richtung kam. In dieser Nacht wurde ein Teenager getötet, der die Brücke überquerte.
Am Morgen des 7. April beschlossen die Marines, die Brücke zu überqueren. Eine Granate fiel auf ein gepanzertes Mannschaftsfahrzeug. Zwei Marines wurden getötet. Die Überquerung enthielt ein tragisches Moment. Die Soldaten waren gestresst, fieberhaft. Sie schrieen. Das Risiko schien nicht allzu groß, also folgte ich ihrem Vormarsch. Sie brüllten, riefen einander Anweisungen und ihre Positionen zu. Es klang wie etwas zwischen einem Phantasma und einer Mythologie. Die Operation wurde umgewandelt in das „Überqueren der Brücke am River Kwai“.
Ein kleiner blauer Lieferwagen näherte sich dem Konvoi. Drei Warnschüsse wurden abgegeben. Sie sollten den Wagen zum Anhalten bringen. Der Wagen fuhr weiter, wendete um 180 Grad, suchte Deckung und kam dann langsam zurück. Die Marines eröffneten das Feuer. Die Hölle brach los. Sie feuerten über den ganzen Platz. Man konnte hören, wie geschrieen wurde „Feuer einstellen“. Danach kam eine überwältigende Stille. Zwei Männer und eine Frau waren von Kugeln durchsiebt worden. Das war also der Feind, die Bedrohung.
Ein zweites Fahrzeug zeigte sich. Das Szenario wiederholte sich. Die Insassen wurden auf der Stelle getötet. Ein Großvater ging langsam mit einer Kanne am Gehsteig. Sie töteten auch ihn (dazu gibt es ein Foto in Le Monde). Wie auf den alten Mann feuerten die Marines auch auf einen Wagen, der am Flußufer fuhr und ihnen zu nahe kam. Von Kugeln durchsiebt, rollte das Fahrzeug aus. Zwei Frauen und ein Kind stiegen aus, wunderbarerweise noch am Leben. Sie suchten Deckung im Fahrzeugwrack. Einige Sekunden später flog dieses in die Luft, nachdem ein Panzer es abgeschossen hatte.
Die Marines sind darauf konditioniert, ihr Ziel unter allen Umständen zu erreichen, zu überleben und jede Art von Feind zu bekämpfen. Sie verwenden dafür unangemessene Feuerkraft. Diese verhärteten Truppen, denen Tonnen an Ausrüstung zur Verfügung stehen, werden von außerordentlichem Artilleriefeuer unterstützt, von Kampfflugzeugen und Kampfhubschraubern geschützt. Sie schossen auf EinwohnerInnen, die absolut nicht verstanden, was vor sich ging.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie fünfzehn ZivilistInnen innerhalb von zwei Tagen getötet wurden. Ich habe genug Kriege erlebt, um zu wissen, daß Krieg immer ein dreckiges Geschäft ist, daß ZivilistInnen immer die ersten Opfer sind. Aber wie das hier geschah, das war verrückt.
Verunsicherte Soldaten sagten: „Dafür bin ich nicht trainiert, ich kam nicht hierher, um Zivilisten zu erschießen“. Der Colonel erwiderte, daß die Iraker EinwohnerInnen dazu einsetzten, um Marines zu töten, daß „Soldaten als Zivilisten verkleidet werden, und daß Krankenwagen terroristische Aktionen ausführen“.
Ich habe ein Mädchen weggeführt, das von einer Kugel getroffen worden war. Enrico [ein Journalistenkollege] hielt sie in seinen Armen. Im Fahrzeugheck schützte der Vater des Mädchens seinen jungen Sohn, der einen Bauchschuß erlitten hatte und ohnmächtig war. Der Mann sprach in Gesten mit dem Arzt hinter der Frontlinie, er bat: „Ich verstehe nicht, ich ging so, hielt meine Kinder an den Händen. Warum schossen Sie nicht in die Luft? Oder warum erschossen Sie nicht wenigstens mich?“
In Bagdad steigerte McCoy das Marschtempo. Er hörte damit auf, die Häuser einzeln durchsuchen zu lassen. Er wollte so rasch wie möglich am Paradies-Platz [dem Platz vor dem Hotel „Palestine“, in dem die ausländischen Journalisten einquartiert waren] eintreffen. Die Marines feuerten nicht auf die dichter werdende Bevölkerung. Der Vormarsch endete mit dem Sturz der Saddam-Statue. Bei dieser Szene waren mehr Journalisten als BagdaderInnen anwesend. Die fünf Millionen EinwohnerInnen blieben daheim.
Nach dem Einmarsch in Bagdad sagte McCoy zu den Plünderungen der Ministerien: „Was wir schützen müssen, ist die zivile Infrastruktur, wie Spitäler, Kraftwerke und die Wasserversorgung“, die Ministerien interessierten ihn nicht. Aber als das al-Kindi-Spital, eines der wichtigsten Spitäler in Bagdad, von bewaffneten Plünderern angegriffen wurde, unterließen es die US-Truppen zu intervenieren, sie sagten, daß sie keinen Auftrag dazu hätten.
„Aber das ist Leutnant Colonel Brian McCoy, der der Bataillonskommandant ist und offensichtlich darauf erpicht, sich mit dem Gegner anzulegen.“
McCoy wird inzwischen auf patriotischen US-amerikanischen Websites zu einem Held stilisiert. Ein AP-Mitarbeiter erlebte ihn so: „In einem Kampf bei Diwaniyah töteten die Soldaten von McCoy nach eigenen Angaben 80 – 90 Iraker. McCoy beschrieb diese Mission so: ‘Es war eine Freundschaftsmission. Wir warfen einige Köder ins Wasser und schauten, was heraufkam. Die Iraker waren sehr entschlossen. Wir haben sie wirklich hart geschlagen.’“
Und McCoy lächelt, wenn er Krieger ist. „Ich bin glücklich an meinem Platz“, sagt er. „Laßt uns nicht um den heißen Brei herumreden, sagen wir, was es ist. Es ist Mord, es ist ein Gemetzel.“5