Vortrag von Masha Kursina von der Gruppe Wperjod
Soziale Kämpfein Russland1
Wperjod („Sozialistische Bewegung Vorwärts“) ist eine kleine Gruppe der antikapitalistischen Linken in Russland, derzeit in etwa 10 Städten präsent (in der Nr. 7 ihrer Zeitung Wperjod vom Februar 2008 werden die Städte Jaroslawl, Jekaterinburg, Lipezk, Moskau, Nishni Nowgorod, Samara, Saratow, St. Petersburg Stary Oskol, Tjumen, Tomsk, Wolgograd und Woronesh sowie Minsk in Belarus und Kiew in der Ukraine genannt.2
Ich begrüsse euch alle. Mein Name ist Masha Kursina. Ich möchte über die politische Situation in Russland, die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften, die linke Szene berichten.
Ich beginne mit der russischen Föderation und den wichtigsten sozialen Veränderungen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die ersten 10, 15 Jahre danach waren für nahezu alle Menschen sehr hart. Die meisten Leute erinnern sich daran als an die dunkelste Zeit ihres Lebens. Es hat sich sehr viel im Land verändert, und das hatte sehr große Auswirkungen auf die politische Szene, auf die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften, einfach auf alles.
Denn das traditionelle Verständnis von sozialen Aktivitäten brach in den ersten Jahren der Restauration des Kapitalismus total zusammen. Leute, die in den letzten Jahren der Sowjetunion, der Perestroikasozial sehr aktiv gewesen waren, waren mit den Ergebnissen ihrer Aktivitäten sehr unzufrieden. Das führte dazu, dass die sozialen Aktivitäten sehr zurück gingen.
Die Menschen misstrauten sehr vielen sozialen Institutionen. Nirgendwo glaubten die Menschen noch daran, irgend etwas verändern zu können mit ihren Aktivitäten. Sie gaben irgendwie auf. Das soziale Leben ging zurück. Beispielsweise: Wenn Menschen mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden waren, schien es ihnen viel einfacher, den Arbeitsplatz zu wechseln, als sich um Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz zu bemühen. Das ging weiter beim alltäglichen Leben, beim Wohnen, beim öffentlichen Transportwesen, bei all diesen Dingen, die die Menschen eigentlich hätten verändern sollen.
Diese Unzufriedenheit war ein großes Problem und die Hauptseite bei jeglicher politischer Aktivität in den 90er Jahren. Das verändert sich jetzt. Die soziale Situation hat sich in der Tat verbessert, aber noch immer nicht für alle. Die Leute verstehen, dass das Leben so weitergehen wird, wie es jetzt ist. Es gibt kein Zurück zur Sowjetunion. Deshalb suchen die Menschen nach etwas Neuem, und soziale, politische Bewegungen beginnen sich zu formieren.
Ich werde euch also über die letzten 18 Jahre berichten, über die Zeit, seit Jelzin abgesetzt wurde.3Das war ein ganz nettes Neujahrsgeschenk von ihm, denn er trat am Silvesterabend zurück. Während seiner Silvesteransprache kündigte er seinen Rücktritt an. Damit begann eine neue Periode, womit eine gewisse Stabilität begann. Aber auf der anderen Seite kündigten sich wichtige soziale Veränderungen an. Und die waren in bestimmter Hinsicht noch viel schlimmer als in der Jelzin-Ära: ein rollback des demokratischen Prozesses.
Wahlen
Ich komme zur politischen Situation in Russland und zu den Ergebnissen der letzten Wahlen. Letzten Herbst hatten wir Parlamentswahlen, die wurden von „Einiges Russland“ mit großer Mehrheit gewonnen.4Sie haben jetzt eine noch nie dagewesene Mehrheit im Parlament. Sie können damit ihre Politik problemlos fortsetzen, zumal die anderen im Parlament vertretenen Parteien keine echte Opposition darstellen. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation ist immer noch die zweitgrößte Partei Russlands, aber ihre Ergebnisse werden immer schlechter. Ich rechne die KP der linken Szene zu. Früher war sie vor allem nach rückwärts gewandt, orientiert an den früheren Zeiten. Ende der 90er Jahre hatte sie einige Möglichkeiten, oppositionelle Vorstellungen zu repräsentieren, und in den Großstädten wurde sie stärker. Aber jetzt befindet sie sich in einer wirklich tiefen Krise.
Dann haben wir im Parlament die Liberal-Demokratische Partei Russlands. Ihre Position verdankt sie dem Charisma ihres Führers.5Und eine neue Partei im Parlament ist „Gerechtes Russland“.6Das ist eine Partei, die versucht, Proteststimmen zu gewinnen. Sie haben versucht, eine neue Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Dann kam aus dem Kreml das Signal: „Das geht zu weit“, also haben sie das Projekt wieder abgeblasen. Aber sie haben doch einigen Einfluss auf die sozialen Bewegungen und versuchen, sich als eine Art oppositionelle, sozialdemokratische Partei darzustellen. Was wir aber tatsächlich von diesem neuen Parlament erwarten können, ist eine vereinte Kraft für weitere, neoliberale Veränderungen, die von der Regierung vorangetrieben werden.
Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen sind noch beeindruckender.7Es gab einen überwältigenden Sieg von Medwedew, dem neuen Präsidenten. Prägt euch sein Gesicht ein. In der Kommunistischen Partei gab es eine Debatte darüber, ob Sjuganow, der Chef der KP, zu dieser Wahl antreten sollte. Weil die Wahl dann demokratischer wirken würde. Als ob es eine Wahlmöglichkeit gäbe. Der oppositionelle Teil der Partei war deshalb gegen eine Kandidatur, aber traditionellerweise beteiligt sich die KP an der Präsidentschaftswahl, und sie ist gegenüber jeder Regierung loyal, deshalb trat er doch an. Sein Wahlergebnis war gar nicht so schlecht, aber verglichen mit 1996 war es nichts.8
Schirinowsky tritt zu jeder Wahl an. Und Bogdanow ist der Führer der Demokratischen Partei Russlands. Diese Partei wurde eigentlich nur gegründet, damit sie bei Wahlen antritt und formal mehr Wahlmöglichkeiten bestehen. Die Leute sind mit dem Wahlsystem, mit dem demokratischen System sehr unzufrieden. Deshalb war die Hauptfrage auch: wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Damit nicht das passiert, was 2004 geschah, als Putin wiedergewählt wurde, und er fast an der fehlenden Wahlbeteiligung gescheitert wäre.9
Die politische Szene und die Gesellschaft sind zur Zeit völlig voneinander getrennt. Die Gesellschaft ist überhaupt nicht interessiert an Wahlen, sie ist mit der offiziellen Politik völlig unzufrieden. Die Menschen denken, und sie fühlen, dass sie keinerlei Einfluss nehmen können. Die tatsächliche politische Bewegung entfernt sich vom parlamentarischen System.
Ich glaube, das zu verstehen, ist sehr wichtig, um die politische Situation in Russland verstehen zu können: Alle wirklichen sozialen und politischen Kräfte müssen ihre Aktivitäten auf der Straße konzentrieren, in den Fabriken, außerhalb des Parlaments, abseits der Wahlen. Die Gesetzgebungüber Legislative, über politische Parteien wurde geändert. Das hat die Situation verschärft, das hält die Leute davon ab, soziale und politische Körperschaften zu gründen, um an Parlamentswahlen teilzunehmen.
