ISW, 08.10.2004, Conrad Schuhler
Neue Aspekte der globalen Wirtschaftskrise
Bevor ich auf einige prinzipielle Aspekte der globalen Krise eingehe, die wir deshalb als „neue“ bezeichnen, weil sie der neuen Struktur der globalen Wirtschaft entspringen, möchte ich mich kurz mit dem aktuellen Stand der Weltkonjunktur und speziell der Kon­junk­turlage in Deutschland befassen. Im letzten OECD-Bericht vom Mai 2004 wird von einer Erholung in einigen wichtigen Staaten und Regionen der Weltwirtschaft gesprochen, aber als zentrales Problem herausgestellt, dass es sich um eine regional gespaltene Erholung handelt, an der Kontinentaleuropa und vor allem Deutschland kaum teilhaben. Während den USA für 2004 ein Wachstum von 4,7% und den OECD-Ländern ins­ge­samt eines von 3,4% vorausgesagt werden, bleibt die Euro-Region mit 1,6% weit dahinter, und das spezielle Sorgenkind der Euro-Länder ist, wie gesagt, Deutschland, das im letzten Jahr sogar ein knappes „Minus-Wachstum“ zustande brachte. Die OECD nennt als Hauptgrund für die Schwäche Deutschlands: „zu geringe Binnennachfrage und zu geringe Staatsausgaben“. Diese Faktoren der Schwäche sind also gerade das, was die neoliberale Politik noch verschärfen will: die Arbeitnehmerentgelte, das Herzstück der kaufkräftigen Nachfrage, und die Sozialtransfers und die Staatsausgaben insgesamt sollen noch mehr gesenkt werden. Damit würden die Bremsen für die Konjunktur noch schärfer angezogen.
Nun wird diese Art von Statistiken dem wahren Problem des Wirtschaftswachstums ohne­hin nicht gerecht. Als Wachstum gemessen wird auch die Zunahme der Bergungsfahrten für Verkehrstote; selbstverständlich auch die neuesten Hightech-Waffen für die Gefechtsfelder im „Krieg gegen den Terror“; auch die Produktion von elektrischen Schlagstöcken für die Mannschaften auf Guan­ta­na­mo gehören dazu, ebenso wie die Ausgaben für die Söldner, die die Tausende Kilometer langen Gas- und Ölleitungen durch Zentralasien oder den Nahen Osten zu bewachen haben, oder auch der Neubau von noch mehr Autobahnen oder die Aufrüstung von Atomkraftwerken. Will sagen: Diese Wachstumszahlen sind blind für die Qualität der Waren, die da wachsen und blind für die sozialen Bedingungen, die die Wirtschaftsstruktur den Menschen lokal und global beschert. Dennoch haben sie eine Aussagekraft, nämlich die, dass die neoliberale Propaganda, wonach man jetzt Opfer bringen müsse, damit die Wirtschaft gründlich in Gang komme und alle wieder zu Beschäftigung und höherem Einkommen kämen, unwahr ist. Nicht nur, dass wir ein inhumanes Wachstum, das ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Kosten hervorgestampft werden soll, ablehnen – wir können auch nachweisen, dass diese neoliberale Wirtschaftspolitik die Grundlagen für jede Art von Wachstum, an dem eine wachsende Zahl von Menschen teilhaben könnte, aushöhlt und schließlich zerstört.
Deutschland beweist das Scheitern der neoliberalen Rezepte
Am Beispiel Deutschland lässt sich das Fatale an den neoliberalen Rezepten beispielhaft aufzeigen. Deren Botschaft, die Arbeitskosten und damit die Masseneinkommen zu senken, wird hier seit vielen Jahren streng befolgt. Während die Arbeitsproduktivität von 1991 auf 2003 um 24% gestiegen ist, sind die Reallöhne im selben Zeitraum um 4,1% gefallen. Die Nettolohnquote – d.h. der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen – sank von 49,6 auf 42,7%, also um fast 20%. Dementsprechend niedrig waren die sog. Lohnstückkosten, die das Verhältnis von Arbeitnehmerentgelt zu Arbeitsproduktivität mes­sen. Im Arbeitnehmerentgelt sind übri­gens auch alle Lohnnebenkosten enthalten. Von 1996 bis 2000 sind die Lohnstückkosten in Deutschland um 0,2% gestiegen, die niedrigste Quote aller Industrieländer außer Japan. 2002 wuchs sie in Deutschland um 0,8%, im gesamten EU-Raum hingegen um 2,3%. Deutschland ist also keineswegs der „kranke Mann Europas“. Was die Arbeitskosten im Verhältnis zum Arbeitsergebnis angeht, ist Deutschland vielmehr der Athlet Nr. 1 in Europa.