Ich werde noch über soziale und politische Bewegungen in Russland sprechen. Es gibt eine informelle politische Szene. Aber zuvor komme ich noch auf die Ergebnisse von acht Jahren Regierung Putin zurück. Es gibt jetzt ein soziopolitisches System in Russland, das stabil ist insofern, als die wichtigsten Unternehmen nicht permanent ihre Besitzer wechseln, wie es in den 90er Jahren war. Insofern hat Putin tatsächlich eine gewisse Stabilität geschaffen. Aber es gab sehr starke soziale Veränderungen. Es wurden sehr viele neue, einflussreiche Gesetze verabschiedet. Und in dieser Hinsicht waren diese Putin-Jahre nicht stabil, weil es dauernd gesetzliche Änderungen gab.
Regierung Putin
Das Wichtigste: die Privatisierungen sind weitergegangen. Sie standen zwar nicht so sehr im Mittelpunkt wie in den 90er Jahren, als sie die Hauptfrage waren. Damals ging es darum, dass alles im Staatseigentum stand, und privatisiert wurde. Aber es wurden unter Putin sehr wichtige Sachen privatisiert, darunter die wichtigsten Staatsbetriebe, wie der Transportsektor. Das Energiemonopol wurde reformiert, beispielsweise wurde die gesamte Kette der Elektrizitätsversorgung privatisiert, die Telekom wurde privatisiert, die Eisenbahn wurde aus dem Ministerium herausgelöst und in ein Unternehmen umgewandelt.
Es gab also in diesen letzten acht Jahren ganz wichtige Privatisierungen. Das wurde vor der Öffentlichkeit eher geheimgehalten, aber die Öffentlichkeit war davon sehr stark betroffen. Beispielsweise haben sich die Preise für die meisten Eisenbahntickets in dieser Zeit verzehnfacht. Russland ist doch ein sehr großes Land, und die Leute müssen herumfahren. Sie möchten die Verwandten besuchen, und so hat das das Leben der Menschen sehr beeinflusst.
Eine weitere, meiner Meinung nach sehr wichtige Änderung bestand in der Reform der Arbeitsgesetzgebung. Die hat die Rechte der Gewerkschaften stark eingeschränkt. Die von uns so genannten „offiziellen“ Gewerkschaften wurden gestärkt, und es gibt kaum mehr die Möglichkeit, dass in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften bestehen. Es ist jetzt sehr schwierig für ArbeiterInnen, Gewerkschaften zu gründen und sich so zu organisieren. Die Rechte der ArbeiterInnen wurden drastisch eingeschränkt.
Weiters gab es wichtige Änderungen in den Gesetzen betreffend Grundeigentum, Wasser-, Wald- und Schürfrechte, also Naturressourcen. Das befand sich alles in öffentlichem Eigentum, und jetzt kann es privatisiert werden.
Dann gab es Änderungen in der Steuergesetzgebung. Wir haben jetzt eine flat tax in der Höhe von 13%.10Die Sozialversicherung, also die Pensionsversicherung, die Krankenversicherung und so weiter wurden insofern geändert, als jetzt die Hälfte der Beiträge von den ArbeiterInnen aufzubringen ist. Früher mussten die Beiträge zur Gänze von den Arbeitgebern bezahlt werden.
Gesetzesänderungen
Der größte Teil der Steuereinnahmen fließt jetzt der Zentralregierung zu. Und gleichzeitig gibt es das Gesetz Nr. 122, dessen wichtigster Inhalt darin besteht, dass die Kosten für Bildung, Gesundheit und so weiter den Lokalbehörden aufgebürdet werden. Während die lokalen Budgets geschwächt werden, wird den lokalen Regierungen mehr finanzielle Verantwortung aufgebürdet. Das hat zwar noch nicht zum Kollaps des lokalen Sozialversicherungswesens geführt, wir sind aber nicht mehr weit davon entfernt.
Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes mussten viele technische Schulen und Colleges geschlossen werden, und es hatte einen starken Einfluss auf das Gesundheitswesen. Aber die Gesundheitsreform ist immer noch nicht abgeschlossen. Diese Reform hat sehr starke Auswirkungen auf alle, und deshalb führen sie sie langsam durch.
Die Reform des Wohnungswesens wurde ebenfalls per Gesetz angegangen, Wohnen ist jetzt der Konkurrenz, dem Markt ausgesetzt, der Profitgenerierung. Davor war es rein staatlich, die Mieten wurden dem Staat überwiesen. Jetzt wird privatisiert. Und darüber hinaus wurden die MieterInnenrechte dramatisch eingeschränkt. Früher durften die Leute nicht auf die Straße gesetzt werden. Selbst wenn die Mieten nicht bezahlt wurden, war es kaum möglich, die Leute woanders einzuquartieren, geschweige denn dass sie obdachlos werden konnten. Jetzt sind wir mit massenhaften Kündigungen konfrontiert. Familien mit Kleinkindern verlieren ihre Wohnung, ohne eine Ersatzwohnung zu erhalten.
Die Bildungsreform ist immer noch im Gang. Der Hintergrund ist, dass Russland eine sehr gut ausgebildete ArbeiterInnenschaft hat. Fast 90% aller MaturantInnen besuchen Universitäten oder Colleges, vor allem die Universitäten. Auch HandarbeiterInnen haben einen sehr hohen Bildungsstand. Und jetzt steht im Vordergrund, dass die Bildung den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes untergeordnet wird. Also die Leute sollen nicht zu ihrem Vergnügen studieren, einfach um mehr zu wissen. Sie sollen studieren, um unbedingt benötigte Fähigkeiten zu erwerben. Also die StudentInnen sollen die Universität rasch durchlaufen.
Ein weiterer harter Schlag der Regierung gegen das Bildungssystem besteht darin, dass die Studienbedingungen geändert werden. Das bedeutet, dass die jungen Männer in der Armee dienen müssen, anstatt wie bisher Militärwissenschaft gemeinsam mit einem zivilen Universitätsstudium zu betreiben. Bisher war das ein wichtiger Grund für viele junge Männer, auf die Universität zu gehen.
Eine neue Gesetzgebung, die auch politisch aktive Menschen betrifft, war die gegen Terrorismus. Das ist etwas ganz Neues. Die Gesetze richten sich gegen sogenannte Extremisten, und daraus wurde bereits einige Male Ernst. Dabei wird aber nicht definiert, was Extremismus tatsächlich ist, und damit kann praktisch jede politische, gewerkschaftliche, soziale Aktivität unter diese Gesetzgebung subsumiert werden. Das ist sehr unangenehm. Es gab einige Fälle, wo unsere GenossInnen wegen dieser Gesetze verhaftet wurden. Bisher haben wir sie zum Glück immer wieder aus dem Gefängnis holen können.
Es gibt ein neues Presserecht. Zeitungen müssen sich registrieren lassen, und deshalb sind viele eingestellt worden. Gleichzeitig hat der Staat die meisten TV-Stationen unter seine Kontrolle gestellt. In den letzten Jahren sind die meisten politischen TV-Sendungen eingestellt worden. Es gibt eigentlich nur noch eine politische Sendung, die live ausgestrahlt wird. Alle anderen sind Aufzeichnungen.
Ich habe an einigen TV-Diskussionen teilgenommen, das war ziemlich schräg. Denn du bist im Studio, diskutierst, siehst, wie die anderen reagieren. Und zwei Wochen später schaust du dir das im Fernsehen an: Da war ich doch gar nicht dabei! Das muss was anderes sein. Sie schneiden, sie ändern alles bis zur Unkenntlichkeit. Wenn du ein politisches Programm empfangen willst, dann musst du einen europäischen Sender aufdrehen.