Ganz folgerichtig wurde Deutschland mit seinen geringen Lohnstückkosten sowohl Exportweltmeister – 10,5% aller Weltexporte entfallen auf Deutschland, das nur 1,2% der Weltbevölkerung ausmacht – als auch, zusammen mit Japan, Weltmeister in den Exportüberschüssen. Im letzten Jahr überwogen die Exporte die Importe um 130 Milliarden Euro, mehr als das Doppelte der Nettoinvestitionen, die in dieser Zeit getätigt wurden. Für 2004 erwartet die Bundesregierung einen weiteren Exportzuwachs von 5,8% – der einzige nennenswerte Anstieg bei den volkswirtschaftlichen Nachfragefaktoren. Der Positivfaktor an internationaler Wettbewerbsfähigkeit wird aber mit dem entsprechenden Minusfaktor an Binnennachfrage außerordentlich teuer erkauft. Der private Konsum ist mit 57% der mit Abstand größte Nachfragefaktor. Während aber der Anteil der Löhne und Gehälter am BIP ständig sinkt, steigt der Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen, der Einkom­mens­anteil der Reichen. Auch für 2004 ist das so vorgesehen. Hier sollen die Ar­beitnehmerentgelte nominal um 1% stiegen, die Unternehmens- und Ver­­gens­einkommen jedoch um 4,8%. Es ist aber so, dass die Grenzneigung zum Konsum mit dessen Wachstum abnimmt, d.h. der Anteil des Einkommens, der für Konsum ausgegeben wird, fällt mit der Höhe des Einkommens. Durch die Vertiefung der Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung wird also der größte Nachfragefaktor, der private Konsum, weiter beschädigt.
Nun hält die neoliberale Propaganda dagegen, dass höhere Gewinneinkommen deshalb nötig seien, weil dadurch mehr Mittel für Investitionen zur Verfügung stünden, Nachfrage also nicht für konsumtive Zwecke, sondern für Investitionsausgaben wirksam würde. Die Realität hat diese Behauptung längst widerlegt. 2003 sind die Unternehmensin­ves­ti­tio­nen das dritte Jahr in Folge zurück gegangen und liegen jetzt real bei dem Niveau von 1991, obwohl die Unternehmensgewinne um 75% über dem Stand von 1991 liegen. Es besteht also keineswegs ein positiver Zusammenhang zwischen der Höhe der Gewinne und der der Investitionen. Dies hat folgende strukturellen Gründe:
1) Dank der anhaltend schwachen Nachfrage liegt die Kapazitätsauslastung in Deutsch­land nur bei knapp über 80%. Geringe Nachfragezuwächse führen kaum zu Neu-Investitionen, sondern bloß zu einem Hochfahren der schon vorhandenen Kapazitäten.
2) Die sog. Kapitalproduktivität steigt – den selben Output kann ich mit einem geringeren Einsatz an Investitionsmitteln erzielen. Die USA haben ihre Zuwächse in den letzten Jahren mit relativ geringerem Arbeits- und geringerem Kapitaleinsatz erzielt. Zum grundsätzlichen Problem des relativen Rückgangs der privaten Nachfrage tritt das neue Strukturproblem sinkender Nachfrage nach Produktionsmitteln selbst bei vorhandenem, aber nicht ausreichenden Wachstum.
3) Durch die ungleiche Einkommensver­teilung sind die privaten Geldvermögen in den letzten 30 Jahren in Deutschland doppelt so schnell gewachsen wie das BIP. Sie machen heute das Doppelte des BIP aus und liegen damit um das Zehnfache über dem jährlichen Bruttoinvestitionsvolumen. Von diesen Brut­toinvestitionen werden 80% aus den Abschreibungen finanziert, die Netto-Investitionen machen nur knapp 60 Milliarden Euro aus. Die privaten Geldvermögen im Lande sind fast 70 mal höher! Es liegt auf der Hand, dass die Geldvermögensbesitzer die erwartete und verlangte Rendite gar nicht durch produktive Investitionen im Inland erzielen können. Die neuen Anlagefelder sind v.a. Privatisierungen (wodurch keine neue Produktion entsteht, sondern nur neues privates Eigentum), sind Spekulationen aller Art und sind Investitionen ins Ausland. Den Geldvermögensbesitzern geht es immer weniger um reale Akkumulation, sondern um finanzielle Akkumulation, die vom realen Pro­duk­ti­ons­prozess immer mehr entkoppelt wird.
Selbst die Bundesregierung hat in ihrem „Jahreswirtschaftsbericht 2004“ privaten Kon­sum, Staatsausgaben und Investitionen als Belebungsfaktoren der Konjunktur abgeschrieben. Der kategorische Imperativ lautet wörtlich: „Außenwirtschaft setzt konjunkturelle Erholung in Gang.“ Was hier als „Außenwirtschaft“ bezeichnet wird, ist im wesentlichen der Markt der USA. Dem Euro-Raum wird von der OECD insgesamt das Problem zu schwacher Binnenmärkte attestiert, von hier können keine Impulse kommen. Die USA hingegen haben mit ihrer Tiefzinspolitik und ihren gewaltigen Haushaltsdefiziten dem privat verfügbaren Einkommen jährlich zusätzlich 700 Milliarden Dollar draufgesattelt, so dass sie noch mehr als in der Vergangenheit als Staubsauger der Weltnachfrage fungieren konnten. China hat im letzten Jahr im Handel mit den USA einen Exportüberschuss von 125 Milliarden Dollar erzielt, Japan einen solchen von 60 Milliarden und Deutschland von 40 Milliarden Dollar. Ein Drittel des gesamten deutschen Exportüberschusseswird im Handel mit den USA erzielt. Bricht der Markt dort ein oder wird er auch nur spürbar enger, ist der letzte deutsche Konjunkturimpuls dahin. Und in diese Situation kommen wir gerade.
Export-Staubsauger USA vor Problemen
Denn die Nachfragequalität der USA beruht nicht auf einer besonderen volkswirtschaftlichen Substanz des Landes, sondern einzig und allein auf seiner hohen Fähigkeit zur Verschuldung. Das Leistungsbilanzdefizit der USA, das im letzten Jahr auf über 500 Milliarden Dollar – 5% des gesamten BIP – gewachsen ist, wurde finanziert durch das Ausland, das in der selben Höhe Dollar kaufte, und so den USA das Geld in die Hand drückte, sich die Produkte aus aller Welt anzueignen. Die chinesische und die japanische Staatsbank allein haben durch den Kauf von US-Staatspapieren drei Viertel des US-Leistungsbilanzdefizits finanziert. Durch den Kauf von US-Dollars wollten sie deren Kurs möglichst hoch halten, um die eigene Exportmöglichkeit zu wahren.