Es gibt neue Gesetze zu politischen Parteien. Ich habe gesagt, Russland ist ein großes Land. Es gibt 83 Regionen. Früher waren es 89 Regionen. Früher konnte man mit einer kleinen Anzahl an Leuten eine politische Partei gründen. Es existierten kleine Parteien, soziale Bewegungen. Jetzt wird vielen Parteien die Registrierung verweigert, weil sie brauchen VertreterInnen in der Mehrheit der Regionen und ich glaube 10.000 Mitglieder in jeder dieser Regionen. Das ist nahezu unmöglich. Dazu kommt, dass die Gründung einer Partei in der Presse bekannt gemacht werden muss. Und dafür müssen hohe Steuern bezahlt werden. Die offizielle Erklärung zu diesem Gesetz lautet, dass in Russland ein Zweiparteiensystem errichtet werden soll. Und das heißt nicht, dass es zwei gleich große Parteien geben soll. Sondern nur zwei Parteien.
Es gibt neue Gesetze über Massenaktionen. Früher musste man die Behörden über öffentliche Aktionen informieren, nun muss man um die Erlaubnis für etwa Demonstrationen ansuchen. Und oft erhält man die Erlaubnis eben nicht. Aber selbst wenn eine Aktion erlaubt wird, dann kommt es, sagen wir in 80% der Fälle, trotzdem zu Verhaftungen. Etwa wenn man eine Streikkette machen will, steht zu erwarten, dass die OrganisatorInnen verhaftet werden. Wir versuchen also, Leute auszuwählen, die gerade nicht vorhaben, ins Ausland zu fahren, oder die nicht wirklich große Probleme mit den zu erwartenden Strafen haben werden. Früher haben die SchlüsselaktivistInnen die Organisation von solchen Aktionen übernommen. Jetzt versuchen wir, dafür andere Leute einzusetzen. Weil sonst bekommt man wirklich Probleme.
Oft stehen wir vor dem Problem, dass die TeilnehmerInnenanzahl an Aktionen beschränkt wird. Es wird gesetzlich nicht mehr als eine Person pro Quadratmeter zugelassen. Ich weiß nicht, wie sie auf die Quadratmeteranzahl kommen. Aber manchmal haben wir dann, sagen wir bei gewerkschaftlichen Aktionen, eine Streikkette mit fünf Leuten. Und rundherum stehen noch einmal 100 Leute. Wir bilden also eine Menschenmenge um diese fünf Leute, die die Transparente halten, die also die TeilnehmerInnen darstellen, und die anderen sind dann halt entweder PassantInnen, oder JournalistInnen oder irgendjemand. Aber wir haben natürlich trotzdem Probleme.
Dann wurden die Gesetze über die Lokalbehörden geändert. Die Gouverneure der Regionen werden jetzt vom Präsidenten ernannt, und sollen dann von den Lokalparlamenten bestätigt werden. Das hatte starke Auswirkungen auf das lokale Wahlverhalten. Viele lokale soziale Bewegungen und Parteien haben sich früher an diesen Wahlen beteiligt. Das war sehr wichtig für ihre Entwicklung, und es gab ein größeres Interesse an Lokalwahlen als an den nationalen Wahlen. Aber jetzt ändert sich das, denn wenn die Leute nicht einmal auf lokaler Ebene eine Chance haben, ihre Meinung auszudrücken, etwas zu verändern, dann gehen sie nicht zur Wahl.
Dann wurde Russland in sieben föderale Einheiten geteilt. Und deren Vorsteher werden direkt vom Präsidenten ernannt. Sie sollen die Macht des Präsidenten in den Regionen vertreten. Das schafft eine Form von Pyramide, an deren Spitze eine einzige Person steht. Angeblich soll das mit dem Präsidentenwechsel jetzt ein wenig geändert werden. Aber es ist trotzdem eine wichtige Maßnahme, um die Einflussmöglichkeiten der Menschen zu beschränken, selbst auf lokaler Ebene.
Einkommen
Was haben wir also als Ergebnis all dieser Veränderungen? Ein großer Teil der Gesellschaft wird in die Armut getrieben. Es gibt Reallohnverluste. Seit zweieinhalb Jahren fallen die Reallöhne, obwohl die Produktion, die Produktivität wächst. Die ArbeiterInnen haben kaum mehr eine Möglichkeit für Lohnverhandlungen. Die Inflation ist sehr hoch, und die Lohnerhöhungen liegen unter der Inflationsrate. Die Leute werden also in die Armut getrieben. Selbst in den Staatsbetrieben lag die Lohnerhöhung unter der Inflationsrate des letzten Jahres. Es gibt einen Reallohnverlust von 10% – 12% allein im vergangenen Jahr.
Letzten September gab es enorme Preissteigerungen, angeblich wegen der Finanzkrise in den USA. Erstaunlich, aber die hat sich auf Russland ausgewirkt. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind dramatisch angestiegen. Und an dieser Stelle möchte ich euch einen groben Überblick über die Struktur der russischen Gesellschaft vermitteln:
Wir können ganz grob eingeteilte unterschiedliche Einkommensgruppen festmachen. Am untersten Ende dieser Skala befinden sich die Menschen, die in Armut leben. 20% – 30% der russischen Bevölkerung leben definitiv unterhalb der Armutsgrenze. Davon sind der größte Teil PensionistInnen, weiters einige ArbeiterInnen, Arbeitslose und StudentInnen. Die arme Bevölkerung lebt hauptsächlich in den Kleinstädten und am Land. Und die LandarbeiterInnen leben alle unterhalb der Armutsgrenze. Niemand kann dort von seinem/ihrem Einkommen leben.
Ich muss dazu sagen, die Daten stammen aus einer Erhebung einer der konservativsten Zeitungen Russlands, deshalb verwenden sie auch Begriffe wie „Unterklassen“, die nicht meine Begriffe sind. Die meisten dieser sogenannten „Unterklassen“ sind ArbeiterInnen, aber es gibt auch einige ArbeiterInnen, die ganz gut verdienen. Für russische Verhältnisse sind Einkommen von 800 – 900 Euro ganz gut. Dabei sind die Einkommensunterschiede nicht so sehr von der Qualifikation abhängig, sondern viel mehr vom jeweiligen Unternehmen und Sektor. Weil sie kämpferische Gewerkschaften haben, die versuchen, die Bedingungen zu verbessern.
Für europäische Verhältnisse klingt es sonderbar, aber SpezialistInnen, ProfessionistInnen verdienen relativ schlecht in Russland. Die meisten dieser SpezialistInnen sind GesundheitsarbeiterInnen, und dazu müssen wir auch ÄrztInnen zählen, LehrerInnen und andere SpezialistInnen, die beim Staat angestellt sind, die im öffentlichen Sektor, in Staatsbetrieben arbeiten, etwa WissenschafterInnen. SpezialistInnen mit höherem Einkommen sind meist JournalistInnen, WebdesignerInnen, BuchhalterInnen, AnwältInnen …
Wir haben eine sehr dünne „Oberklasse“, die weniger als 2% der Bevölkerung ausmacht. Ich spreche hier aber nicht von den wirklich reichen Menschen, sondern das sind die Leute, die es sich leisten können, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Die ganz Reichen sind nur sehr, sehr wenige, die in dieser Statistik gar nicht vorkommen. Aber dafür haben wir ja das Forbes-Magazin.11
Ich möchte jetzt aber zur sozialen Situation in Russland kommen. Und die hängt ganz stark von der Region ab, in der die Menschen leben. Moskau ist hier eine völlige Ausnahme, nach einem russischen Witz ist Moskau ein anderes Land. Hier gibt es einen recht hohen Lebensstandard. Die Preise sind vermutlich höher als in Wien, und auch in Moskau wird das Leben schwieriger. Die Wohnungsmieten sind extrem hoch, sie liegen über dem Doppelten des Durchschnittseinkommens.
Ein guter Lebensstandard ist in den russischen Großstädten vorzufinden. Es gibt neben Moskau noch 12 weitere Städte mit mehr als einer Million und sieben mit mehr als einer halben Million EinwohnerInnen. Dort lässt es sich ganz gut leben, denn dort gibt es noch relativ niedrige Preise und eine recht gute Einkommenssituation.