Die Folge dieser Art von Weltkon­junk­tur­po­litik – die USA eignen sich mit dem Geld der übrigen Nationen einen wachsenden Teil von deren Produktion an – ist eine immense Verschuldung der USA auf allen Ebenen. Der Wert der ausländischen Aktiva in den USA, die Schulden der USA an das Ausland sind, macht fast den gesamten Wert des BIP aus. Die staatliche Verschuldung beläuft sich auf fast 7 Billionen Dollar, das sind 70% des BIP. Allein für den Schuldendienst muss Washington jährlich fast 4% des BIP verwenden. Die Privatschulden in den USA haben die historische Marke von 1,7 Billionen Dollar erreicht. Der US-Durchschnittshaushalt muss heute 13% seines verfügbaren Einkommens allein für den Schuldendienst aufbringen. Diese Schulden-Nation kann ihren Standard nur halten, wenn der Treibstoff, das Geld von außen, weiter zur Verfügung steht. Letzten Endes müssen die USA, sollen die Finanzströme weiter herein kommen, ihren Zins erhöhen, um die Anlage in Dollar rentabler zu machen. Dies haben sie gerade mit der aktuellen Erhöhung des Diskontsatzes begonnen – es war der erste Schritt einer langfristig geplanten Strategie eines teureren Dollars. Was aber als Lockmittel für Auslandskapital wirkt, dämpft die wirtschaftliche Aktivität und Nachfrage. Die Kredite für Unternehmen werden teurer, die Hy­po­the­ken­zinsen steigen – was in den USA einer staatlich verordneten Mieterhöhung gleichkommt, denn die meisten US-Bürger wohnen in eigenen, hy­po­the­ken­finanzierten Häusern – die Kon­su­men­ten­kre­di­te ziehen an, ein erheblicher Faktor, wenn man bedenkt, dass allein die Kre­ditkartenschulden eines US-Haushalts im Durchschnitt 9.000 Dollar betragen. Die Nachfrage der letzten Instanz, der US-Markt, wird also schrumpfen. Für die deutsche Wirtschaft, die nur auf den Faktor des Exports als Konjunkturbelebung setzt, wird dies ebenso gravierende Folgen haben wie für den Rest der globalen Wirtschaft, die in aller Regel eine ähnliche Strategie verfolgt wie die Deutschen. Die Weltkonjunktur wird allgemein gedämpft werden, die deutsche Konjunktur speziell wird in ihre Krisenlage zurück gestoßen.
Die neoliberalen Propheten eines globalen Wirtschaftsaufschwungs werden sich wieder einmal blamieren. Der globale Kapitalismus kann seine ökonomistischen Versprechen nicht einlösen. Dafür schreitet er voran in der Ruinierung schon erreichter sozialer Standards, in der Verbreitung von Hunger und Armut, in der Militarisierung der internationalen Beziehungen, in der Denaturierung des menschlichen Lebens und in der Beanspruchung der Natur als bloße Faktoren der Rentabilität. Für diese Entwicklung sind Strukturmerkmale des globalen Kapitalismus verantwortlich, die ich im folgenden kurz skizzieren möchte.
Strukturmerkmale des globalen Kapitalismus
1) Globalisierung bedeutet eine prinzipiell neue Art von globaler wirtschaftlicher Verflechtung. In der Herausbildung der „globalen Fabrik“ und der Dominanz eines globalen Finanzmarktes haben wir es mit einem Prozess der Transformation einer Gesellschaftsformation zu tun, die vergleichbar ist mit der „great transformation“ beim Übergang zum industriellen Kapitalismus vor rund 200 Jahren. Der Vergleich mit dieser grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung ist deshalb gerechtfertigt, weil sich Globalisierung nicht nur und nicht in erster Linie durch das Anschwellen der grenzüberschreitenden Waren- und Kapitalströme konstituiert, sondern durch die Herausbildung globaler wirtschaftlicher Parameter, die für alle „Volkswirtschaften“ und Kulturen verbindlich sind. Zinsen, das System der Ar­beits­be­zie­hun­gen, die sinkende Binnennachfrage, das Messen der Arbeitsleistung am globalen Optimum u.ä. betreffen nicht nur die direkt als Akteure der neuen internationalen Arbeitsteilung Beteiligten, sondern die gesamte Wirtschaft eines Landes. Auch der Kleinunternehmer, der nur für den regionalen Markt produziert, muss die global ermittelten Kreditzinsen zahlen, die Nachfrage nach seinen Produkten geht mit den Ar­beit­neh­merentgelten nach unten usw. Nicht nur sind alle Menschen im Wirtschaftsleben von den globalen Parametern betroffen, diese Parameter regieren auch in allen Bereichen des menschlichen Lebens. Ob Wasser oder Bildung, Verkehr oder Kultur, Lebensversicherung oder Krankenversicherung, Sport oder Natur – da alles privatisiert wird und sich nach globalen Vorgaben rechnen muss, findet alles, was diesem Kriterium nicht entspricht, auch nicht statt.