In den Kleinstädten haben die Leute wirklich schlimme Lebensbedingungen, und vor allem in Kleinstädten, in denen es nur eine oder zwei große Firmen gibt, sind die Menschen völlig von ihrem Arbeitgeber abhängig. Es geht nur darum, ob das Unternehmen arbeitet. Die Leute haben eine sehr instabile Situation und erhalten üblicherweise sehr niedrige Löhne. Sie überleben, weil sie kleine Gärten haben, in denen sie irgendwelche Tiere halten. Aber ich würde das eine verzweifelte Situation nennen. Und wenn wir uns die Dörfer ansehen, so weiß ich wirklich nicht, wie die Menschen dort überleben. Denn der größte Teil der russischen Landwirtschaft ist völlig zerstört. Nur an ganz wenigen Orten gibt es eine organisierte Produktion.
Die Menschen dort sind mit dem nackten Überleben beschäftigt, und seit den 90er Jahren gibt es daher eine starke Bewegung aus den Dörfern in die Städte. Diese Situation hat sich wegen verschiedener Reformen noch verschlimmert. Es gibt jetzt auch in den größeren Dörfern keine Post, keine Schule, keine Feuerwehr. Ein Beispiel: In den letzten drei Jahren gab es mehrere schlimme Vorfälle. Es gab Feuer in Schulen, in Krankenhäusern, und dabei kamen viele Menschen um. Weil die nächste Feuerwehrstation 40 oder 50 km entfernt war, und nicht rechtzeitig eintreffen konnte. Denn es gibt auch kein Telefon. Also musste jemand dort hinfahren und die Feuerwehr erst verständigen. Also eine wirklich schreckliche Situation.
Gewerkschaften
Ich komme zur mir persönlich wichtigsten Frage, den Gewerkschaften. Die gesamte Arbeitskraft in Russland, oder, wie es hier heißt, die „ökonomisch aktive Bevölkerung“, umfasst 75 Millionen Menschen. Davon sind offiziell 5 Millionen arbeitslos. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist aber vermutlich bedeutend höher. Manchmal sind Leute zwar angestellt, erhalten aber keine Löhne. Sie sind angestellt, gehen aber nicht zur Arbeit, weil sie keinen Lohn erhalten. Wegen der stagnierenden Industrie. Das geschieht vor allem in den größeren Städten, in den Industriestädten.
Der offizielle Organisierungsgrad, also die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, ist recht hoch, er liegt bei 40%. Davon hatdie FNPR die meisten Mitglieder, das ist die „Föderation unabhängiger Gewerkschaften in Russland“, die aber tatsächlich alles andere als unabhängig ist. Wenn wir also von unabhängigen Gewerkschaften sprechen, dann sprechen wir über alle anderen Gewerkschaften. Andere wichtige Gewerkschaften sind also die „allrussische Gewerkschaftsföderation“, die „Konföderation der russischen Arbeit“ – oder so ähnlich in der Übersetzung, in der vor allem TransportarbeiterInnen organisiert sind; Dann gibt es die SozProf – „sozialistische Gewerkschaften“ – das ist der älteste unabhängige Gewerkschaftsverband in Russland, die zur Zeit einen Aufschwung erlebt. Und dann gibt es andere, kleinere Gewerkschaftsverbände, und Gewerkschaften, die in keiner Föderation sind, die auf regionaler Ebene existieren oder Betriebsgewerkschaften sind.
Wenn wir über den tatsächlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad sprechen, dann müssen wir zuerst die offizielle Zahl von 29 Millionen Menschen sehr bezweifeln. Die Mitgliedschaft geht nämlich zurück, in den 90er Jahren um jährlich durchschnittlich 20%. Jetzt hat sich die Anzahl der Mitglieder mehr oder weniger stabilisiert, sie fällt nur noch um 4% jährlich. ExpertInnen schätzen die Zahl also auf 10 bis 18 Millionen Menschen, und irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen. Aber leider sagt das nichts über die Anzahl bewußter Mitglieder aus.
Menschen gehen in die Gewerkschaft, einfach weil sie daran gewöhnt sind, oder sie treten deswegen nicht aus. Oder sie erwarten sich einen Gewinn davon, etwa soziale Unterstützung. Oft wird ihnen von der Personalabteilung nahegelegt, der Gewerkschaft beizutreten, weil damit die ArbeiterInnen vom Unternehmen zusätzlich beeinflusst werden können. Ausserdem liegt darin die Garantie, dass die ArbeiterInnen keine eigene Gewerkschaft gründen, die für ihre Rechte kämpfen könnte.
Ich schätze, dass nicht mehr als eine oder zwei Millionen der Gewerkschaftsmitglieder bewußte GewerkschafterInnen sind. Aber vermutlich ist bereits eine Million zu hoch geschätzt. Aber bleiben wir optimistisch. Ich muss auch sagen, dass die Zahlen von den Gewerkschaften selbst kommen, und in Wirklichkeit sind sie vermutlich ein wenig übertrieben. Vor allem bei SozProf sollten wir skeptisch sein. Also ich glaube, tatsächlich sind vermutlich 5 Millionen ArbeiterInnen wirklich organisiert in Gewerkschaften. Und das sind sehr wenig.
Die Hauptprobleme der Gewerkschaftsbewegung in Russland sind derzeit ein Mangel an ausgebildeten GewerkschaftsaktivistInnen, mangelndes Bewußtsein bei den Mitgliedern, eine starke anti-gewerkschaftliche Gesetzgebung, schlechte Arbeitsgesetzgebung und eine starke Repression von seiten der Unternehmen und des Staates, die gemeinsam gegen die Gewerkschaften vorgehen.
Meiner Meinung nach ist das größte Problem der Mangel an AktivistInnen in der Gewerkschaftsbewegung Russlands. Es herrscht ein sehr pragmatisches Politikverständnis vor. Die Gewerkschaften betrachten jede politische Betätigung, jedes Verhalten gegenüber Wahlen als eine Möglichkeit, sich finanziell zu verbessern, ihre Leute ins Parlament zu bringen; Geld für die Unterstützung einer bestimmten Partei zu erhalten. Am berüchtigsten dafür ist SozProf, die bei jeder Wahl mindestens zwei Parteien unterstützt. Das ist quasi eine prinzipielle Position von ihnen.
Es gibt wirklich ein großes Unverständnis gegenüber der Notwendigkeit der politischen Repräsentation der ArbeiterInnenklasse. Aber gleichzeitig sind aktive Gewerkschaften der einzige Nährboden, auf dem dieses Verständnis wachsen kann. Das wird daher unsere nächste Arbeit sein.
Soziale Bewegungen
Zu den sozialen Bewegungen. Die sind in Russland eine Antwort auf die Bewegungen der Regierung. Sobald es eine Reform gibt, gibt es eine Bewegung dagegen. Die stärkste Bewegung, die aber nur kurz existierte, war die gegen das neue Transportgesetz. Als dieses Gesetz vorgestellt wurde, konnten wir kaum etwas dagegen unternehmen. Die Leute waren nicht daran interessiert. Als es in Kraft trat, haben die Leute das sofort bemerkt. Die PensionistInnen etwa fuhren immer schon zum Nulltarif in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Dann gibt es ein Gesetz, das besagt, dass sie sich Geld holen sollen, um ihre Tickets bezahlen zu können. Das tat natürlich niemand, denn das Gesetz trat während der Neujahrsferien in Kraft. Sobald die zu Ende waren, und die Leute zu den öffentlichen Verkehrsmitteln gingen, sollten die Leute ihre Tickets bezahlen. Das haben sie natürlich nicht verstanden. Also durften sie nicht in die Metro, flogen aus den Bussen raus, und das hat die Leute wirklich sehr aufgebracht.