Dies gilt gerade auch für die Menschen selbst. Wer unter dem Gesichtspunkt des global erzielbaren Höchstprofits nicht verwertbar ist, wird vom gesellschaftlichen Leben exkludiert, wird ausgeschlossen. Es geht nicht mehr darum, dass ein Arbeiter Mehrwert schafft, dass er mehr an Wert produziert, als er selbst kostet. Die Messlatte ist der globale Parameter. Wer dieses Optimum nicht schafft, den schafft man sich vom Halse. Die Exklusion betrifft sowohl Menschen in einer Gesellschaft als auch ganze Gesellschaften. An Ländern, die den Ansprüchen des globalen Kapitals nicht genügen, fließt es vorbei. Solche Länder, wie einige in Schwarzafrika, sind nicht von der Glo­ba­li­sie­rung vergessen oder noch nicht erfasst, sie sind vielmehr in ihrer Exklusion Bestandteil der Globalisierung. So wie man in unserem Land nicht arbeitslos oder arm ist, weil man nicht teilhabe am Wirtschaftsleben, sondern weil man als Teil und als Folge dieses Systems von diesem ausgespuckt wird.
2) Die in der neuen Globalisierung organisierte internationale Arbeitsteilung führt nicht zu einer Steigerung des „Wohlstands der Nationen“, wie sie noch Adam Smith und David Ricardo begründeten. Nach Ricardo sollen sich die Länder auf Produkte konzentrieren, bei denen sie „komparative Kostenvorteile“ haben. Selbst wenn ein Land in der Lage ist, sagt Ricardo, sämtliche Güter und Dienste zu niedrigeren Kosten anzubieten als irgendein anderes, so ist es für dieses doch von Vorteil, sich auf die Produkte zu konzentrieren, bei denen es die größten Vorteile hat, und andere Produkte, bei denen es zwar einen absoluten, aber geringeren Kostenvorteil hat, arbeitsteilig anderen Ländern überlässt und von diesen einführt. Indem jedes Land sich auf die Produktion jener Waren konzentriert, bei denen es komparative Kostenvorteile hat, wird die Produktmenge und die Produktivität von allen erhöht. Überall wird für größere Märkte produziert, was die Kosten senkt, überall wird die Arbeitskraft im internationalen Vergleich optimal eingesetzt, was die Produktmengen und die Produktivkräfte im internationalen Maßstab anhebt. Durch die internationale Arbeitsteilung würde mit der selben Menge an Arbeit eine größere Menge von Produkten hergestellt, zugunsten der Versorgung in allen beteiligten Ländern.
Ricardos Theorem der komparativen Kos­ten­vorteile liefert den Globalisierungs-pro­pa­gan­disten bis heute die Begründung der angeblichen wohlfahrtssteigernden Wirkung der Globalisierung. In Wahrheit ist der Ansatz unbrauchbar zur Erklärung der heutigen Lage. Dafür sind u.a. diese beiden Gründe verantwortlich. Erstens werden die Prozesse von Produktion und internationalem Austausch wesentlich und zwangsläufig politisch bestimmt. Anders als zu Zeiten Ricardos und des Goldstandards werden Währungen und Zinsen – wesentliche Parameter des internationalen Austauschs – ebenso wie die Zölle politisch reguliert. Dies hat dazu geführt, dass die „Terms of Trade“, die Preisrelationen der international getauschten Waren, sich fortwährend für die Entwicklungsländer verschlechtert haben. Nach den Erhebungen von UNDP verloren die Entwicklungsländer in den Neunziger Jahren über solche politisch verfügten Nachteile jährlich 500 Milliarden Dollar, zehnmal so viel, wie sie an „Entwicklungshilfe“ bekamen.
Im theoretischen (und praktischen) Sinn noch gravierender ist unser zweites Argument: Die Investitionen der globalen Akteure werden überhaupt nicht unter dem Gesichtspunkt komparativer Kostenvorteile, sondern unter dem der absoluten Kosten vorgenommen. Ricardo ging noch von der internationalen Immobilität von Kapital und Arbeit aus. Strukturbe­stim­mend für den globalen Kapitalismus sind jedoch nicht Investoren, die im nationalen Rahmen nach komparativen Vorteilen suchen, sondern Transnationale Konzerne, die über Ka­pi­tal­export ihre Wertschöpfungsketten weltweit aufgliedern und die einzelnen Teile dort herstellen, wo die Kosten global gesehen absolut am niedrigsten sind. Die von Ricardo verheißenen segensreichen Auswirkungen der vertieften internationalen Arbeitsteilung können nicht stattfinden, weil das Kapital sich längst nicht mehr am nationalen Verwertungsraum orientiert, sondern sich diese Art globaler Struktur geschaffen hat. Die Logik dieses globalen Kapitalismus drückt über das Ausspielen der „nationalen Wett­be­werbs­staaten“ gegeneinander die sozialen Standards weltweit nach unten – „der Wohlstand der Nationen“, darunter auch der Beschäftigungsgrad der Bevölkerungen, wird systemisch gesenkt, um die Profite der TNK maximal zu heben.
Im „Bericht über die menschliche Entwicklung 2003“ dokumentiert UNDP die Erosion der sozialen Standards im Gefolge der Globalisierung. Weltweit, sagt UNDP, ist „ein zunehmendes Gefälle zwischen den Reichsten und Ärmsten ... und ein Rückgang bei der mittleren Einkommensgruppe der Weltbevölkerung“ festzustellen. 54 Entwicklungsländer weisen negative Wachstumsraten auf, in 37 der 67 Länder, für die Daten vorliegen, sind die ohnehin hohen Armutsraten weiter gestiegen, insgesamt lebt fast jeder vierte Erdenbürger unter der absoluten Armutsgrenze von einem Dollar am Tag, 44% haben weniger als 2 Dollar pro Tag. In Indien z.B., dem hochgelobten Land der IT-Spezialisten, leben 400 Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze, und verlieren die 600 Millionen Bauern ihre Existenzgrundlage ohne wirkliche Chance, sich in den In­dus­tri­a­li­sie­rungs­prozess integrieren zu können.
Die kapitalistische Globalisierung ist unter humanen Gesichtspunkten eine Katastrophe; unter abstrakt wirtschaftlichen Gesichtspunkten häuft sie ein ständig größeres Krisenpotential an: die „globale Fabrik“ minimiert Arbeitskosten und Beschäftigung bei gleichzeitiger Erhöhung der Produktionskapazität. Weltweit klaffen Produktionskapazitäten und kaufkräftige Nachfrage immer weiter aus­ei­nan­der.
3) Während die kaufkräftige Nachfrage immer weiter hinter den Produktionska­pa­zi­tä­ten zurück bleibt, werden wegen anhaltend ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung die Geldvermögen im Verhältnis zum Pro­duk­ti­onskapital immer größer. 7,1 Millionen Dollar-Millionäre wiesen 2001 ein Geldvermögen von 30 Billionen Dollar, was dem Wert des Welt-Sozialprodukts entspricht. Zusammen mit den Transnationalen Konzernen, Pensionsfonds und Versicherungen ergibt sich ein Geldvermögensbesitz von über 60 Billionen Dollar, denen globale Bruttoinv­es­ti­tio­nen von nicht mehr als 6 Billionen gegenüberstehen. Bei diesem Missverhältnis von Geldvermögen und produktiven Anlagemög­lich­kei­ten geht es den Geldver­­gens­besitzern nicht um die reale, sondern um die finanzielle Akkumulation. Der Casino-Kapitalismus, das Wetten auf die besten Aktien, und das räumliche und zeitliche Strecken des vorhandenen Kapitalstocks über Derivate aller Art schaffen den Aktionsraum für das überschüssige Geldkapital. Auch dieser Aktionsraum ist global. Die täglichen Umsätze an den Devisenmärkten liegen zwischen 1 und 2 Billionen Dollar. Für die Zirkulation des Welthandels würden 30 Milliarden pro Tag ausreichen. Die internationalen Finanztransaktionen haben also nur noch zu 2% mit Handel, mindestens 80% aber mit Spekulation zu tun.