Innerhalb der ersten drei Wochen, nachdem dieses Gesetz in Kraft getreten war, gab es mehrere Protestaktionen dagegen. Ich muss sagen, das waren sehr militante Aktionen. Und zwar wirklich in allen russischen Städten, an 600 verschiedenen Orten. Straßen wurden blockiert, es gab große Versammlungen, in Leningrad haben sogar Leute versucht, die Kontrollore bewaffnet anzugreifen. Es war ein starker sozialer Protest. Aber nur für eine kurze Zeit, nach zwei Monaten war alles wieder vorbei. Die Leute haben sich an das neue System gewöhnt, auch wenn ihre Rechte stark beschnitten worden waren.
Eine andere starke Bewegung ist die gegen das neue Wohngesetz. Diese Bewegung ist aber nicht homogen. Es gibt hunderte verschiedene Gruppen, allein in Moskau über 200. Und sie setzen bei unterschiedlichen Punkten an. Weil die Leute die verschiedensten Probleme haben in Bezug auf den Platz, an dem sie leben. Diese Bewegung ist also sehr gross, und wir haben auch versucht, sie zu vereinen. Aber das ist sehr schwierig. Der soziale Hintergrund der Leute ist verschieden. Da sind Leute dabei, die politisch nicht viel am Hut haben. Aber diese Bewegung hat meiner Meinung nach eine soziale Perspektive. Sie wirkt als eine Art Schule, in der Menschen lernen können, ihre Rechte zu verteidigen, sich sozial zu verhalten.
Von diesem Standpunkt aus ist diese Bewegung sehr bedeutend. Diese Bewegung sieht sich mehreren Problemen gegenüber. Das wichtigste ist, dass die Leute wenig voneinander wissen. Sie werden von den Medien völlig ignoriert. Die Informationen zirkulieren vor allem über das Internet. Aber das ist eine kaleidoskopartige Information. Du findest die Titel, Schlagzeilen von hier, von dort, aber du kannst dir kaum einen Überblick verschaffen. Die Leute wissen nicht, ob noch jemand an dem Punkt interessiert ist, an dem sie arbeiten. Ob es da ähnliche Gruppen gibt.
Deshalb ist diese Bewegung sehr zersplittert. Aber auf der anderen Seite haben darüber Leute viel gelernt, von den einfachsten Dingen an. Aber obwohl es eine sehr wichtige Bewegung ist, ist es sehr schwierig, die Leute auf die Straße zu bringen.
Daneben war auch die Bewegung gegen die Arbeitsgesetzgebung eine sehr starke, die viele Leute zusammen gebracht hat. Das war gegen Ende der 90er Jahre. Aber ihr müsst euch vor Augen halten: in einem Land mit 145 Millionen EinwohnerInnen war der stärkste Aktionstag, der dieser Bewegung gelungen ist, der mit 300.000 TeilnehmerInnen – im ganzen Land. Und selbst diese Anzahl wurde nie wieder erreicht.
Parteien
Ich komme jetzt noch zur politischen Szene. Die ist in Russland nicht sehr groß, ähnlich wie in Österreich. Wir haben die KP Russlands, die immer noch von vielen Leuten als die stärkste linke Kraft betrachtet wird. Sie ist an vielen Orten die einzige existierende politische Organisation. Ok., „Vereintes Russland“ hat jetzt an den meisten Orten ihre Büros eingerichtet. Aber davor hatten selbst die regierenden Parteien an den meisten Orten kein eigenes Büro. Wenn ihr in eine Stadt kommt, mit 5.000 oder 10.000 EinwohnerInnen, dann ist die einzige Organisation vor Ort die KP. Wenn also Leute politisch aktiv werden wollten – deshalb sind Menschen mit politisch absolut verschiedenen Ansichten dieser Partei beigetreten.
Die KP kann irgendwie ihre WählerInnenschaft beisammen halten, aber sie verliert ihre AktivistInnen. Und zwar auf der einen Seite auf natürliche Art und Weise. Denn das Durchschnittsalter der Parteimitglieder liegt weit über 60 Jahren, und leider werden die Menschen in Russland nicht sehr alt. Die Partei schafft es nicht, junge Menschen einzubinden. Und viele Leute sind sehr enttäuscht von der KP. Also wie gesagt, in den 90ern konnte sie in den großen Städten wachsen, aber sie hat ihre AktivistInnen verloren, wird aber immer noch von vielen als wichtige Kraft betrachtet.
Dann gibt es eine Menge sozialdemokratische Parteien und Jugendorganisationen. Diese Parteien haben kein großartiges politisches Programm, und viele junge Menschen, die in solche Organisationen gehen, haben niemals deren politisches Programm gelesen. Sie sind einfach allgemein links eingestellt, möchten etwas machen, versuchen, mit ihnen zusammen zu arbeiten, und ich glaube, diese Organisationen werden langsam wieder verschwinden. Es gab Anfang der 90er Jahre eine Art sozialdemokratische Mode, und nun sind diese Parteien meist in einer Krise.
Deren Jugendorganisationen leben davon, dass die jungen Menschen etwas tun wollen, aber die KP wirklich eine Katastrophe ist. Andererseits wollen diese Leute nicht wirklich Revolutionäre werden, und so landen sie bei diesen Organisationen.
Es gibt eine Vielzahl stalinistischer Gruppen, ich kann gar nicht einschätzen, wie viele es gibt, jedenfalls Dutzende. Davon sind aber nur einige wenige groß. Es gibt die AKM12, und das ist eine militante Gruppe. Sie ist in letzter Zeit stark gewachsen. Die Gruppe ist militant, hat aber kaum ein politisches Programm. Ihr Hauptprogramm besteht darin: „Wir sollten etwas unternehmen. Wir müssen auf die Straße gehen.“ Und sie sitzen auch dauernd im Knast, werden ständig verhaftet. Ich glaube, ihr Udalzow wurde 50 oder 60 Mal verhaftet. Aber im Unterschied zur KP Russlands sind sie wirklich links.
Die KP, wenn man ihr Programm betrachtet, ist keine linke Organisationen, sondern vielmehr eine nationalistische. Aber mit starken Interesssen bezüglich der sozialen Fragen. Auf lokaler Ebene ist sie durchaus des öfteren links, manchmal gibt es da aber auch ziemlich obskure Typen. Die anderen Gruppen sind viel kleiner, haben meist 100 oder einige 100 Mitglieder, die größte vielleicht ein paar 1.000 Mitglieder. Das ist eben die AKM, und deshalb erwähne ich sie hier.
Die AKM bemüht sich auch, mit einigen sozialen Bewegungen, mit der ArbeiterInnenbewegung Verbindungen aufzubauen. Und sie ist wirklich aktiv. Wenn du bei denen Mitglied bist, dann bist du AktivistIn. Darin unterscheiden sie sich ganz klar von der KP.
Also auf der einen Seite des (stalinistischen) Spektrums ist die AKM, die nahezu kein Programm hat, dafür aber sehr militant ist. Und am anderen Ende stehen Gruppen, die zwar ein tolles Programm haben, und auch einige ausgebildete AktivistInnen, was für Russland eine Seltenheit ist, die aber versuchen, auf traditionelle Weise zu arbeiten. Beispielsweise beteiligen sie sich an Parlamentswahlen. Sie versuchen, in den Städten, in denen sie präsent sind, mit Gewerkschaften zusammen zu arbeiten. Und viele dieser Gruppen bestehen aus PensionistInnen, und manchmal frage ich mich schon, was in denen ihren Köpfen vorgeht.