Dieser internationale Finanzmarkt übt längst auch das Diktat über die reale Produktion aus. Geld in den Transnationalen Konzernen wird nach den Prinzipien des Share­hol­der Value, des Höchstertrags für den Kapitaleinsatz, verwendet. Ziel ist nicht mehr die Stärkung der Innovationskraft, die Entwicklung neuer Produkte u.ä., sondern die Erzielung eines im internationalen Vergleich maximalen „Geschäftwertbeitrags“, d.h. der maximalen Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Diese Verzinsung wird in den kurzen Frequenzen der Börsen- und Ana­lys­ten­rhyth­mik gemessen. Es geht nicht mehr darum, dass Technologie entwickelt und der Markt mit mehr und besseren Produkten bedient wird – einziges Kriterium ist der kurzfristige Höchstprofit.
Folgen finanzieller statt realer Akkumulation
Dass die globalen Finanzmärkte die finanzielle statt der realen Akkumulation an die erste Stelle setzen, hat mindestens drei gravierende Folgen:
a) Die Innovation der Produktion und der Produkte, nach Schumpeter und seinen marktwirtschaftlichen Nachfolgern die Grundlage von Konjunkturaufschwüngen, wird erheblich erschwert, wenn nicht, was das Schum­pe­ter­sche scharenweise Auftreten „innovativer Unternehmer“ anlangt, verhindert. Dies gilt noch stärker für die produktive Grundlage der langen Zyklen der Konjunktur. Am Beginn die­ser sog. Kondratjew-Zyklen stehen be­kannt­lich bahnbrechende technische Neuerungen. Diese technologisch revolutionäre Veränderung der Produktivkräfte setzt langfristige Investitionsmaßnahmen voraus, die der Share­hol­der Value-Politik entgegenstehen.
b) Die hohen Zinsforderungen der Geldvermögensbesitzer beschädigen die volkswirtschaftliche Substanz. Da die Renditen in der Regel über den realen Wachstumsraten der jeweiligen Volkswirtschaften liegen, muss ein Teil davon aus der Substanz beglichen werden.
c) Die Geldvermögen entfernen sich immer weiter vom Volumen der Realwirtschaft. Doch verlangt der monetäre Überschuss eine materiale Entsprechung, „sonst wäre der Zins nichts anderes als eine entwertende Aufblähung des Geldzeichens“ (Altvater/Mahnkopf) Aber eben diese materiale Entsprechung kommt nicht zustande, die Geldvermögen äußern sich in Bubbles, in spekulativen Aufblähungen über dem vorhandenen Realver­mögen – im Produktions- wie im Immobiliensektor – die schließlich mit Notwendigkeit zerplatzen müssen.
Die Regeln und die Dominanz des Finanzkapitals entfremden die Wirtschaft zunehmend ihres Gebrauchswertcharakters, sie verringern die volkswirtschaftliche Substanz und sie vergrößern die Diskrepanz zwischen Geld- und Realvermögen bis zum Aufplatzen der produzierten Bubbles.
1) Ein entscheidendes Problem des globalen Kapitalismus besteht darin, dass seine Produktionsweise zum wesentlichen Teil auf der Nutzung fossiler Energieträger beruht, vor allem auf Erdöl und Erdgas, die mehr als zwei Drittel des Primärenergiebedarfs befriedigen. Dies ist nicht nur ein Faktor der Gefährdung und Ruinierung der Umwelt, obwohl dies allein schon höchsten Alarm auslösen müsste. Die Öl- und Gasabhängigkeit sorgt auch für die permanente und ständig intensivere Mi­li­ta­ri­sie­rung der internationalen Beziehungen. Die drei kapitalistischen Metropolen – USA/Kanada, EU und Japan – verbrauchen bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von 13% an Erdöl 54% und an Erdgas 48% der Weltförderung. Alle drei Metropolen zusammen verfügen aber nur über 4% der Öl- und 5% der Gasreserven. Sie sehen sich also auf die Ressourcen in anderen Regionen der Welt angewiesen. Ihre Konsequenz, wie im Irak-Krieg der USA und ihrer Alliierten einschließlich der stillen Teilhaber Deutschland und Frankreich demonstriert, besteht darin, die Zugänge zu den Ressourcen militärisch zu sichern. Da die Grundlage, die Ressourcenabhängigkeit, bestehen bleibt, wird auch der „Krieg gegen den Terror“, der in Wahrheit ein Krieg um Öl und Gas ist, solange andauern, wie der globale Kapitalismus nach seinen Bedürfnissen regieren kann. Mehr als die Hälfte der 100 größten TNK sind überwiegend im Ressourcengeschäft tätig – sie bilden zusammen mit Rüstungs- und Autokonzernen die stabile ökonomische und politische Grundlage einer aggressiven Weltordnungspolitik, wie sie die US-Regierung an der Spitze des Metropolenbündnisses betreibt.
Die Menschen werden – als direkte Kriegsopfer oder als Objekte undemokratischer Anti-Terrorgesetze – zu Kollateralschäden einer skrupellosen Ressourcenpolitik. Die Wirtschaft nimmt weiteren Schaden, weil die zivile Basis der Produktionsstruktur zugunsten des militärischen Teils schwindet. Mit dem Hochfahren der Rüstungsausgaben geht einher der entsprechende Abbau sozialer Leistungen des Staates. Das Strohfeuer des „Rüs­tungs­keynes­ianismus“ wird bald verpufft sein, die Schäden an Wirtschafts- und Sozialstruktur sind hingegen dauerhafter.
2) Die Grundlage jeder Ökonomie ist die Ressourcenumwandlung. Das Gerede von einer „Entmaterialisierung“ der Produktion im Zeichen der Informationsgesellschaft hat diesen Sachverhalt in den letzten Jahren vernebelt. Letzten Endes geht es in der Wirtschaft vor allem um reale Güter, die durch industrielle Verarbeitung aus Naturstoffen gewonnen werden. Der Anteil von Information und Dienstleistung nimmt bei Vertrieb und Verbrauch der Güter zwar zu. Dennoch hat Wirtschaftswachstum in aller Regel wachsenden Naturverbrauch zur Folge. Das Niveau der Beanspruchung der Natur hat sich dramatisch gesteigert. Die realen Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa haben sich von 1920 bis zum 1. Weltkrieg knapp verdoppelt. Von damals bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sind sie aber um mehr als das Vierfache gestiegen. Wachstum ist heute jedoch nicht mehr extensiv, durch Inanspruchnahme weiterer Regionen und zusätzlicher Völker zu erzielen. Auf dem jetzt erreichten Niveau des Res­sour­cen­verbrauchs werden die materiellen Grundlagen des Wirtschaftens, in historischen Begriffen, schnell aufgebraucht. Eine wirtschaftliche Ideologie und Praxis wie die neoliberal-kapitalistische, die Natur und Mensch nur unter dem Kriterium der Verwertbarkeit beurteilt und verbraucht, steht in schroffem Gegensatz zu den Erfordernissen einer ökologischen und sozialen Ökonomie.
Wir, die Menschen in unserem Land und in aller Welt, können uns, wenn wir als Menschen und wenn wir überhaupt überleben wollen, den globalen Kapitalismus nicht länger leisten. Wie wir mit dieser lebens- und kulturfeindlichen Logik der herrschenden Politik Schluss machen können, wird Gegenstand der weiteren Referate und Debatten heute sein. Differenzen werden sicher nicht ausbleiben. Schön wäre es, wenn es uns gelingt, uns dessen zu versichern, wo wir alle miteinander ganz praktisch aktiv werden müssen, um Einfluss zu nehmen auf die weitere Gestaltung der Globalisierung.
Literatur
Altvater, Elmar / Mahnkopf, Birgit: Grenzen der Globalisierung. Münster 2004-08-08
Mayer, Leo / Schmid, Fred / Schuhler, Conrad: Wie die Globalisierung zur globalen Wirtschaftskrise führt. München 2002
Schmid, Fred / Schuhler, Conrad: Krieg ums Erdöl. München 2003