Da gab es etwa ein Treffen gegen dieses Gesetz Nr. 122. Und eine ziemlich starke Gruppe innerhalb der Protestbewegung gegen dieses Gesetz war eine Gruppe von Leuten, die in der Sowjetzeit unterdrückt worden waren. Deren Anliegen war, dass sie Entschädigungen wegen dieser Unterdrückung wollten. Und da kommt eine Gruppe stalinistischer PensionistInnen zu diesem Treffen, mit Stalin-Porträts, und versucht, mit diesen Leuten, die unterdrückt worden sind, in Kontakt zu kommen, oder mit deren Kindern. Sie wurden nur wegen ihres Alters nicht verprügelt.
Gut, dann haben wir eine breite Palette trotzkistischer Gruppen. In den späten 80er, frühen 90er Jahren kamen Leute von vermutlich allen trotzkistischen Tendenzen in die Sowjetunion – später Russland – und versuchten, etwas aufzubauen. Ihre Hauptschwierigkeit war, dass diese Leute – ich kenne viele von ihnen persönlich, es sind sehr gute GenossInnen und die Diskussionen mit ihnen sind durchaus interessant – ich kenne das jetzt nur aus Schilderungen, weil ich zu dieser Zeit noch nicht politisch aktiv war... Aber 1989 erschien in Russland ein Buch „Was ist Trotzkismus?“. Es war ein überragender Erfolg. Denn die Leute hatten jahrzehntelang nichts über Trotzki gehört, sie waren also wirklich interessiert. Tausende Kopien dieses Buches wurden verteilt. Und was stand drinnen?
Wenn ihr meint, dass man daraus erfuhr, was „wirklich Trotzkismus“ ist, dann liegt ihr falsch. Ihr konntet lesen, dass einige Tendenzen die ArbeiterInnenklasse betrogen haben, 1967, 1972 und in einigen anderen Jahren. Dieser Zugang hat also diesen Gruppen nicht wirklich zum Erfolg verholfen. Die Leute hatten ihre Probleme, waren interessiert, aber nur sehr wenigen dieser Gruppen gelang es, irgendetwas aufzubauen in Russland. Aber in den letzten Jahren ist in Europa eine neue Generation von AktivistInnen herangewachsen, wiederum vor allem in Moskau und St. Petersburg. Und ich glaube, wir haben jetzt VertreterInnen von 10 – 15 (trotzkistischen) Tendenzen hier. Einige haben sich, traditionell, gespalten und deshalb wächst die Anzahl der unterschiedlichen Tendenzen, und das geht vermutlich so weiter.
Wir als Organisation versuchen, uns aus dieser Szene fernzuhalten. Denn wenn mensch sich in ungesunder Luft aufhält, kann mensch selbst krank werden. Wir versuchen, das zu vermeiden und offenere Diskussionen zu führen. Deshalb vermeiden wir Diskussionen mit ihnen.
Es gibt dann auch einige Gruppen der „neuen Linken“. Das sind meist Gruppen, die versuchen, auf der Straße aktiv zu sein. Oft mit sehr sonderbarem politischen Zugang und orientiert daran, was man persönlich tun kann. Sie machen oft komische Geschichten, aber sie versuchen auch, sich an den großen Protesten zu beteiligen. Ich glaube, sie werden als Organisationen keinen Bestand haben, weil sie sich sehr auf das Persönliche beziehen. Sie haben einen stark individualistischen Ansatz. Unter den StudentInnen haben sie einen gewissen Zustrom.
Ja, und wie überall haben wir AnarchistInnen, aber die sind nicht sehr stark. Das geht jetzt eher in Richtung Subkultur. Ich glaube, eine der ersten politischen Bewegungen, die aufgetaucht sind, waren anarchistische Gruppen in der Sowjetunion, Mitte der 80er Jahre. Viele von ihnen sind in die Gewerkschaftsbewegung gegangen und sind jetzt teilweise dort angestellt. Einige waren nicht so glücklich – oder glücklicher, und haben die Seite gewechselt. Aber die jüngere Generation AnarchistInnen konzentriert sich mehr auf Musik, Kultur, Antifaschismus, in manchen Städten gibt es „food not bombs“-Gruppen. Aber wie gesagt, das geht in Richtung Subkultur.
Im Aquarium
Das Hauptproblem der linken Szene in Russland ist ein allgemein politisches Problem. Ich sage dazu Aquarium. Nicht nur die Regierungspartei, auch die Linke schwimmt in diesem gleichen Aquarium. Das echte Leben ist irgendwo hinter diesem Glas. Und unser Hauptproblem ist es, diese Glasscheibe zu durchbrechen, dahinter zu kommen, und das ist wirklich kompliziert. Denn es gibt dieses Mißtrauen von seiten der sozialen AktivistInnen, die oft von den politischen Parteien für deren eigene Zwecke mißbraucht wurden. Und die auch einfach als BürgerInnne jeders Vertrauen in jegliche politische Aktivität verloren haben.
Diese AktivistInnen vertrauen also den politischen AktivistInnen nicht. Aber politische AktivistInnen trauen auch diesen AktivistInnen nicht, weil die kein echtes politisches Programm haben, das ist also ein gegenseitiges Mißtrauen. Eine Zusammenarbeit zwischen sozialen Bewegungen und der politischen Linken ist vermutlich derzeitige Hauptaufgabe in Russland. An dieser Debatte beteiligen sich Menschen unterschiedlicher politischer Ausrichtung, und das mag für euch sonderbar klingen. Aber ich habe bereits gesagt, die meisten dieser Gruppen haben keine lange politische Tradition. Die meisten von ihnen sind nicht älter als höchstens 20 Jahre. Und wenn es da eine politische Tradition gibt, dann ist die von Westeuropa hergebracht worden.
Wir betrachten uns also gegenseitig immer noch als Diskussionspartner, um einen gemeinsamen Weg zu finden und weiter zu kommen. Wobei diese Glaswand, dieses Aquarium gar nicht unkomfortabel ist. Im Gegenteil, hier lässt es sich leicht leben. Du verlierst jährlich fünf Mitglieder, findest fünf neue, vielleicht sogar sieben. Das ist ganz gemütlich. Aber wenn mensch in dieser Gesellschaft wirklich etwas ändern möchte, wenn mensch sich wirklich den existierenden sozialen Problemen stellen möchte, dann müssen wir diese Mauer durchbrechen. Das ist eines unserer Probleme.
Ein anderes Problem ist: die Organisation ist ein Werkzeug für Veränderungen. Aber dieses Werkzeug ist nicht wirklich scharf. Wir haben kaum ausgebildete AktivistInnen, unsere Mitgliederanzahl wächst sehr langsam. Daher denke ich, dass wir in einer sehr schwierigen Situation sind. Und draußen gibt es noch Repression und so weiter. Aber wichtiger ist, dass wir die Dinge innen ändern. Unseren Zugang zu den Problemen, unser Selbstverständnis, politische AktivistInnen zu sein, und unser Verhältnis zu anderen Menschen in der Szene.
Ich danke euch für eure Geduld.
Diskussion
Frage: Was ist eure Position zur Nationalbolschewistischen Partei? Weil das ist eine sehr aktive Partei.
Antwort: Die Organisation gibt es jetzt immer noch, aber unter einem anderen Namen. Der Chefdieser Partei, Eduard Limonow, ist ein berühmter Schriftsteller in Russland. Sein Zugang, als er die Partei gegründet hat, war: lasst uns etwas wirklich Interessantes von einem kulturellen Standpunkt aus schaffen. Lasst uns eine Partei gründen, die Faschisten und Kommunisten umfasst, denn das wäre sehr stark und sehr schön. Also ursprünglich ging es gar nicht darum, eine wirklich politische Organisation aufzubauen. Und viele Leute, die ursprünglich für diese Partei gearbeitet haben, waren von diesem mehr kulturellen, ästhetischen Zugang angezogen.
Und die Partei war sehr populär, sie hatten einige tausend Mitglieder, 5.000 – 10.000 Mitglieder. Sie waren in vielen Städten stark. In manchen Städten war das eine rein faschistische Organisation. Und in einigen Städten – ich habe über den Mangel an politischen Alternativen gesprochen – traten viele junge Menschen mit eher linken Ansichten der Partei bei. Und es gab Bolschewiken. Es war also niemals eine einheitliche Organisation. Dann kamen sie in eine tiefe Krise. Weil Limonow im Gefängnis saß.
Und während er weg war vom Parteileben, kamen immer mehr Rechte in wichtige Parteiämter. Seither können wir von einer rein nationalistischen Organisation sprechen. Viele wichtige Leute, die eher linke Ansichten hatten, verließen die Partei und gingen in andere Organisationen. Ich weiß nicht, ob es dieses Netzwerk noch gibt, aber sie arbeiteten in diesem Netzwerk „Ein anderes Russland“, zusammen mit Kasparow und anderen Leuten.
Ich glaube, für Limonow selbst war es eine Möglichkeit, eine öffentliche Person zu bleiben, Geld zu verdienen, mehr Bücher zu verkaufen, und dafür hat er wirklich viele junge Leute geopfert. Denn es gab von dieser Organisation viele politische Gefangene. Wegen illegaler Aktionen.
Frage: Ich würde gerne mehr über das Gesundheitssystem erfahren und die Veränderungen vom früheren zum jetzigen System. Gibt es Leute, die sich dagegen wehren?
Antwort: Die Gesundheitsreform ist noch in Planung, aber nicht umgesetzt. Aber das Gesundheitssystem ist natürlich auch von anderen Reformen betroffen, vom Steuersystem etwa, oder weil es einen allgemeinen Mangel an Transportmöglichkeiten, an sozialer Versorgunggibt, die öffentlich Bediensteten werden schlecht bezahlt. Das Gesundheitssystem in Russland hat immer noch die gleiche Struktur wie in der Sowjetunion. Offiziell ist es umsonst, für alle russischen StaatsbürgerInnen, ob sie nun Steuern zahlen oder nicht. JedeR hat freien Zugang zum Gesundheitssystem.
Aber dafür braucht mensch eine – ebenfalls kostenlose – Krankenversicherung. Das ist eine Verpflichtung für alle BürgerInnen, und die meisten haben diese Versicherung. Wenn du aber diese Versicherung nicht hast, dann kannst du nur in Ambulanzen zur Behandlung gehen. Aber das Problem ist ein anderes: Es gibt zu wenig Personal in den Spitälern, zu wenig ÄrztInnen. Und wenn du krank bist, musst im Spital für dieses bezahlen und für jenes, bezahlen, bezahlen.
Die meisten Menschen haben also nicht wirklich Zugang zum Gesundheitssystem. Das einzige, worauf du dich wirklich verlassen kannst, sind die Ambulanzen, und du kannst einen Hausbesuch vom Allgemeinmediziner bekommen. Alles andere gibt es in der Realität nur gegen Geld. Aber wenn du dich dahinterklemmst, dann kriegst du sehr wohl deine Behandlung umsonst. Ich mache das so.
Ein weiteres Problem ist die Behandlung von HIV-positiven Menschen oder welchen mit AIDS, oder der Umgang mit Leuten, die auch soziale Probleme haben. Dann gibt es das Problem der migrantischen ArbeiterInnen, denn die haben kaum Zugang zum Gesundheitssystem. Aber wie ich sagte, im Prinzip ist immer noch das alte System, dass man umsonst behandelt wird. Das sollte geändert werden, aber bisher ist das nicht geschehen.
Frage: Gibt es eine Grüne Partei in Russland?
Antwort: Ja.
Frage: Und welche Rolle …
Antwort: Nein, die spielt keine Rolle.
Frage: Nein: welche Rolle hat die ermordete Journalistin, Anna Politkowskaja, gespielt? Und was erwartest du dir vom neuen Präsidenten?
Antwort: Zur Grünen Partei, die gibt es, aber sie spielt überhaupt keine Rolle. Daneben gibt es eine Öko-Bewegung, aber die hat mit dieser Partei nichts zu tun.
Politkowskaja hat für verschiedene Zeitungen gearbeitet. Und sie war spezialisiert auf den Krieg in Tschetschenien. Sie hat viele Preise gewonnen. Ich persönlich denke, dass es einfacher ist, als Journalistin solche harten Geschichten zu recherchieren, und für westliches Publikum zu arbeiten. Aber wir haben in Russland eine allgemeine Tendenz zur Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Pressefreiheit. Und die Ermordung von Frau Politkowskaja war Teil dieser Tendenz. Diese Tendenz ist eine Katastrophe, denn mensch bekommt wirklich keinerlei Informationen.
Ich denke, der Grund für ihre Ermordung war, jederman ein klares Zeichen zu geben. Nicht, weil sie die Wahrheit über Tschetschenien geschrieben hat, eine Menge Leute haben mehr Wahrheit geschrieben. Ihr Pech war es, dass sie zu bekannt war.
Zur letzten Frage: Es gibt immer noch viel zu privatisieren. Das betrifft vor allem den öffentlichen Sektor, also das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die akademische wissenschaftliche Forschung, Kultur. Das ist immer noch öffentlich. Es gibt auch noch einige wichtige Unternehmen, die ein Staatsmonopol darstellen. Die inzwischen in Unternehmen umgewandelt wurden, die aber immer noch dem Staat gehören. Die werden privatisiert werden. Ich glaube, es wird weiterhin neoliberale Veränderungen geben. Ich glaube nicht, dass die allgemeine politische Richtung sich gegenüber der Putins ändern wird. Ich bin nicht sehr optimistisch. Medwedew sieht besser aus als Putin, aber das heißt nicht, dass er andere Ansichten hat.
Frage: Was heißt versteckte Arbeitslosigkeit?
Antwort: Ein Beispiel: In Miroslawl gibt es eine Großbäckerei, die war sehr erfolgreich. Aber jetzt steht sie vor dem Bankrott. Sie beschäftigte 1.200 ArbeiterInnen, jetzt offiziell noch einige hundert. Diese 450 ArbeiterInnen wären arbeitslos, wenn sie keinen Job finden. Sie arbeiten aber längst nicht mehr, sie sind in „Zwangsurlaub“. Also offiziell sind sie angestellt, sie arbeiten aber nicht. Sie erhalten eine Art Ausgleichszahlung, aber keine Löhne. Sind sie beschäftigt? Nein. Sind sie arbeitslos? Offiziell nicht. Das ist vesteckte Arbeitslosigkeit. In den 90er Jahren war diese Form weit verbreitet, und es gibt sie immer noch.
Frage: Zu den Gewerkschaften. Ich war einer dieser westlichen Trotzkisten, die öfters Anfang der 90er in Moskau waren. Es war nicht erfolgreich, aber ich möchte diese Zeit nicht missen, weil ich sehr gute GenossInnen dort kennengelernt habe. Wie könnte ich jetzt russische GewerkschafterInnen oder Linke unterstützen, als linker Gewerkschafter hier in Österreich?
Antwort: Was wirklich not tut, ist die Ausbildung von fortschrittlichen GewerkschafterInnen. Da gibt es wirklich einen großen Mangel an ausgebildeten AktivistInnen.
Frage: Mich interessiert die Situation der Ärmsten in Moskau, wenn es dort noch teurer ist als hier in Wien. Wovon leben die Menschen? Gibt es sowas wie einen zweiten Markt, einen Tauschmarkt? Könnte es zu einem Aufstand kommen, wie in Argentinien?
Antwort: Erstens, vielleicht war das mißverständlich: es gibt in Moskau keine favelas. Wie leben die Menschen? In Moskau verdienen die Menschen im Durchschnitt 21.000 Rubel, also etwa 700 Euro. Das war der offizielle Durchschnittslohn 2007. Die Leute verdienen etwas dazu, mit Überstunden, erhöhter Produktivität und so weiter. Das ist ein stabiler Teil ihres Einkommens, wenn auch nicht offiziell. Damit sind 20.000 Rubel das Durchschnittseinkommen in Moskau, und das ist etwas über dem derzeitigen statistischen Durchschnittseinkommen. Andererseits geben die Leute über 50% ihres Einkommens für Lebensmittel aus.
Die meisten Leute in Russland leben in ihren eigenen Wohnungen. Nicht, weil sie sie gekauft haben, sondern sie haben sie in Sowjetzeiten gemietet, und dann wurden sie umsonst privatisiert. Das gibt es noch, aber es ist schwieriger. Also zahlen die Leute nicht Marktpreise für die Wohnungsmieten. Die Marktpreise sind extrem hoch in Moskau. Wer darunter sehr leidet, sind migrantische ArbeiterInnen, Leute, die aus anderen Regionen Russlands kommen, um in Moskau zu arbeiten. Da gibt es viele. Die mieten sich üblicherweise gemeinsam wo ein. Ich hatte beispielsweise Nachbarn, die zu sechst eine 40-Quadratmeter-Wohnung gemietet haben. Anders hätten sie sich die Miete nicht leisten können.
Aber die Steuern, die man für die eigene Wohnung bezahlt, für Energie, Heizung, Licht, Müllabfuhr, betragen etwa 100 Euro monatlich. Das können sich die Leute leisten. Eine Menge Leute in Moskau leben auf Kredit. Das ist ein großes Problem. Wenn die Leute was kaufen müssen, länger haltbare Güter, dann müssen sie sparen oder einen Kredit aufnehmen. Dafür reicht das Geld nicht.
Aber am schlimmsten haben es migrantische ArbeiterInnen aus anderen Ländern, vor allem Leute aus Zentralasien, die arbeiten meist am Bau. Die leben in Wohnungen, die ihnen die Arbeitgeber zur Verfügung stellen. PutzarbeiterInnen leben irgendwo, oft in den Büros ihrer Arbeitgeber oder in einem Winkel, den sie ihnen zur Verfügung stellen.
Extreme Armut ist in Moskau nicht weitverbreitet, und vor allem ist sie versteckt. Offen existiert sie außerhalb der Stadt. Am Land kämpfen die Leute wirklich mit dem Überleben.
Frage: Wie wichtig ist die Frage des Internationalismus für russische TrotzkistInnen? Und gibt es da Widersprüche zwischen TrotzkistInnen und StalinistInnen, die ja viel mehr national orientiert sind?
Antwort: Die meisten trotzkistischen Gruppen, die ich in Russland kenne, sind Teil irgendeiner Internationale. Offiziell sind sie daher sehr interessiert an der internationalen Bewegung. Aber in der Realität besteht die Hauptarbeit dieser Gruppen in der eigenen Reproduktion. Wenn es hoch kommt, dann arbeiten sie noch in der Gewerkschaftsbewegung oder in lokalen sozialen Bewegungen, also tatsächlich sind internationale Fragen nicht im Mittelpunkt. Zu den StalinistInnen: manchmal schaffen wir es, offene Diskussionen zu organisieren. Das ist gut für‘s Training.
Anmerkungen
1Die Veranstaltung am 4. April 2008 wurde von der SOAL (Sozialistische Alternative) organisiert, der Vortrag in Englisch gehalten. Übersetzung und Bearbeitung: Info-Verteiler.
2Aus dem Reader zur o.a. Veranstaltung „Kapitalismus im Aufbruch – Gesellschaft im Umbruch – Soziale Kämpfe in Russland“ der SOAL
3Boris Jelzin, 1931 – 2007. Am 25.12.1991 tritt Michail Gorbatschow von seinem Amt als sowjetischer Staatspräsident zurück. Er übergibt dem Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland, Jelzin, das Kommando über die strategischen Atomwaffen. Russland wird zum Rechtsnachfolger der UdSSR und Jelzin bleibt sein Präsident. In der Folge baut er rasch seine Machtbefugnisse aus (1993: Verfassungsänderung). Am 31.12.1999 übergibt er, nachdem die Duma (das russische Parlament) ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet hat, seine Amtsgeschäfte seinem Wunschnachfolger Wladimir Putin, und erhält im Gegenzug die Immunität vor Strafverfolgung auf Lebenszeit zugesichert.
4„Einiges Russland“ erhielt 64% der Stimmen (315 Mandate in der Duma), die KP der Russischen Föderation 12% (57 Sitze), die Liberal-Demokratische Partei 8% (40 Sitze) und „Gerechtes Russland“ 7,5% (38 Sitze). „Einiges Russland“ wurde 2001 als Zusammenschluss verschiedener Fraktionen der in den 90er Jahren regierenden Partei „Unser Haus Russland“ gegründet und gilt seit 2003 als reine Präsidentenpartei zur Unterstützung des Kurses Wladimir Putin gesehen. Sie hat kein echtes Programm („für das Wohl des Volkes“), hat aber seit den Duma-Wahlen 2003 ihre Stimmenanzahl nahezu verdoppeln können und regiert nun mit 2/3-Mehrheit.
5Die LDPR wurde 1991 gegründet, ihr Gründer und Vorsitzender ist Wladimir Schirinowsky. Die Partei ist nationalistisch-populistisch und verliert seit den Duma-Wahlen 1993 (23%) ständig an Stärke.
6„Gerechtes Russland“ wurde am 28. Oktober 2006 gegründet. Die Partei stellt eine Vereinigung der drei als kremlnah geltenden Parteien Rodina, Russische Rentnerpartei und Russische Partei des Lebens dar. Sie wird als eine vom Umfeld Wladimir Putins geplante Stärkung des putintreuen Lagers auf der Linken angesehen und als Gegenstück zur offiziell konservativen Putinpartei „Einiges Russland“. Ihr Ziel ist nach dieser Auffassung der Stimmenfang zu Ungunsten von kremlkritischen linken und populistischen Parteien, wie den Kommunisten oder Nationalbolschewisten.
7Die Wahlen fanden am 2.3.2008 statt. Präsident Putin konnte nach der russischen Verfassung nicht mehr kandidieren und unterstützte daher den stellvertretenden Ministerpräsident Dmitri Medwedew, der 70% der Stimmen erhielt (Sjuganow/KP: 18%, Schirinowsky 10%, Bogdanow 1%). Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 70%.
8Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 erhielt Sjuganow im 1. Wahlgang 30%, im zweiten 40% der Stimmen.
9Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung heuer um 7% – 8% höher als 2004.
10Nahezu alle ehemaligen RGW-Länder haben inzwischen die sogenannte „flat tax“, d.h. eine einheitliche Besteuerung aller Einkommen (egal, ob Lohnarbeit oder Profit) eingeführt und unterbieten einander gegenseitig: Georgien 20%, Slowakei 19%, Rumänien 16%, Russland 13%.
11Laut Forbes gab es 2007 in Russland 53 Milliardäre mit einem Vermögen von zusammen mit als 280 Milliarden Dollar (USA: 415 Milliardäre, Deutschland: 55 Milliardäre mit insgesamt 245 Milliarden Dollar Vermögen)
12AKM, „Avantgarde der Roten Jugend“, ihr Chef ist Sergej Udalzow